Zum Hauptinhalt springen

Neue Gegenkultur testet Schlagkraft

Von Michael Schmölzer

Politik

"Occupy Wall Street"-Bewegung gewinnt globale Dimension.|Proteste auch in Österreich.|Etablierte politische Kräfte sind ratlos.


Wien/New York/Tokio. Unter die New Yorker Aktivisten der "Occupy Wall Street"-Bewegung könnte sich bald ein stämmiger kleiner Mann aus Danzig mit großer Streikerfahrung mischen: Niemand Geringerer als Lech Walesa, der Held, der in den 80er-Jahren den polnischen kommunistischen Apparatschiks das Fürchten lehrte, soll jetzt gegen die Macht der Banker und der Finanzwelt auftreten. "Ich will da hin", so der ehemalige Solidarnosc-Chef, der es bis zum Präsidentenamt und dem Friedensnobelpreis gebracht hat, er müsse nur noch einen Termin freischaufeln.

Nicht nur der legendäre Arbeiterführer fühlt sich angesichts der Proteste in den USA an seine revolutionäre Vergangenheit erinnert. Bei den Veteranen der 68er-Bewegung kommen Erinnerungen an längst vergangene Anti-Vietnam-Demonstrationen und zahllose Sit-ins auf dem Uni-Campus in auf. Viele fragen sich, ob eine lethargische Jugend zum Leben erwacht ist und endlich mit der Faust auf den Tisch haut.

Politiker sind sprachlos

Abseits von Revolutionsromantik macht sich Ratlosigkeit breit. Vor allem bei denen, die genau hinsehen. Die Bewegung ist kaum fassbar, jeder Demonstrant, so scheint es, hat seine eigenen Forderungen. Als gemeinsamer Nenner lässt sich ein diffuser Überdruss an der Unfähigkeit von Politik und Gesellschaft ausmachen, die aktuelle Wirtschaftskrise zu bewältigen. Kein Experte oder Analyst hat eine Antwort darauf, ob sich die Bewegung halten kann, an Kraft gewinnt, auf niedrigem Niveau stagniert oder einfach sang- und klaglos verschwindet. Immerhin werden die Nächte auch in New York empfindlich kühler, die Schlafsäcke könnten ganz plötzlich aus dem Stadtbild verschwinden. In Österreich ist die Uni-Besetzung des Jahres 2009 gut in Erinnerung, die sich schließlich auflöste.

Noch sind die Anhänger der neuen Gegenkultur in den USA und in Europa nicht besonders zahlreich, es handelt sich um Gruppen von meist nicht mehr als einigen tausend Personen - ob in New York, Washington, Los Angeles oder Bologna. Die Schlagkraft der "Occupy Wall Street"-Bewegung leidet unter der Vielzahl der Interessen und unter dem Umstand, dass man sich gegen jede Form der Hierarchisierung wehrt. Dass Struktur und Stoßrichtung fehlen, ist aber auch ein Vorteil. Wenn eine Kampagne scheitert, taucht anderswo eine andere völlig unerwartet wieder auf.

Allergisch reagieren die Wall-Street-Gegner bei Versuchen etablierter Institutionen, die neue Bewegung für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Prinzipielles Misstrauen trifft Altlinke genauso wie politische Parteien, am leichtesten tun sich noch die Gewerkschaften und NGOs, die sich in den USA und Europa den Aktivisten angeschlossen haben. Zweifellos, so heißt es vielerorts, ist eine neue Gegenkultur im Entstehen, die ihren Weg sucht - und immer wieder findet.

Es wird nicht besonders geschätzt, wenn etwa US-Präsident Barack Obama Verständnis für die "Frustration" der "Occupy Wall Street"-Aktivisten äußert. Der Demokrat will eine höhere Besteuerung der Reichen durchsetzen und scheitert dabei am Widerstand der Republikaner. Nun versucht er, die neue Protestbewegung vor seinen Karren zu spannen. Die "Occupy Wall Street"-Aktivisten geben deutlich zu verstehen, dass sie auf derartigen Beifall verzichten können: "Yes you can - but you didn’t" steht auf ihren Transparenten zu lesen. Trotzdem haben Parteistrategen der US-Demokraten die Wall-Street-Kritiker bereits fix als Gegengewicht zur ultrakonservativen Tea Party eingeplant.

