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Opfer der eigenen Gewaltstrategie

Von Michael Schmölzer

Politik

Der IS setzt die in Afghanistan herrschenden Taliban mit "komplexen" Terrorangriffen unter Druck.


Die Taliban, die im Sommer als strahlende Sieger über den Westen die Kontrolle in Afghanistan übernommen haben, werden schrittweise Opfer ihrer eigenen Gewaltstrategie. Die bärtigen Islamisten geraten immer öfter ins Visier des IS Khorasan (IS-K), wie der lokale Ableger des "Islamischen Staats" am Hindukusch heißt.

Der IS und die Taliban bekämpfen einander seit Jahren bis aufs Blut, doch jetzt sehen sich die neuen Herren Afghanistans mit einer regelrechten Offensive konfrontiert: Haben die Taliban einst die afghanische Regierung und ihre westlichen Verbündeten mit Terroranschlägen aus dem Hinterhalt traktiert, sind sie jetzt selbst die Leidtragenden.

Erst am Sonntag sind bei Angriffen in Jalalabad mindestens drei Taliban-Kämpfer erschossen worden, drei weitere wurden bei Sprengstoffanschlägen verletzt. Andere, unbestätigte Berichte sprechen von mindestens 8 Toten und 17 Verletzten. Niemand zweifelt, dass der IS hinter dem Angriff steckt. Der IS war es auch, der zuletzt ein Kabuler Militärspital angegriffen hat, wo nicht nur verletzte Taliban, sondern auch Regierungssoldaten behandelt wurden. 25 Menschen kamen ums Leben, mehr als 50 wurden verletzt. Unter anderem fiel der ranghohe Taliban-Kommandeur Hamdullah Mochlis im Kugelhagel. Mochlis war gleich nach den ersten Meldungen über einen Angriff zum Krankenhaus geeilt. Er war Mitglied des berüchtigten Hakkani-Netzwerks und Anführer der hochgerüsteten Taliban-Spezialeinheit Badri 313 in Kabul.

Mehrstufiger Angriff

Laut Augenzeugen wurde die Attacke von einem Selbstmordattentäter eingeleitet. Dieser war auf einem Motorrad unterwegs und sprengte sich am Eingang des Krankenhauses in die Luft. Kurz danach soll eine weitere Bombe explodiert sein. Dann stürmten bewaffnete Angreifer das Spital und feuerten wild um sich.

Diese Form des Terrors mit mehreren Bomben und zeitversetzten Anschlägen auf ein Ziel werden "komplexe Attacken" genannt - und gelten eigentlich als bevorzugte Vorgangsweise der Taliban. Diese haben die einst im Land befindlichen internationalen Streitkräfte - später dann ausschließlich Soldaten der afghanischen Armee - in mehreren Stufen angegriffen. Nach den Attentaten erfolgte am gleichen Ort ein zweiter Angriff mit dem Ziel, die Helfer und Schaulustigen zu töten. Die Opferzahlen waren enorm.

Doch woher rührt die Feindschaft zwischen Taliban und ihren islamistischen Widersachern? Der IS-K betrachtet die Taliban als afghanische Nationalisten und als unislamisch, weil sie mit den USA verhandeln. Der IS aber stellt überall den Führungsanspruch. Die Taliban werden hier als Feind betrachtet, der vernichtet werden muss.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Es gibt durchaus Berührungspunkte zwischen IS und Taliban. So kooperierte der IS-K mit dem erwähnten Hakkani-Netzwerk. Dieses gilt als Teil der Taliban und ist stark mit internationalen Terroristen vernetzt.

Die Taliban versichern gegenüber dem Westen, dass man den IS im Griff habe. In Kabul besteht die Befürchtung einer erneuten Intervention ausländischer Streitkräfte, sollte der IS großräumig Fuß fassen und von einer Basis in Afghanistan aus international zur Bedrohung werden.

So weit ist es laut westlichen Experten noch nicht. Hier ist man sich einig, dass die Gruppe zu klein ist, um die Macht am Hindukusch zu übernehmen. Aber es besteht die Gefahr, dass der IS-K zunehmend Chaos stiftet und somit das gleiche Ziel hat, das Dschihadisten auch in Ländern wie Libyen verfolgen: Dort herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, Chaos und Anarchie. Dort gelingt es keiner Miliz und keiner Organisation, tatsächlich die Kontrolle zu übernehmen. Der IS konnte sich stets in Ländern ausbreiten, wo es keine zentrale Ordnungsmacht gibt.

Der IS-K ist derzeit in Nangarhar, im Osten Afghanistans, am stärksten. Hier eroberte er vor einigen Jahren Gebiete, die jetzt aber wieder unter Kontrolle der Taliban sein sollen. Allerdings gibt es starke Hinweise darauf, dass enttäuschte Taliban zum IS übergelaufen sind - und zwar gerade die radikalsten unter ihnen, die den Dschihad verraten sahen, als die Taliban 2020 einen Vertrag mit den USA schlossen. Hinter den Kulissen tobt unter den Taliban ein Machtkampf, wobei die gemäßigten Kräfte Zurückhaltung predigen und am internationalen diplomatischen Parkett eine gute Figur machen wollen, während die Fundamentalisten keine Zugeständnisse machen.

Der IS hat in der Phase der hektischen Evakuierungen im August dieses Jahres den Flughafen Kabul angegriffen und dabei Zivilisten, Taliban und US-Soldaten getötet. Die Taliban und die USA fanden sich in der ungewohnten Situation wieder, miteinander kooperieren zu müssen. Jetzt hüten sich die Taliban davor, die Hilfe Washingtons weiter in Anspruch zu nehmen. Die Angst, dass eine derartige Vorgangsweise weitere Taliban in die Arme des IS treiben könnte, ist vorhanden - und sie ist real.

Taliban setzen Helikopter ein

Die Frage ist, wie die Taliban das Problem in den Griff bekommen wollen. Aus eigener Erfahrung wissen sie, dass gegen komplexe Terrorangriffe so gut wie kein Kraut gewachsen ist, Gegenmaßnahmen schwierig zu ergreifen sind. Immerhin sind sie es jetzt, die über ausgefeilte Waffensysteme verfügen. So sind ihnen vom Westen gelieferte Militärhubschrauber der afghanischen Armee in die Hände gefallen - und die Taliban sind in der Lage, diese Geräte auch zu fliegen, obwohl das angezweifelt worden war. Beim IS-Angriff auf das Spital in Kabul setzten die Taliban jedenfalls Militärhubschrauber ein.

Die Frage ist jetzt, ob Länder wie Russland, Pakistan und China tatsächlich so weit gehen und die Taliban in ihrem Kampf gegen den IS-K unterstützen. Alle diese Länder kämpfen mit internen Konflikten und haben Angst, dass die Gewalt auf ihr Territorium übergreifen könnte. Sie wollen erreichen, dass sich die Lage in Afghanistan so rasch wie möglich stabilisiert.