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Die Kolonialschuld seiner Majestät

Von Martyna Czarnowska

Politik
Dokumentierte Grausamkeit: Konnten die Menschen nicht genug Kautschuk ernten, wurden ihnen zur Strafe Hände abgehackt (Foto von 1907).
© ullstein bild

Die Gräueltaten der belgischen Herrschaft sind Thema beim Besuch König Philippes im Kongo.


Das Ehepaar Harris hatte gerade das Frühstück beendet. Da kam ein Mann auf die Veranda ihres Lehmhauses gelaufen und legte etwas auf den Boden. Es waren eine Hand und ein Fuß seiner Tochter, die nicht älter als fünf Jahre war.

Das Foto des zusammengekauerten Vaters, der auf die abgehackten Gliedmaßen seines Kindes starrt, stammt von Alice Seeley Harris. Diese war mit ihrem Mann, dem Baptisten-Missionar John Harris, Anfang des 20. Jahrhunderts im Kongo. Von ihrem Aufenthalt brachten die beiden Bilder und andere Zeugnisse für die Verbrechen der belgischen Kolonialherren mit: Peitschen, Handschellen, Folterinstrumente. Das Ehepaar startete einen Kampagne, um die Öffentlichkeit im Westen aufzurütteln, ebenso wie es zuvor ein ehemaliger Reederei-Angestellter in Liverpool getan hatte: Edmund Dene Morel. Er widmete sich der Aufdeckung der Gräueltaten, deren geschichtliche Aufarbeitung erst Jahrzehnte später erfolgte.

In seinem Buch "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914" nimmt der Historiker Philipp Blom, der auf Harris und Morel verweist, den Kongo als besonders grausames Beispiel für die Kolonialzeit. Von 1885 bis 1908 befand sich das Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Kongo in Zentralafrika im Privatbesitz von Leopold II., des Königs der Belgier. Dann wurde es an den belgischen Staat übergeben. Kurz zuvor wurden die Vorteile von Gummireifen entdeckt - und die weltweite Nachfrage nach Kautschuk stieg enorm. Leopold II. erkannte das Potenzial seiner Kolonie, die reich an Kautschukpflanzen war. Um so viel Rohstoff wie möglich zu gewinnen, wurden zehntausende Einwohner auf den Plantagen eingesetzt. Und da sie dabei nicht in Handschellen arbeiten konnten, wurden ihre Frauen und Kinder als Geiseln genommen. Widerstand wurde mit Strafexpeditionen geahndet, ganze Dörfer wurden verbrannt, Menschen wahllos ermordet.

Als Beweis für die erfolgreiche Durchführung diese Aktionen hatten die afrikanischen Söldner den belgischen Offizieren die abgehackten Hände der Opfer zu überbringen. Millionen Menschen wurden unter Leopold II. verstümmelt, ermordet oder starben auf den Plantagen. Der König wurde reich und ließ in Belgien Prunkbauten errichten.

Spätes Bedauern

Bis 1960 gehörte der Kongo zum belgischen Kolonialreich, und lange Zeit waren dessen Grausamkeiten kein Thema für die breite Öffentlichkeit. Stattdessen wurden die Belgier als "Bringer der Zivilisation" dargestellt. Eine Aufarbeitung der Geschichte ließ auf sich warten; einer ihrer Höhepunkte war der 60. Jahrestag der Erlangung der Unabhängigkeit des Kongo. Damals entschuldigte sich König Philippe, der nun einen mehrtägigen Besuch in der Demokratischen Republik Kongo begonnen hatte, für die "Gewalttaten und Grausamkeiten" seiner Vorfahren. In einem Brief an den kongolesischen Präsidenten Felix Tshisekedi drückte er sein "tiefstes Bedauern über die Wunden der Vergangenheit" aus. Der Schmerz durch die Verbrechen der Kolonialzeit "wird heute durch die Diskriminierung wiederbelebt, die in unseren Gesellschaften immer noch allzu präsent ist", schrieb der Monarch, dessen Ururgroßvater der Bruder Leopolds II. war.

2020 war gleichzeitig das Jahr der weltweiten Antirassismus-Proteste nach dem gewaltsamen Tod des US-Amerikaners George Floyd. Auch diese befeuerten die Debatte um die Vergangenheit Belgiens und die Dekolonisierung. Demonstranten beschädigten wiederholt Statuen Leopolds II. Einige Gemeinden und Universitäten haben die Denkmäler bereits entfernt.

Nun reiste König Philippe erstmals - und nach zweimaliger Verschiebung, unter anderem wegen der Corona-Pandemie - in die Demokratische Republik Kongo, gemeinsam mit seiner Frau Königin Mathilde, dem belgischen Premier Alexander de Croo und weiteren Kabinettsmitgliedern. Am Dienstag traf die Delegation Präsident Tshisekedi in Kinshasa. Zuletzt hatte Philippes Vater Albert II. im Jahr 2010 die ehemalige Kolonie besucht.

Bei den aktuellen Gesprächen spielt die Vergangenheit ebenfalls eine Rolle. So will die belgische Regierung der Demokratischen Republik Kongo Tausende von kulturellen Objekten zurückgeben, die während der Kolonialzeit aus dem Land geschafft wurden. Dafür wurde eine Dauer von mehreren Jahren veranschlagt.