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"Schließe Annexion wie bei der Krim aus"

Von Gerhard Lechner

Politik

Osteuropa-Experte Alexander Dubowy über die Unruhen in Kasachstan, Moskaus Rolle dort und die Unterschiede zur Ukraine-Politik des Kremls.


"Wiener Zeitung": Kasachstan galt seit der Erlangung seiner Unabhängigkeit als straff autoritär geführtes, aber stabiles Land inmitten einer unsicheren Umgebung. Nun hat sich das plötzlich geändert, von der viel gepriesenen Stabilität ist nur mehr wenig übrig...

Alexander Dubowy: Zumindest nach außen hin hat Kasachstan tatsächlich den Eindruck von Stabilität erweckt. Landesweite Proteste hat es bisher nie gegeben, und auch keine Revolutionen wie in Kirgisistan oder einen Bürgerkrieg wie in Tadschikistan. Ein Grund dafür ist, dass das Land sehr groß ist. Kasachstan ist das größte Land Zentralasiens, der neuntgrößte Staat der Welt. Die regionalen Unterschiede sind doch stark ausgeprägt. Wenn im Westen des Landes gestreikt wurde, hat sich der Süden und Osten damit bisher nicht identifizieren können.

Was ist der Unterschied zwischen dem Westen und dem Süden, dem Gebiet um die frühere Hauptstadt Almaty, die ja immer noch das Zentrum des Landes bildet?

Der Westen ist vergleichsweise wenig entwickelt. Und es war auch der Westen, wo 2010 die bisher größten Proteste stattgefunden haben - im Jahr 2010, in der Ölarbeiterstadt Schangaösen. Auch diesmal sind übrigens die Proteste in dieser Stadt losgegangen. Der Auslöser war die Verdoppelung der Preise für Autogas, der Grund liegt aber natürlich tiefer: Über viele Jahre hat sich die soziale Lage der Bevölkerung verschlechtert. Die Unzufriedenheit mit dem korrupten politischen System und dessen Vetternwirtschaft ist groß, der Personenkult um Ex-Staatschef Nursultan Nasarbajew und die Corona-Pandemie wirkten als weitere Brandbeschleuniger. Diese explosive Mischung ist jetzt hochgegangen.

Das Regime sprach reflexartig von Einmischung des Auslandes. Ist das vorstellbar oder waren die Gründe für den Aufstand interner Natur?

Die Proteste hatten rein interne Gründe. Es ging nicht um Geopolitik, ganz so wie in Belarus, wo es, im Gegensatz zur Ukraine, auch nicht um die Frage ging, ob sich das Land außenpolitisch dem Westen oder Russland zuwenden soll. Schon aus geographischen Gründen ist es extrem unwahrscheinlich, dass Kasachstan eine prowestliche Ausrichtung nimmt. Das Land hat bisher eine Brückenfunktion zwischen Russland, China und dem Westen inne. Es hat sich auch aus allen Konflikten herausgehalten, die bisher zwischen Moskau und Washington entbrannt sind. Im Gegensatz zu Belarus oder der Republik Moldau hat man auch nicht versucht, die Widersprüche zwischen dem Westen und Russland für eigene Zwecke zu instrumentalisieren.

Wird sich das jetzt ändern? Schließlich hat auf Wunsch von Präsident Kassym-Schomart Tokajew mit der OVKS ein russisch geführtes Sicherheitsbündnis, in dem Kasachstan Mitglied ist, eingegriffen. Hat Russland dadurch seine Rolle gestärkt? Gerät das bisherige Gleichgewicht jetzt aus der Balance?

Das ist wahrscheinlich. Die russische Führung wird wohl versuchen, das Maximum aus dieser aktuellen Situation herauszuholen. Russlands Unterstützung wird für Tokajew einen Preis haben. Für Russland ist ein stabiles und Moskau wohlgesinntes Kasachstan sehr wichtig. Die Grenze zu dem Land ist 7.600 Kilometer lang. Das ist die zweitlängste Landesgrenze der Welt. Die ist kaum kontrollierbar, und aus einem instabilen Kasachstan könnten islamistische Extremisten einsickern, die auch Russlands islamische Gebiete destabilisieren könnten. Außerdem ist Kasachstan ein wichtiger Partner im Rahmen der OVKS und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Ein Moskau wohlgesinntes Kasachstan ist für den Kreml also sehr wichtig – als Minimalziel. Der Kreml möchte außerdem auch China, dessen Einfluss in der Region groß ist, signalisieren, dass man in Zentralasien nach wie vor präsent ist.

Und was wäre das Maximalziel Moskaus?

Man könnte die kasachische Führung dazu drängen, im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion den politischen Integrationsschritten zuzustimmen. Dagegen hat sich Kasachstan bisher verwehrt. Mit der jetzigen Intervention hat Moskau aber den Fuß in der Tür.

