Zum Hauptinhalt springen

Leben - kämpfen - siegen

Von Ernst Trummer

Politik
Ernst Trummer ist akademisch ausgebildeter Übersetzer und hat seit mehr als 25 Jahren beruflich mit Russland zu tun.
© privat

Wie russische Rekruten auf den Ukraine-Krieg vorbereitet werden.


Der "Vestnik Vojennowo Obrasovanija" (zu Deutsch etwa "Der Militärausbildungsbote") ist eine offizielle Publikationsreihe des russischen Verteidigungsministeriums. Als praktische Handreichung für den Überlebenskampf an der Front soll die Broschüre "Ich lebe, ich kämpfe, ich siege" russische Rekruten auf ihren Einsatz in der Ukraine vorbereiten.

Das Autorenkollektiv weiß, wovon es spricht: Seine "Regeln vom Leben im Krieg", so der Untertitel des schmalen, rund 60-seitigen Bandes, basieren auf den Empfehlungen von Veteranen der Kriege in Afghanistan, im Nordkaukasus und in der Ukraine. Der Text macht gleich zu Beginn klar, worum es in der Ukraine geht: Ja, es handle sich aus völkerrechtlicher Perspektive tatsächlich nur um eine "militärische Spezialoperation", aber für jene, die an ihr teilnehmen, sei es "ein echter Krieg", mit allem, was dazugehöre.

Der ideologische Hintergrund der "Spezialoperation" wird auch gleich abgesteckt: Man müsse nur sehen, welche Länder "Sanktionen gegen uns verhängt haben und dem ukrainischen Regime helfen - Deutschland, Polen, Tschechien, Kroatien, Norwegen, Dänemark, Japan, Italien . . . Sie alle haben schon einmal gegen uns gekämpft". Und weiter: "Heute wollen sie sich in der Ukraine an Russland rächen für unseren Großen Sieg. Für uns ist das also die Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges. Und wir sind, wie unsere Großväter 1945, dazu verpflichtet zu siegen."

Dann wird erklärt, wieso dieser Kampf ausgerechnet in der Ukraine stattfindet: "Die Ukraine als Staat gibt es nicht, es gibt nur das Gebiet der ehemaligen USSR [Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik], die vorübergehend von einer Terrorbande besetzt wurde. Die gesamte Macht ist dort in den Händen von Bürgern Israels, der USA und Großbritanniens konzentriert, die einen Genozid an der einheimischen Bevölkerung begangen haben, und diese in der Zeit der ‚Unabhängigkeit‘ um 20 Millionen Menschen ‚geschrumpft‘ haben. Um zu überleben, müssen die Menschen dort, wie einst die Neger in den USA, auf den europäischen Plantagen arbeiten. Die Freudenhäuser in Europa sind voll mit jungen Ukrainerinnen. Die Männer müssen gegen Russland kämpfen."

"Wir verteidigen Russland in der Ukraine"

Einmal kräftig durchatmen, und weiter geht’s: "Diesen Krieg wollen die USA und Europa bis zum letzten Ukrainer weiterführen. Die Menschen sind ihnen egal. Sie brauchen das Land und seine Ressourcen. Und dasselbe haben sie mit uns vor. Deshalb verteidigen wir Russland, wenn wir in der Ukraine kämpfen, und wir retten die Bewohner der Ukraine vor dem Genozid, den die ukrainischen und europäischen Politiker entfesselt haben."

Überhaupt - wer sind diese Ukrainer eigentlich? "Noch bis vor kurzem waren 96,7 Prozent der Ukrainer Russen. Aber 30 Jahre ihrer sogenannten Unabhängigkeit haben sie jeglicher normaler Bildung, Kultur und Muttersprache beraubt und sie zu ‚verwilderten‘ Russenhassern gemacht." Nach erfolgreicher "Entnazifizierung", die Präsident Wladimir Putin unter anderem als Kriegsziel ausgegeben hat, wären sie wieder normale Russen. "Aber jetzt sind sie Feinde. Grausame und heimtückische Feinde."

Nach dieser ideologisch-propagandistischen Grundimprägnierung folgen im Mittelteil der Fibel allerlei praktische Tipps und Empfehlungen für den täglichen Überlebenskampf: vom obligatorischen Tragen eines Helms samt Splitterschutzweste bis zum Verzicht auf Smartphones im Kampfgebiet; vom richtigen Verhalten unter Feindbeschuss bis zu Anleitungen zur Desinfektion der Uniform nach Schädlingsbefall; von der richtigen Pflege der Ausrüstung bis zur Checkliste fürs Rucksackpacken: allerlei Weisheiten nach dem großen Pfadfinder-Einmaleins.

