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Verzweifelter Ruf nach einem Wechsel

Von Martyna Czarnowska aus Istanbul und Ankara

Politik

Seit 20 Jahren dominiert Recep Tayyip Erdogan die türkische Politik. Für seine Anhänger gilt er nach wie vor als Lichtgestalt, doch in der polarisierten Gesellschaft der Türkei hoffen viele, dass die Wahl eine Ablöse an der Staatsspitze bringt.


An der Anlegestelle in Kadiköy stehen sie einträchtig nebeneinander. Die Arbeiterpartei hat ihr Wahlkampfzelt neben dem Bus der größten oppositionellen Fraktion, der Republikanischen Volkspartei (CHP), aufgeschlagen. Ein Stück weiter ist die rechtsnationalistische MHP vertreten. Doch den meisten Zulauf verzeichnet an dem Tag die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). An ihrem Stand wird Tee ausgeschenkt; Fähnchen und Stofftaschen werden verteilt. Die Menschen, die zu einer der Fähren hasten, die sie von diesem Stadtteil Istanbuls über den Bosporus in den europäischen Teil der Megametropole bringen, müssen sich daran vorbeidrängen.

In einer Woche sind knapp 61 Millionen Türken zu den Urnen gerufen, um über ihren Präsidenten und ihr Parlament abzustimmen. In den Stadtzentren des Landes ist der Wahlkampf unübersehbar und -hörbar. Über den Straßen flattern auf Schnüren aufgehängte Fähnchen der größten Gruppierungen, Unterstützer verteilen Flugblätter, Slogans und Lieder schallen aus den Megafonen, die an den vorbeifahrenden Kleinbussen montiert sind, auf deren Seiten das Foto des jeweiligen Spitzenkandidaten angebracht ist.

Einem von diesen wird die Chance eingeräumt, Präsident Recep Tayyip Erdogan im Amt abzulösen, den Mann, der seit gut 20 Jahren die türkische Politik dominiert, zuerst als Regierungs-, dann als Staatschef. Der Herausforderer ist CHP-Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu, der ein Wahlbündnis aus sechs Parteien geschmiedet hat. "Er wird gewinnen", sagt ein 50-jähriger Geschäftsmann, der vor einigen Jahren aus dem Osten des Landes nach Istanbul gezogen ist. "Es muss sich etwas ändern." Ein Journalist im ähnlichen Alter, der wegen der Gleichschaltung der meisten Medien und der Repressalien gegen unabhängige Verlage nicht mehr als Journalist in der Türkei arbeiten möchte, erklärt hingegen resigniert: "Es wird sich nichts ändern."

"Seytan" und Lichtgestalt

Die türkische Gesellschaft ist polarisiert, und das hat nicht zuletzt mit der Politik zu tun, die sich auf so genannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker propagierten "stolzes Türkentum", islamischen Wertvorstellungen wurde mehr und mehr Gewicht verliehen, Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpften um ihr Dasein.

Auch Erdogan selbst lässt die Emotionen hochgehen. Für manche seiner Gegner ist er ein "Seytan", ein Teufel. Viele seiner Anhänger vergöttern ihn dagegen. Der junge Mann, der in Kizilay, im Zentrum der Hauptstadt Ankara, an einem Stand für die AKP wirbt, schwärmt von seinem Staatschef. Erdogan sei ein "Weltanführer, ein Anführer der islamischen Familie", konstatiert er. "Wo gibt es sonst noch so einen?" Die Frage nach einem Wechsel nach 20 Jahren lässt er nicht gelten: "Er soll noch 20 Jahre weitermachen!"

In einer Bar ein paar hundert Meter entfernt sitzen Ekin und Emre. Sie sind ungefähr so alt, wie lange Erdogan an der Macht ist. "Er schränkt unsere Freiheit ein, er regiert wie ein Diktator", sagt Emre. "Wenn die AKP gewinnt, dann wird in der Türkei die Scharia eingeführt", meint der Student. "Dann werden noch mehr Menschen das Land verlassen - und viele wollen das ohnehin", fügt Ekin hinzu.

Präsidialsystem in der Krise

Wie gespalten das Land ist, weiß auch Zeynep Alemdar. Die Politologin, die an der Okan Universität in Istanbul lehrt, glaubt aber, dass viele Menschen eine Ablöse an der Staatsspitze wollen - und eine Rückkehr zum parlamentarischen System. Denn Erdogan hat in den vergangenen Jahren die Macht des Präsidenten stark ausgebaut, auf Kosten des Abgeordnetenhauses, und er hat sich das in einem Referendum absegnen lassen. Doch spätestens die Erdbeben Anfang Februar hätten gezeigt, dass dieses Präsidialsystem nicht effizient sei, stellt Alemdar fest. "Es vereint so viele Kompetenzen in einer Person, dass die Kommandokette dann nicht mehr funktioniert." Kurz nach der Naturkatastrophe mit mehr als 51.000 Toten wurde Kritik am Missmanagement der Behörden laut: Diese hätten zu langsam reagiert, die Hilfe sei nur zögerlich angelaufen. "Die Macht ist so zentralisiert, dass auf den unteren Ebenen niemand die Verantwortung übernehmen will", sagt Alemdar.

