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"Lasst uns was Neues versuchen"

Von WZ-Korrespondentin Agnes Tandler

Politik

37-Jährige kritisiert wachsende Talibanisierung in ihrem Land.


Kabul. Ihre Mutter wollte das neugeborene Mädchen sterben lassen. Fauzia Kufi war das 19. von 23 Kindern in der Familie. Doch sie entkam ihrem Schicksal und ist heute eine angesehene Politikerin in Afghanistan. "Man muss Tabus brechen", sagt die 37-Jährige und lacht. Kufi lebt alleine mit ihren zwei Töchtern im Karte-Sei-Viertel in Kabul. Mit ihrem schwarz-roten Cape und ihrem roten Kopftuch erinnert sie ein wenig an Rotkäppchen.

Politikerin Fauzia Kufi will hoch hinaus.

"Ich war immer die Erste", sagte Kufi. Sie war die erste Frau in ihrer Familie, die eine Schule besuchte. Sie war die erste Frau, die unter dem radikalen Taliban-Regime für die Vereinten Nationen arbeitete. Sie war die erste Vize-Präsidentin des afghanischen Parlaments. Nun hofft Kufi auf mehr: die erste Präsidentin Afghanistans zu werden - 2014, wenn eine neue Wahl ansteht.

Ausgerechnet in Afghanistan: Das islamische Land gilt als das gefährlichste Land für Frauen auf der Welt. Zwangsheirat, Gewalt, Kinderehen, Ehrenmord und sanktionierter Mädchenhandel gehören zum Alltag. In vielen Gemeinschaften dürfen Frauen und Mädchen das Haus nie verlassen. Ein Großteil der Frauen wird im Alter von zehn bis 13 Jahren verheiratet. Die Müttersterblichkeit ist die höchste der Welt. Eine von elf Frauen stirbt an den Folgen einer Geburt.

Gerade haben die obersten Religionsführer im Land neue Leitlinien für das Verhalten von Frauen herausgegeben, die viele an die Gesetze des harschen Taliban-Regimes erinnern, das zwischen 1996 und 2001 herrschte: Frauen sind den Männern untergeordnet, sie sollen weder bei der Arbeit noch auf dem Bazar oder in der Schule oder der Universität mit Männern zusammentreffen und auch nicht ohne einen männlichen Begleiter einen Bus besteigen. Präsident Hamid Karzai hat die Regeln der Ulema, des Religionsrates, als richtig und islamisch korrekt verteidigt.

Diese neuen Richtlinien der Religionsführer seien "ein grünes Licht für die Talibanisierung", kritisiert Fauzia Kufi. Es gebe einen klaren Zusammenhang zwischen den gewünschten Friedensverhandlungen mit den aufständischen Taliban und den geplanten Beschränkungen der neu gewonnenen Rechte der Frauen.

Turbulente Familiengeschichte

Kufi stammt aus Badakshan, einer abgelegenen, grünen Provinz im Norden des Landes. Sie weiß nur zu gut, was es heißt, aus einem konservativen Umfeld auszubrechen. "Ein Mädchen muss heiraten, haben meine Brüder gesagt. Doch meine Mutter wollte, dass ich zur Schule gehe", erzählt sie. Badakshan ist eine arme Version der Schweiz. Abgelegen und isoliert von hohen Bergen sind schwangere Frauen oft zwei Wochen lang unterwegs, um in einem Krankenhaus entbinden zu können. Hier, in den Bergen Badakshans, wurde Kufi an einem heißen Hochsommertag geboren. Ihre Mutter - eine von sieben Frauen von Kufis Vater - ließ das Kind einfach in der Sonne liegen. Sie sei einfach erschöpft von der schweren Entbindung ohne medizinische Hilfe gewesen, erzählt Kufi. Doch als es der Mutter nach ein paar Stunden besser ging, habe sie es bereut, das Baby dem sicheren Tod auszusetzen, und es zu sich zurückgeholt. "Sie hat die anfängliche Ablehnung später durch ihre ganze Liebe wettgemacht", sagt die Parlamentarierin. So habe sie es schließlich allein ihrer Mutter zu verdanken, dass sie zur Schule gehen durfte.

Damals ahnte niemand in der Familie, dass ausgerechnet das Mädchen, das eigentlich sterben sollte, das politische Erbe ihres Vaters antreten würde, der Parlamentarier unter dem letzten König war. Er starb, bevor Kufi vier Jahre alt war. Als Mitglied der von der damaligen Sowjetunion unterstützten Volksvertretung in Kabul wurde er von den Mudjahedin, den islamistischen Aufständischen, erschossen.

Krieg, Konflikt und Politik sind in Fauzia Kufis Leben eng verwoben: Zwei Brüder kamen im Bürgerkrieg um. Ihr Mann, Hamid, wurde ins Gefängnis geworfen, als die Taliban 1996 die Macht in Kabul übernahmen, und starb später an den Folgen der grausamen Haft. Kufi floh zurück in ihre Heimat in Badakshan, eine Gegend, die nie von den Taliban kontrolliert wurde. Dort arbeitete sie für die UNO und kümmerte sich um Kriegsvertriebene. Nach dem Sturz der Taliban kehrte Kufi nach Kabul zurück und beschloss, sich als Abgeordnete für ihre Provinz zu bewerben. 2005 wurde sie ins neue Parlament gewählt. Kufi war voll von Elan: "Am Anfang wollte ich die ganze Welt verändern", erinnert sie sich. Doch allein die Probleme Afghanistans seien riesig gewesen.

Kufi hofft nun auf mehr: "Viele Menschen kennen mich", sagt sie. Sie würde dies gern nutzen, um auf das höchste Staats- und Regierungsamt hinzuarbeiten. "Es ist etwas, worüber wir nachdenken sollten." Es sei vielleicht Zeit für Afghanistan, eine Frau an der Spitze des Staates zu bekommen. "Männer haben die Unruhen hier begonnen, den Aufstand und den Bürgerkrieg. Also lasst uns etwas Neues versuchen."

"Der Koran ist nicht frauenfeindlich"

Gleichzeitig versucht sie jedoch, für konservative Kreise akzeptabel zu sein. Die Sharia solle das Leben Afghanistans bestimmen, betont Kufi. Die Einführung des islamischen Rechts ist auch eine Kernforderung der aufständischen Taliban. Doch Kufi hält die Sharia nicht für frauenfeindlich. "Frauen in Afghanistan leiden nicht, weil das Land islamisch ist, sondern weil die Sitten so streng sind." Der Koran und die religiösen Vorschriften würden stets von Männern ausgelegt. Doch im heiligen Buch der Muslime gebe es weder Zwangsheirat noch Kinderehen. Wenn man islamisches Recht richtig auslegen würde, würden Frauen in Afghanistan davon profitieren, sagt sie.

Doch bei allem Optimismus sieht Kufi den Plan des Westens, bis 2014 alle Kampftruppen vom Hindukusch abzuziehen, mit Sorge. Sie habe Zweifel, dass Friedensverhandlungen mit den Taliban zu einem Frieden für das Land führen. Es sehe so aus, als wolle die internationale Gemeinschaft hier "alles stehen und liegen lassen und sich davon machen." Bislang gebe es keine Garantie dafür, dass die Rechte der Frauen nicht zurückgedreht würden, wenn der Westen Afghanistan den Rücken kehrt.