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"Ihr kommt aus Syrien, vergesst das nicht!"

Von WZ-Korrespondent Markus Schauta

Politik

Mehr als 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge leben in der Türkei, ein Großteil von ihnen soll zurück in ihre Heimat.


Als im Sommer 2012 der Krieg die syrische Industriestadt Aleppo erreichte, studierte Walid im zweiten Jahr BWL. Gemeinsam mit seiner Familie floh er über die 60 Kilometer nördlich gelegene Grenze in die Türkei. Ein Jahr lang lebten sie im grenznahen Adiyaman. Als Walid sah, dass der Krieg in seiner Heimat immer weiter eskalierte und ein Ende nicht absehbar war, zog er nach Istanbul.

So wie Walid wurden seit dem Ausbruch des Konflikts 2011 Millionen weiterer Syrer zur Flucht gezwungen. Die meisten gingen in die Türkei, wo sich heute 3,5 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge aufhalten, davon mehr als eine halbe Million in Istanbul. Hinzu kommen rund 400.000 Menschen, die aus anderen Ländern, insbesondere aus Afghanistan, dem Irak und Iran geflohen sind. Durch die große Zahl an Flüchtlingen sieht sich das Land vor immer weiter wachsende soziale und ökonomische Herausforderungen gestellt. Vor allem die Flüchtlinge aus Syrien sind längst zu einem politischen Spielball von Regierung wie Opposition geworden.

Heute arbeitet Walid in einem Bekleidungsladen im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu. Im von grellem Neonlicht beleuchteten Shop verkauft der 31-Jährige Kleider aus dünnem Stoff. Sein Leben hat er sich anders vorgestellt, doch er braucht das Geld, um seine Familie zu ernähren.

Angst vor Abschiebung

"Anfangs glaubte ich, in der Türkei ein neues, gutes Leben beginnen zu können", erzählt Walid. Doch diese Hoffnung habe er verloren. Eine Arbeitserlaubnis hat er nicht. Dass er als Verkäufer arbeiten kann, verdankt er dem syrischen Besitzer des Ladens, der ihn illegal beschäftigt. Seine Aufenthaltsgenehmigung muss er alle paar Monate verlängern lassen: "Jedes Mal, wenn ich zum Amt gehe, befürchte ich, sie werden mich zurück nach Syrien schicken."

Mit der türkischen Bevölkerung habe er im Alltag keine Probleme. "Ich werde immer mit Respekt behandelt", so Walid, der während der Jahre in Istanbul Türkisch gelernt hat. Ob man die Sprache könne oder nicht, mache einen entscheidenden Unterschied aus. Seine Frau, die nur syrisch spricht, werde beim Einkaufen immer wieder angepöbelt und aufgefordert, sie solle doch zurück nach Syrien gehen.

Vom türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan, hält Walid wenig. Doch er weiß, dass viele Syrer mit diesem sympathisieren: "Meine Landsleute befürchten, dass, wenn Erdogan weg ist, die neue Regierung uns Syrer deportieren wird." Dabei geschehe das doch bereits jetzt unter der AKP-Regierung. Walid kennt mehrere Leute, die nach Nordsyrien ausgewiesen wurden. Aus Angst, dasselbe Schicksal zu erfahren, versucht er, den Kontakt mit Behörden zu meiden: "Es ist besser, nicht aufzufallen."

Ein Bericht von Human Rights Watch vom Herbst 2022 bestätigt Walids Angaben. Demnach haben türkische Behörden willkürlich Hunderte von syrischen Männern und Jungen verhaftet und nach Syrien abgeschoben. Wie die Betroffenen der Nichtregierungsorganisation berichteten, zwangen die Beamten sie zur Unterzeichnung von Formularen, aus denen hervorgeht, dass sie freiwillig zurückkehrten. Anschließend wurden sie zu den Grenzübergängen nach Nordsyrien gekarrt, wo man sie unter vorgehaltener Waffe zur Überquerung zwang.

Erfolg durch Spracherwerb

Aber so unsicher Walid sich in der Türkei fühlt, zurück nach Syrien zu gehen, ist für ihn auch keine Option. Er lebe jetzt seit zehn Jahren in der Türkei, sein altes Leben in Aleppo existiere nicht mehr. "Es gibt kein Zurück", sagt er.