Spitzenkandidat Kilicdaroglu verspricht, mit diesem System brechen zu wollen. Seine Bündnispartner äußern ähnliches. Kilicdaroglus Allianz wird sich mit der Gruppierung rund um die AKP bei den Parlamentswahlen wohl ein Rennen liefern, das ebenso knapp ausgehen könnte wie das Duell um die Staatsspitze. Denn die Regierungspartei ist schon jetzt auf eine Koalition mit der MHP angewiesen, und zur Wahl tritt sie ebenfalls in einem Bündnis an, in dem sich konservative, nationalistische und islamistische Parteien gefunden haben. Eine weitere Kraft ist die von Kurden dominierte HDP, deren Vertreter allerdings unter dem Schirm der Grünen Linken kandidieren. Gegen die HDP läuft nämlich ein Parteiverbotsverfahren wegen mutmaßlicher Terrorunterstützung. Gemeint ist die Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Während in Städten wie Istanbul und Ankara die AKP nach der Kommunalwahl 2019 die Regierungsmacht an die CHP abgeben musste, war im Südosten der Türkei die HDP dominant. Diese verzichtete nun jedoch auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten für die Präsidentenwahl. Das könnte die Chancen Kilicdaroglus stärken. Dieser setzt nicht zuletzt auf ein Wirtschaftsprogramm. Er spricht zum Beispiel von gestiegenen Zwiebelpreisen und verspricht, die Inflation zu senken. Die liegt derzeit bei rund 50 Prozent.

Güven Sak hat dazu ernüchternde Zahlen parat. Der Programmdirektor der in Ankara ansässigen Denkfabrik TEPAV (Economic Policy Research Foundation of Turkey) verweist unter anderem auf den Armutsindex. Als die AKP 2002 die Parlamentswahl gewann, mussten mehr als ein Drittel der Türken mit 5,5 Dollar am Tag auskommen. Dieser Anteil wurde im Laufe der Jahre auf acht Prozent gesenkt. Doch nach 2018 stieg er wieder - und lag 2020 bei zwölf Prozent. Danach habe das Statistikamt keine Zahlen mehr veröffentlicht, erzählt Sak. Der Ökonom spricht von einer "Krise der Lebenskosten", die nun mehr durchschlägt als während der Wirtschaftskrise 2001, in deren Zuge die AKP an die Macht kam. Einer der Gründe dafür ist die galoppierende Inflation. "Das kann jede Regierung erschüttern", erklärt Sak.

Der Wohlstand bröckelt

Aus Saks Sicht haben Erdogan und die AKP derart viel an - auch internationaler - Glaubwürdigkeit verloren, dass es im Falle ihres Wahlsieges "etwas Dramatisches" bräuchte, um das Vertrauen wiederherzustellen. Der Opposition würde dies leichter fallen. Sie müsste aber wieder die Unabhängigkeit der Zentralbank garantieren und einen starken Finanzminister aufstellen. Denn Erdogans ehemalige Weggefährten, die die Reformen der frühen 2000er Jahre gestaltet haben, die zu einem beachtlichen Wirtschaftsboom führten, sind mittlerweile abgesprungen oder mussten gehen. Wichtige Posten werden nun vor allem mit loyalen Personen besetzt.

Die Verteilung des wachsenden Wohlstands, die es früher durchaus gegeben hat und die eine Mittelklasse erstarken ließ, gebe es ebenfalls nicht mehr, sagt Sak. "Mittlerweile haben auch jene Gruppen, die von der früheren Entwicklung profitiert haben, wieder an ihrem Wohlstand eingebüßt." Viele Menschen seien nun desillusioniert.

Ekin und Emre, die in der Bar in Kizilay sitzen, geben sich auch keinen Illusionen hin. Ekin hat ihre Ausbildung im Gesundheitswesen bereits beendet; sie ist auf Strahlentherapie spezialisiert. Doch sie findet keinen Job. Sie hat sogar schon überlegt, ob sie nach Deutschland gehen soll. Emre würde am liebsten im eigenen Land bleiben. Doch nur, wenn sich da etwas ändert.