Kasachstan wäre dann in einer Situation wie Weißrussland.

Genau. Obwohl ein solches Szenario immer noch wenig wahrscheinlich ist. Moskau wird aber jedenfalls versuchen, den eigenen Einfluss auszubauen und zu verfestigen.

Im Norden Kasachstans siedeln viele Russen. Das war einer der Gründe, warum Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew die Hauptstadt nach Norden verlegen ließ – um einer möglichen russischen Annexion dieser Gebiete einen Riegel vorzuschieben. Ist ein Szenario wie auf der Krim in Kasachstan vorstellbar? Könnte Russland Kasachstans Schwäche ausnutzen und diese Gebiete annektieren?

Im Moment schließe ich ein solches Szenario aus. Nachdem Tokajew selbst die OVKS-Truppen ins Land gerufen hat – etwa 2.500 Mann, die die kritische Infrastruktur sichern sollen – hat er Russland die Gründe genommen, militärisch zu intervenieren. Für eine Annexion gibt es einfach keinen Anlass. In der Ukraine hat 2014 die Maidan-Regierung anklingen lassen, den Pachtvertrag für die russische Schwarzmeerflotte zu kündigen. Russland sah seine strategischen Interessen bedroht. Das ist in Kasachstan nicht der Fall. Außerdem ist der Norden Kasachstans für Russland nur mäßig attraktiv. Der für Moskau wichtige Weltraumhafen Baikonur befindet sich im Südwesten des Landes, und Moskau braucht Ruhe in Zentralasien. Für Russland als einer pragmatischen, machmal zynischen Großmacht ist eines wichtig: Dass die eigenen Sicherheitsinteressen berücksichtigt bleiben. Solange das der Fall ist, wird man mit jeder Führung zusammenarbeiten. Wichtig ist nur, dass es sich um ein stabiles, berechenbares Regime handelt.

Die Demonstranten haben sich vor allem gegen Langzeit-Präsident Nasarbajew gestellt. Der ist dann auch von seinem wichtigen Posten des Chefs des Sicherheitsrates zurückgetreten. Es ist auch die Rede von einem Machtkampf zwischen Nasarbajew und seinem Nachfolger Tokajew, den letzterer gewonnen habe. Ist das so?

Zunächst muss einmal gesagt werden, dass das Gros der Forderungen der Demonstranten soziale Forderungen waren. Manchmal waren es auch lokalpolitische, das hat sich je nach Landesteil unterschieden. Die einzige gemeinsame innenpolitische Forderung der Protestierenden war tatsächlich die Absetzung Nursultan Nasarbajews. Der hatte als langjähriger Präsident Kasachstans das gesamte Land beherrscht und sich maßlos bereichert. Er hat auch nach seinem Rückzug als Präsident 2019 als Chef des Sicherheitsrates viel Einfluss ausgeübt. So hat er etwa die Geheimdienste kontrolliert. Tokajew war zwar anfangs Nasarbajews Mann, in letzter Zeit sind aber immer wieder Gerüchte über Machtkämpfe zwischen seinen Anhängern und Nasarbajews Vertrauensleuten aufgekommen. Nun musste sich nicht nur Nasarbajew zurückziehen, sondern auch der Premierminister, sein langjähriger Vertrauter, der durch einen Parteigänger Tokajews ersetzt wurde. Außerdem wurde Karim Massimow, der Chef des Inlandsgeheimdienstes, ebenfalls ein Nasarbajew-Vertrauter, nicht nur abgesetzt, sondern sogar verhaftet. Die Anrufung der OVKS durch Tokajew ist also wohl ein Versuch, mit russischer Hilfe seine eigene Position massiv zu stärken. Er kann seinen Anhängern und Gegnern signalisieren: seht her, ich habe unseren wichtigsten Verbündeten auf meiner Seite.

Neben friedlichen sozialen Protesten gab es in Kasachstan in den letzten Tagen auch Berichte von gut organisierten, militanten Gruppen, die gewalttätig geworden sind. Sind diese Berichte glaubhaft?

In der Tat können die kasachischen Proteste nicht mit friedlichen Demonstrationen wie in Belarus gleichgesetzt werden. Weil es eben von Anfang an diese organisierten, gewalttätigen Gruppen gab, von denen man nicht weiß, woher sie kamen und wer sie organisiert hat. Und die auch geschossen haben. Man kann davon ausgehen, dass im Hintergrund dieser landesweiten, spontanen, führungslosen sozialen Proteste ein interner Machtkampf zwischen dem Nasarbajew-Clan und den Anhängern von Tokajew ausgetragen wurde. Und zwar auch gewaltsam auf der Straße. Viele Menschen trauten sich nicht mehr, auf die Straße zu gehen, um friedlich zu protestieren, weil sie Angst hatten - nicht nur vor den Sicherheitskräften, sondern eben auch vor diesen militanten Gruppen.