Nicht nur an der Front, auch bei Kontakt mit Zivilisten sei äußerste Vorsicht geboten, noch dazu, wenn sie sich an Protest- oder Sabotageaktionen beteiligen würden. Meist seien diese von den Kommandostellen der ukrainischen Streitkräfte oder des Geheimdienstes gesteuert, und damit seien sie gemäß Genfer Konvention als Kombattanten anzusehen. Somit könne man sie festhalten und wie Kriegsgefangene behandeln, oder, wenn sie eine Gefahr für Leib und Leben darstellen, sogar das Feuer auf sie eröffnen und sie unschädlich machen.

Zivilisten, die Foto- oder Videoaufnahmen von russischen Positionen machten, seien als potenzielle Spione zu behandeln, "mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben . . ." Aber: "Auf Unbewaffnete zu schießen, ist nicht unsere Art." Besser, man halte sie fest und übergebe sie wie Kriegsgefangene an die zuständigen Organe. "Wichtig ist, schnell zu handeln, entschlossen und mit der unserem Volk wesenseigenen Aufmerksamkeit."

Russische Kriegsgefangene in einer "Hölle auf Erden"

Auch das heikle Thema Kriegsgefangenschaft wird angesprochen. Es gebe viele Gründe, in Gefangenschaft zu geraten, nicht selten sei sie ungeschicktem oder fahrlässigem Verhalten geschuldet. Was aber gar nicht gehe: sich freiwillig zu ergeben. Denn: "Die ukrainischen Kämpfer bereiten unseren Kriegsgefangenen die Hölle auf Erden." Hinter den bestialischen Grausamkeiten steckten ein ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl und die ewige Angst vor den Russen, wobei die Ukrainer da nicht weiter differenzierten: Tschetschenen, Tataren, Burjaten, Abchasen, Udmurten - für die Ukrainer seien sie ausnahmslos Russen.

Die Aufzählung erfolgt nicht zufällig, stellen doch gerade Vertreter dieser kleinen Volksgruppen überproportional viele Kombattanten in den Reihen der russischen Armee. Niemand solle glauben, die Ukrainer würden ihn besser behandeln, nur weil er kein echter Russe sei: "Einen wehrlosen Gefangenen zu erniedrigen, zu misshandeln, zu kastrieren und zu töten, ist für unsere Feinde eine Art Selbstbestätigungsakt. Für uns aber verbieten sich solche Abscheulichkeiten. Wir quälen keine Gefangenen. Ergibt sich der Feind, verschonen wir sein Leben - das ist gottgefällig und juristisch korrekt."

Apropos gottgefällig: Der Beistand von oben spielt für die Autoren der Fibel eine ganz besondere Rolle, das Thema beschließt dann auch ihre Ausführungen. "Die Erfahrung des Krieges ist eine Art Fegefeuer, indem wir dieses durchschreiten, reinigen wir die Seele und eignen uns den Glauben an." Neben der höchsten geistigen Autorität wird abschließend auch noch die höchste weltliche Autorität im heutigen Russland bemüht.

Und mit einer nochmaligen Referenz an den Zweiten Weltkrieg schließt sich der Kreis: "Dass Russland und wir, seine Soldaten, heute auf der Seite des Guten kämpfen, davon zeugt der Umstand, dass tausende Russen aller Nationalitäten und verschiedenster Glaubensrichtungen ohne Zwang, nur dem Ruf des Gewissens folgend, die soldatischen Reihen füllen, um gegen das Böse zu kämpfen. So war es bisher nur einmal in der Geschichte, im Großen Vaterländischen Krieg, als unsere Großväter gegen den rasenden Faschismus kämpften. Heute stehen wir, Rechtgläubige und Moslems, Buddhisten und Anhänger von Schamanen, in Reih’ und Glied und fechten gegen den ukrainischen Nationalismus und den hinter ihm stehenden weltweiten Satanismus. Und vielleicht war es kein Scherz, als unser Präsident meinte, dass ‚wir als Märtyrer ins Paradies kommen, während sie einfach verrecken werden‘. Wahrscheinlich wusste Putin schon von etwas, worüber zu sprechen noch nicht die Zeit gekommen ist."

Die ungekürzte Fassung dieses Textes ist in Ernst Trummers "OSTblog" auf https://metatext.at erschienen.