"Die Sprache ist der Schlüssel zum Erfolg", meint Ahmed und zündet sich eine Zigarette an. Der 40-Jährige im Anzug mit stylisher Sonnenbrille kommt gerne in ein bestimmtes Pub in Fisekhane, einem der teuren Stadtviertel am Bosporusufer. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie aus Aleppo, der Vater Ingenieur, die Mutter Ärztin. 2012 verließ er mit seiner Familie Syrien. "Wir wurden bedroht, weil wir gegen Assad waren", erklärt Ahmed. In der Türkei mussten sie von vorne beginnen; alles, was sie sich in Syrien aufgebaut hatten, war mit einem Schlag weg.

Zunächst eröffneten er und sein Bruder Karim ein kleines Dönerlokal im Bezirk Fatih, waren damit aber nicht erfolgreich. "Ich sprach damals nur ein paar Brocken Türkisch", erinnert sich Ahmed. Das änderte sich rasch, als er sich für einen Sprachkurs einschrieb. "Mit dem Erlernen der türkischen Sprache kam der Erfolg", stellt er fest. Nachdem sie das Restaurant geschlossen hatten, gründeten die Brüder 2014 eine Beratungsfirma für ausländische Investoren, die ihr Geld gewinnbringend in der Türkei anlegen wollten. Heute beraten sie Klienten aus der ganzen Welt. 2019 erhielt Ahmed die türkische Staatsbürgerschaft. Er ist damit einer von mehr als 200.000 Syrern, die mit Stand April 2022 eingebürgert wurden.

Wie viele syrische Flüchtlinge wie lange im Land bleiben dürfen und wie leicht ihnen der Zugang zur türkischen Staatsbürgerschaft gemacht werden soll, ist Thema heftiger politischer Debatten. Wiederholt kündigte Präsident Erdogan an, eine Million Flüchtlinge zurück über die Grenze bringen zu wollen, um sie im Norden Syriens anzusiedeln. Im Vorfeld der Parlamentswahlen werfen Oppositionspolitiker Erdogan Untätigkeit vor und fordern ihrerseits, Syrer in das vom Krieg zerstörte Syrien zurückzuschicken. Kritiker werfen der regierenden AKP außerdem vor, Syrern einen zu leichten Zugang zur Staatsbürgerschaft zu gewähren, um sich deren Wählerstimmen zu sichern.

Kein Zurück unter Assad

Ahmed macht die Opposition für die aufgeheizte Stimmung gegen Syrer verantwortlich. Vor allem die rechtsextreme Zafer Partei tue sich bei der Hetze hervor: "Diese Ausländerfeindlichkeit verängstigt viele meiner Landsleute", erzählt er. Dabei brauche die Türkei dringend syrische Arbeitskräfte: "Die Arbeiten, die sie verrichten, wollen Türken selbst nicht angreifen", sagt Ahmed. Für ihn ist klar, dass er bei den Wahlen am 14. Mai Erdogan seine Stimme geben wird: "Er hat mir ermöglicht zu werden, wer ich heute bin."

Solange Bashar al-Assad an der Macht ist, ist für Ahmed eine Rückkehr nach Syrien ausgeschlossen. "In Aleppo würde man mich sofort verhaften und einsperren", meint er. Berichte von Human Rights Watch bestätigen, dass zahlreiche Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehrten, schweren Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung durch die syrische Regierung und nahestehende Milizen ausgesetzt waren.

Ginge es nach Ahmed, sollten die USA und die EU Assad zum Rücktritt zwingen. Doch der Westen richtet seinen Blick auf den ukrainischen Kriegsschauplatz, während zahlreiche arabische Staaten bereit sind, den jahrelang von ihnen geächteten Assad zu rehabilitieren. Bei der Annäherung an Damaskus geht es nicht zuletzt darum, eine Rückkehr der Millionen syrischen Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten Türkei, Libanon, Jordanien und Irak zu ermöglichen. Laut UNHCR leben in diesen Ländern insgesamt rund 5,4 Millionen Menschen aus Syrien.

Sollte sich die politische Lage in Syrien irgendwann einmal doch ändern, wäre Ahmed trotz seines Erfolgs in der Türkei sofort bereit zurückzukehren. "Ich würde lieber heute als morgen gehen", betont er. Von seinen drei Kindern wurden zwei in der Türkei geboren; das erste war ein Jahr alt, als sie aus Syrien flohen. Auch wenn sie in der Türkei aufwachsen, sollen sie wissen, dass Syrien ihre Heimat ist, so Ahmed. Seine Kinder erinnert er immer wieder daran: "Ihr kommt aus Syrien, vergesst das nicht!"