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Die Extremistenoase

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Die Terrorgruppierung Isis ruft ein islamisches Kalifat aus. Der Irak könnte zu einem Extremisten-Hotspot mit überregionaler Sprengkraft mutieren, wenn sich die Volksgruppen nicht einigen. Malikis Wiederwahl als Regierungschef ist unsicher.


Bagdad. Der Zeitpunkt ist bewusst gewählt. Am ersten Tag des für Muslime heiligen Fastenmonats Ramadan ruft Isis (Islamischer Staat im Irak und der Levante) einen islamischen Staat aus. Selbstbewusst will die sunnitische Terrororganisation ein Kalifat errichten, das Territorien in Syrien und Irak umfasst. Angeblich kontrolliert Isis mittlerweile eine Fläche so groß wie Jordanien. Anführer und Kalif soll der Iraker Abu Bakr al-Baghdadi sein, der mit bürgerlichem Namen Ibrahim al-Badri heißt, in Samarra geboren ist und in Bagdad Religionswissenschaften studierte. Er ist der Begründer von Isis und hat die Vision des 2006 von US-Truppen getöteten Chefs von Al-Kaida im Irak, Abu Mussab al-Sarkawi, als sein Erbe angenommen: die Auslöschung der Grenzen zwischen dem Irak und Syrien. Ob sein Kalifat über den Ramadan hinaus Bestand haben wird, werden die nächsten Wochen zeigen. Eine Großoffensive der irakischen Armee mit Hilfe unzähliger schiitischer Freiwilligen ist gerade dabei, die strategisch wichtige Stadt Tikrit zurückzuerobern. Am 11. Juni hat Isis die Heimatstadt Saddam Husseins eingenommen, einen Tag nachdem Mossul, Iraks zweitgrößte Stadt, in ihre Hände gefallen war.

Die Einnahme Mossuls ist eine Zäsur für den Irak. Dass dessen Grenzen, so wie sie bis dahin verliefen, nicht mehr aufrechtzuerhalten sind, wird die neuen Parlamentarier beschäftigen, die am heutigen Dienstag zu ihrer ersten konstituierenden Sitzung zusammentreffen. Schon jetzt gibt es heftigen Streit über die Verantwortung des Desasters, in dem der Irak sich gegenwärtig befindet. Viele sehen in Premier Nuri al-Maliki den Schuldigen, der es - trotz Warnungen - versäumt habe, die irakische Armee mit ihren fast eine Million Soldaten effektiver einzusetzen und auf den Blitzkrieg durch Isis vorzubereiten.

Sunniten, Kurden wollen Parlament fernbleiben

Zum anderen werfen viele Volksvertreter ihm vor, die politische Dimension völlig unterdrückt zu haben, da er mit der Zementierung seiner Macht beschäftigt war und die Kräfteverschiebungen in den Provinzen ignoriert habe. So habe Maliki die Forderungen der friedlichen Demonstranten, die über ein Jahr in der Sunnitenprovinz Anbar für mehr politische Mitsprache und Teilhabe demonstrierten, nicht ernst genommen und den Kurden ihr in der Verfassung verbrieftes Recht auf ein Referendum über die Verwaltungshoheit Kirkuks nicht genehmigt. Aus Protest darüber wollen sunnitische und kurdische Abgeordnete der Parlamentssitzung fernbleiben.

Der schiitische Premier dagegen gibt sich unbeugsam. Er habe die Parlamentswahlen vom 30. April gewonnen, sagte er wiederholt in den vergangenen Tagen, nachdem er unter erheblichen internationalen Druck geriet, eine Einheitsregierung unter Beteiligung aller Volksgruppen Iraks zu bilden. Mit 92 Sitzen ist Malikis Rechtsstaatskoalition zwar die stärkste Kraft in der Volksvertretung in Bagdad, kann aber nicht allein regieren. Von den 328 Abgeordneten braucht er 165, die für ihn stimmen, damit er eine dritte Amtszeit bekäme und die von ihm angestrebte Mehrheitsregierung zustande kommt. Doch dies wird immer unwahrscheinlicher. Selbst seine bisherigen schiitischen Regierungspartner gehen auf Distanz. So hat sich Moktada al-Sadr, dessen Ahrar-Block bei den Wahlen mit 34 Sitzen Platz zwei belegte, gegen eine weitere Kooperation mit Maliki ausgesprochen, ebenso Ammar al-Hakims Bürgerallianz (Muwatin), die 29 Sitze errang. Zusammen hätte die Allianz der Schiitenparteien 155 Sitze, zehn weniger als die erforderliche Mehrheit für Maliki als nächsten Premier.

Doch sogar aus Malikis eigener Partei wird nun Kritik laut. Es werde immer schwieriger für ihn als Premier zu überleben, sagt der Ex-Minister für nationale Sicherheit und jetziger Abgeordneter der Rechtsstaatskoalition, Abdul Karim al-Anzi. "Die Situation ist sehr kompliziert und die Debatten über die künftige Regierung sind lange nicht zu Ende." Die Verfassung schreibt vor, dass innerhalb von 30 Tagen nach der ersten Parlamentssitzung eine Regierungsbildung abgeschlossen werden müsse, die Abgeordneten über Parlamentsvorsitzenden, Präsidenten und den Premier und seine Regierung abstimmen sollen. Allerdings dauerte die letzte Regierungsbildung 2010 ganze neun Monate.

"Es gibt keine Chance auf eine Einigung zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden mit Maliki an der Spitze", schätzt ein prominentes Mitglied der Rechtsstaatskoalition des Premiers, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will, die Lage ein. Doch selbst wenn mittlerweile die Meinung vorherrscht, dass die nächste irakische Regierung ohne Maliki an der Spitze aussehen wird, ist die Konstellation noch völlig offen. Vier Kandidaten für die Nachfolge Malikis sind im Gespräch, die alle nicht unumstritten sind. Der kritische, ehemalige kurdische Abgeordnete, Mahmoud Othman, der bei diesen Wahlen nicht mehr kandidierte, ist pessimistisch über die Entwicklung. Othman, der den parlamentarischen Betrieb in Bagdad durch zwei Legislaturperioden als Abgeordneter ausgezeichnet kennt, befürchtet, dass das Parlament sich in eine Sackgasse manövrieren könnte und unter dem Druck des sunnitischen Aufstandes handlungsunfähig wird. "Das wäre eine Katastrophe für den Irak."