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"Davor hatten wir ein Feuer im Herzen, haben aber geschwiegen"

Von Stefan Beig

Politik

Seit Beginn des Konflikts in Syrien treffen täglich 300 neue Flüchtlinge in der Türkei ein.


Kilis/Islahiye. "Da ist er!", ruft ein syrischer Jugendlicher und zeigt in den Himmel, wo kurz ein syrischer Hubschrauber zu sehen ist. Wenig später hört man dumpfes Donnern von Bombenexplosionen, Rauch steigt am Horizont auf.

Dort ist er, der Bürgerkrieg, gleich jenseits der Grenze.

Das Flüchtlingslager Kilis liegt nur 50 Meter von der syrisch-türkischen Grenze entfernt. Kugeln der syrischen Miliz haben sich auch schon einmal hierher verirrt, Einschusslöcher an einer Mauer zeugen davon. Die Nähe des Flüchtlingslagers zu Syrien ist für die hier untergebrachten Menschen höchst gefährlich, kritisierte kürzlich Amnesty International – lobte aber gleichzeitig die türkischen Anstrengungen für die syrischen Flüchtlinge.
11.500 syrische Flüchtlinge leben in Kilis, insgesamt halten sich laut Auskunft der türkischen Behörden 35.000 Flüchtlinge in der Türkei auf. Die meisten sind Frauen und Kinder, die oft aus einfachen Verhältnissen stammen und mithilfe der Freien Syrischen Armee (FSA) über die Berge hierher geflohen sind.

Die Lager sind wie kleine Städte, soziale Infrastruktur inklusive: Ärzte, Psychologen, Imame, Moscheen. In Kilis gibt es sogar noch Kindergarten, Volksschule, Gymnasium, fünf Sozialzentren mit Aufenthaltsräumen und einer kleinen Teppich-Manufaktur.

Bevor der Flüchtlingsstrom in die Türkei einsetzte, war das Lager in Kilis eine Raststation für Pilger auf ihrem Weg nach Mekka. Nun leben hier Flüchtlinge: In jedem Container eine Familie.

Sind sie zufrieden, hier Zuflucht gefunden zu haben? Da gehen die Meinungen auseinander: Die einen sind der türkischen Regierung "sehr dankbar", andere klagen angesichts der harten Lebensbedingungen. Besonders große Unzufriedenheit herrscht im 90 Kilometer entfernten Flüchtlingslager von Islahiye, das erst im März fertiggestellt wurde. "Wir kamen mit dem, was wir am Leib trugen", erzählt ein aufgebrachter Flüchtling. "Wir brauchen dringend Kleidung, die Frauen können ihre Wäsche nicht wechseln. Wir haben mit den Türken geredet, aber nichts ist passiert." Viele hier wirken frustriert und verärgert.

Journalisten seien noch nicht eingelassen worden, die gesundheitliche Lage und die ärztliche Behandlung seien schlecht – "hier sind alte, gebrechliche Leute und Menschen, die bei Gefechten verletzt wurden und Hilfe brauchen" – Kinder würden vom Trinkwasser krank werden, klagt einer der Flüchtlinge. Die UNO solle sich alles ansehen, fordern einige. "Die Leute sind sehr ungeduldig", meint ein Mann vom türkischen Außenministerium, "und ihre psychologische Situation ist angespannt." Öfters würden sich Familienangehörige bei der Flucht über die Grenze verirren und in unterschiedlichen Flüchtlingslagern landen. Die Familienzusammenführung sei dann in manchen Fällen aber gar nicht so einfach.
<br style="font-weight: bold;" /> Massaker an Familien erlebt

Einige der Flüchtlinge sind vom Krieg traumatisiert im Lager angekommen. Ein älterer Syrer erzählt, was sich angeblich in Halfaya, einem Dorf 30 Kilometer nordwestlich von Hama, zugetragen hat.

Armeeangehörige sollen einen Familienvater – sein Name: Hac Khaled Alwaad – und seine fünf Söhne an einer Straße zum Verhör angehalten haben. Der Mann und vier seiner Söhne wurden einfach erschossen, erzählt der Flüchtling, ihre Leichen seien kurzerhand in eine Zisterne geworfen worden. Doch der zehnjährige Sohn habe überlebt. Im Dorf Halfaya habe der Bub dann den Menschen mit Händen und Füßen gedeutet, was passiert war. In Worte fassen konnte er es kaum, er stand unter Schock, immer wieder stockte seine Stimme. Doch das sei nicht alles gewesen: Beim Begräbnis der Angehörigen des Zehnjährigen habe die Armee erneut das Feuer auf die Menschen eröffnet.