Nichts als "Gesindel"

Die Politiker der Tea Party scheinen unterdessen die Einzigen zu sein, die keinen Zweifel über das Wesen der Wall-Street-Gegner haben. Der Fraktionschef der Republikaner im Repräsentantenhaus, Eric Cantor, nennt die Demonstranten "Gesindel", Präsidentschaftskandidat Herman Cain, der ein Vermögen mit Pizzas verdient hat, glaubt an niedere Motive. Für ihn sind die Demonstranten eine reine Neidgesellschaft. Die Menschen sollen nicht demonstrieren und stattdessen arbeiten und danach trachten, selbst reich zu werden, lautet seine Empfehlung. Andere Kritiker machen sich darüber lustig, dass sich der Protest gegen "Corporate America" richtet, dass sich die Aktivisten aber ganz selbstverständlich der Produkte von Großunternehmen wie iPhone oder BBQ-Whopper bedienen.

Internet und soziale Netze wie Twitter sind es auch, die aus den Demonstrationen, die vor einigen Wochen als Kleinveranstaltungen in New York begonnen haben, eine globale Bewegung machen sollen. In 1000 Städten rund um den Erdball wird es an diesem Wochenende Demonstrationen gegen die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen geben. Auf der Internetseite "www.15october.net" sind alle Details zu lesen. "Von Amerika bis Asien, von Afrika bis Europa stehen die Menschen auf, um ihre Rechte einzufordern und eine richtige Demokratie zu verlangen", schreiben die Initiatoren der Proteste.

"Überfluss besteuern"

Auch in Österreich und in Deutschland gehen jetzt die ersten von den Wall-Street-Gegnern inspirierten Kapitalismus-Kritiker auf die Straßen. Die Proteste werden hier von der globalisierungskritischen Plattform Attac organisiert. Man sieht sich auch in Österreich als Teil einer globalen Bewegung, die im vergangenen Winter in Tunesien und in Ägypten ihren Ausgang genommen hat. Vernetzungen gibt es jedenfalls. Ahmed Maher, Mitbegründer der oppositionellen Bewegung "6. April", die im Februar Hosni Mubarak stürzte, ist mit mehreren kapitalismuskritischen Gruppen in den USA in Kontakt. Demonstranten in New York halten Transparente mit der Aufschrift "Hier ist der Tahrir-Platz" in die Höhe. Auch für Österreichs Attac-Sprecher David Walch hat der zentrale Platz in Kairo, wo sich die Unzufriedenen sammelten und sich Straßenschlachten mit Schlägertrupps des Regimes und der Polizei lieferten, Vorbildwirkung.

Dass die "Occupy Wall Street"Bewegung in Deutschland und in Österreich wie eine Bombe einschlägt, ist nach Ansicht des Soziologen Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin nicht zu erwarten. Für ihn gibt es zwar eine "massiv verbreitete Unzufriedenheit" in der Bevölkerung. Es fehle aber ein klarer Auslöser und Adressat für die Empörung.

In Österreich finden am Samstag jedenfalls zahlreiche Protestaktionen statt. Unter dem Motto "Überfluss besteuern, in die Zukunft investieren" wird es Demonstrationen in Steyr, Graz, Salzburg, Linz, Innsbruck und Wien geben. Die Veranstaltungen reichen von Kundgebungen über Speakers-Corner, Straßentheater bis zu Straßenbefragungen zum Thema "Was empört Sie?". An der Organisatoren-Allianz "Wege aus der Krise" beteiligen sich außer Attac die Armutskonferenz, Global 2000, Greenpeace, die Katholische ArbeitnehmerInnen Bewegung Österreich, die Österreichische Hochschülerschaft, SOS Mitmensch sowie verschiedene Gewerkschaften.

Die Aktivisten in den USA sehen bereits gute Chancen, dass sich bald auch in Japan Jugendliche erheben und auf die Straße ziehen. Es sei nicht auszuschließen, dass Nippons Ordnungshüter bald mit "Occupy Tokio" oder "Occupy Marnouchi" (Tokios Finanzdistrik, Anm.) konfrontiert werden, heißt es in New York.