Einig gegen Assad

Die meisten der Flüchtlinge gehören der sunnitischen Mehrheit an. Aber sie bekräftigen mit Nachdruck, dass sich die Christen ebenfalls gegen das Regime aufgelehnt haben, einige mussten in den Libanon fliehen. "Die Christen in unserer Umgebung waren mit uns auf den Demonstrationen", erzählt ein Flüchtling aus Homs. "Sie sind wie wir unterdrückte Menschen." Gleiches hört man aus dem Dorf Dschisr asch-Schughur, das 20 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt ist. "Christen und Muslime lebten hier immer schon zusammen. In unserer Stadt kennen sich alle seit Generationen", erzählt Abd Al Mueen Masri, ein 34-jähriger Familienvater. "Wir demonstrierten gemeinsam. Die beiden christlichen Familien neben uns waren zum Beispiel dabei." Seine Ehefrau betont: "Wir sind Freunde, es gibt keine Differenzen." Masri berichtet auch von Revolutionären aus Bresh bei Malula, die am Beginn des Konflikts einen Panzer zerstört haben. 90 Prozent der Bewohner von Malula sind Christen, von denen einige Großväter und Großmütter noch Aramäisch, die Sprache Jesu, sprechen.
Seit vier Monaten ist Abd Al Mueen Masri in Kilis. Seine vier Töchter vermissen ihre Freunde, das Leben hier sei langweilig, erzählen sie.

Im Gegensatz zu manchen anderen Flüchtlingen kommt eine Rückkehr nach Syrien für sie zurzeit nicht in Frage. Der Familienname Masri ist nämlich den syrischen Sicherheitsbehörden nur zur gut bekannt. Als das syrische Regime 1982 ein Massaker in Dschisr asch-Schughur anrichtete, wurden bereits zehn Familienangehörige ermordet, drei weitere landeten im Gefängnis. "Wir wissen bis heute nicht, was aus ihnen geworden ist", berichtet Abd Al Mueen Masri. Seine Eltern sprachen aus Angst nie über die Ereignisse – "Die Wände haben Ohren".

Rotes Tuch für das Regime

Masri arbeitete als Lastwagenfahrer und hatte immer Probleme mit den Behörden: "Nach einem Unfall behandelte mich die Polizei wie einen Kriminellen, man nahm mir die Kleidung weg, ich wurde beschimpft." Ein anderes Mal stoppte ihn ein Verkehrspolizist. "Er begann mich zu beschimpfen. Warum schreien Sie mich an, fragte ich. Darauf er: Ich bin Anhänger von Präsident Bashar al-Assad." Wegen seiner Widerrede musste Masri für einen Monat ins Gefängnis. Viele der Flüchtlinge hier haben eine Wut auf das Regime in Damaskus im Bauch – sie können die Schikanen, denen sie ausgesetzt waren, nicht vergessen.

Masri war für die Behörden ein rotes Tuch, die Vertreter des Regimes trauten ihm nicht über den Weg. Als er während der landesweiten Konflikte einer Panzerkolonne auf dem Weg von Homs nach Tartus begegnete, konnte Masri sich nur wundern. "Bei meinem Militärdienst sah ich solche Panzer nie." Sensible Dinge habe er als Angehöriger der Masri-Familie nie zu Gesicht bekommen, dazu hielten ihn die Vorgesetzten wohl für zu unzuverlässig.

Als er 2011 nach Daraa kam, verlangte ein Offizier seinen Ausweis. "Er machte sich über meine Familie lustig und sagte: Ah, ein Masri! Ihr ward doch in den 80ern gegen den Assad."

Es begann mit "Märtyrern"

In die südsyrische Stadt Daraa hatte es Masri aus beruflichen Gründen verschlagen. Schulkinder hatten dort Parolen an die Wand geschmiert, in denen sie zum Sturz des Regimes aufriefen. Einige Schüler wurden verhaftet und gefoltert.

Daraufhin gingen die Menschen in Daraa am 15. März 2011 auf die Straße – der Beginn des blutigen "Syrischen Frühlings". "Die Sicherheitspolizei ließ keinen Fremden mehr hinein und nur mehr Fremde wie mich hinaus. Straßen, Lebensmittelläden und Supermärkte waren leer." Nur für das syrische Staatsfernsehen seien die Geschäfte wieder geöffnet worden. Danach wurden überall in der Gegend Straßensperren und Kontrollposten errichtet, bei denen die Soldaten die passierenden Autofahrer bewusst provozierten. Bei der Zufahrt zum Hafen von Latakia hätten die Bewacher Masri etwa "Ungläubiger, Schwein und Idiot" beschimpft.

Jahrzehntelang hatten viele Syrer geschwiegen und ihren Frust hinuntergeschluckt. Das änderte sich mit den Umwälzungen in Tunesien und Ägypten, und mit der Empörung über die Misshandlung der Schul-Kinder. "Wir dachten: Jetzt müssen wir reden! Hier gibt es keine Freiheit für unsere Religion. Bei der Armee durften wir nicht einmal beten", erzählt ein Mann.

Entschluss zur Flucht

Zur Ausweitung der Proteste hätten auch die Begräbnisse für die getöteten Demonstranten beigetragen, erzählt Nawar Masri, ein Anglistik-Student: "Als die Märtyrer durch die Stadt getragen wurden, haben alle zu schreien begonnen. Ich habe damals erstmals Freiheit gespürt. Davor hatten wir ein Feuer im Herzen, haben aber geschwiegen. Nun begann die Rache."
Am 6. Juni kam Dschisr asch-Schughur weltweit in die Medien. 120 Soldaten wurden laut syrischem Fernsehen von bewaffneten Gruppen erschossen.

Abd Al Mueen Masri widerspricht: Die Armee habe die Männer exekutiert, weil sie zur Bevölkerung übergelaufen seien. An diesem 6. Juni habe die Armee um Mitternacht das Feuer auf eine große Menschenmenge eröffnet, die vom Begräbnis eines ermordeten Dorfbewohners zurückgekehrt war. "Innerhalb von einer Minute waren acht Personen tot, darunter mein Cousin Mustafa." Das Gefecht dauerte 36 Stunden.

Etliche Bewohner, besonders junge, verließen danach das Dorf, alte Menschen und Assad-Anhänger blieben. Als Masri vom Militär nach seinen Cousins im Widerstand befragt wurde, zog er mit seiner Familie nach Aleppo, wo er im Geschäft seines Onkels arbeitete. "Unsere Schulkollegen lästerten dort über uns, weil wir aus Dschisr asch-Schughur stammen, der Masri-Familie angehören und nicht für Assad waren", erzählen die Töchter. Sie seien von ihrer Schulkollegen geschlagen worden und von den Lehrern aufgefordert worden, an Pro-Assad-Demos teilzunehmen.

So reifte der Entschluss zur Flucht aus Syrien. Weil sich Abd Al Mueen Masri wegen seines Familiennamens nirgendwo mehr blicken lassen konnte, wählte er einen beschwerlichen Fluchtweg über das Gebirge gemeinsam mit Soldaten der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA). Während seiner Flucht half nur eines: Beten. Masri: "Wenn sie mich erwischt hätten, dann hätte ich vorgegeben, eine Waffe bei mir zu haben, damit sie mich auf der Stelle erschießen und ich nicht gefoltert werde . . ."

Homs großteils zerstört

Szenenwechsel: Ein Familienvater, der seinen Namen lieber nicht nennen möchte, lebt im Lager Islahiye. Er ist aus der 800.00-Einwohner-Stadt-Homs geflüchtet. Mehr als 60 Prozent von Homs dürften zerstört sein, schätzt er. "Wir hatten kein Essen, keine Elektrizität, kein Wasser. Die Menschen starben und wir konnten sie nicht begraben", erzählt er verbittert. Homs lag ständig unter Feuer. "Wir waren gezwungen, von einem Haus zum nächsten zu fliehen. Jeden Tag wurde ein anderes Viertel zerstört. Die Soldaten der Rebellenarmee half uns und gab uns Brot."

Die Demonstrationen in Hama wurden zunächst immer größer, dann sei man dazu übergegangen viele kleine Demonstrationen gleichzeitig abzuhalten. Soldaten, die nicht auf Demonstranten geschossen haben, seien von der Schahiba – gefürchteten syrischen Söldnern – getötet worden. Nach wenigen Monaten sei es kaum noch möglich gewesen, Homs mit dem Auto zu verlassen. "Eine Grube – sechs Meter breit, drei Meter tief – wurde um die Stadt gegraben. Bei jeder Absperrung standen fünf Panzer."
Manche Flüchtlinge wurden selbst Opfer von Folter: Einer der Gesprächspartner berichtet, wie er allein in einem kleinen Raum untergebracht war, "ohne Sonne, Licht und Wasser. Es gab eine Tür und ein kleines Fenster, durch das ich Essen bekam." Tag und Nacht sei er gefoltert worden. "Ich habe geglaubt, jetzt ist mein Ende, und habe dieses herbeigesehnt, damit das aufhört." Für 300.000 syrische Pfund (3741 Euro) sei er von seiner Familie freigekauft worden.

Manche Soldaten der Oppositionsarmee kommen in die Lager, um ihre Verwandten zu besuchen. Ein Syrer in Kilis hat sich ihnen kürzlich angeschlossen und ist jetzt Pendler. Zum Kämpfen geht es nach Syrien, dann erholt er sich in der Türkei vom Kampf. "Wir haben viele heimliche Helfer bei der Armee, die auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht warten", erzählt er. Das Regime greife im Gebirge nur mehr mit Helikoptern an. Sie hätten Angst, dass ihre Soldaten im Wald fliehen werden. "Wir bringen auch Nahrungsmittel zu jenen Menschen, die nichts zum Essen haben", berichtet ein anderer FSA-Soldat. "Meine Funktion war bisher, die Demonstranten zu beschützen."

Abd Al Mueen Masris Ehefrau hofft, "dass Assad gehen wird und ein freies, demokratisches Syrien entsteht. Schön wäre es, einen Präsidenten zu haben, vor dem alle Bürger gleich sind."