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"Eine Armee kannst du besiegen, ein Volk nicht"

Von Markus Schauta und Christopher Glanzl (Fotos)

Politik

Seit drei Monaten verteidigen Kurden Kobanê gegen die Terrormiliz Islamischer Staat.


Suruç. Im Schritttempo rumpelt der Toyota über eine Landstraße an der Grenze zu Syrien. Als zwei Vermummte ins Licht der Scheinwerfer treten, stoppt das Auto. Der eine zieht seinen Schal vom Mund und beugt sich zum heruntergelassenen Fenster. Er spricht auf Kurdisch, Cesare, der Dolmetscher, antwortet. "Dorfwachen", sagt Cesare. "Sie wollen einen Blick in den Kofferraum werfen."

Auf einer sandigen Ebene am Rande des kurdischen Dorfes Mahser brennen vier Feuer, um die sich schwarze Schatten drängen. In der kalten Novembernacht singen sie Lieder und starren in die Dunkelheit, wo einen Kilometer entfernt die Schlacht um Kobanê tobt. Über der Stadt kreisen Kampfjets des US-geführten Bündnisses gegen den IS. Manchmal werfen sie Bomben ab, dann bebt die Erde.

"Wir haben in jedem Grenzdorf Wachen aufgestellt", sagt Mehmet Akman. Der Kurde mit Militärjacke und Drei-Tages-Bart lebt seit über einem Monat im Dorf. "Wir schützen uns selbst, weil niemand anderer es tut." Der Kampf der Kurden gegen den IS wird nicht nur in Syrien, sondern auch in der Türkei geführt. "Wir bewachen etwa 30 Kilometer Grenze", sagt Akman. Dadurch soll verhindert werden, dass IS Nachschub nach Kobanê schafft, oder dass IS-Milizionäre über die Grenze in die Stadt gelangen können. Bewaffnet seien die Grenzwachen nicht, sagt er. "Die Waffen brauchen unsere Brüder in Kobanê."

Akman kommt aus dem Südosten der Türkei, aus einem Dorf an der Grenze zum Irak. So wie er sind Kurden aus dem ganzen Land hierher gekommen. Aber auch europäische Freiwillige finden sich in ihren Reihen. Der Dolmetscher Cesare ist einer von ihnen. Der 24-Jährige ließ sich eine Woche von seinem Job in den Niederlanden beurlauben. Er bekam die Telefonnummer einer Kontaktperson, die ihm sagte, wo er sich melden solle. Da seine Muttersprache Kurdisch ist und er außerdem fließend Englisch spricht, begleitet er jetzt Journalisten, die über die kurdische Sache berichten wollen.

Wenn es dunkel wird, rollt der Nachschub für IS-Dschihadisten

Ein anderer ist Fritz, der Deutsche. Der Mittfünziger lebt seit zwei Monaten im Dorf. Jede Nacht patrouilliert er entlang der Grenze. "Wir möchten die Kooperation der türkischen Regierung mit dem IS aufdecken", sagt Fritz. Daher sei das türkische Militär über die Grenzwachen auch alles andere als erfreut.

Dass die Türkei den IS unterstützt, davon sind hier alle überzeugt. An den Feuern hört man Geschichten über türkische Soldaten, die an der Grenze mit IS-Kämpfern plaudern. Über verwundete Islamisten, die in den Krankenhäusern von Suruç und Urfa zusammengeflickt werden, und verletzte kurdische YPG-Kämpfer, die an der Grenze verrecken, weil das Militär sie nicht passieren lässt. Und dass türkische Soldaten applaudierten, als eine Granate in einem grenznahen Flüchtlingslager explodierte.

Plötzlich ist es finster im Dorf, als hätte jemand den Lichtschalter umgelegt. "Immer wenn sie uns den Strom abdrehen, bringt der IS Nachschub über die Grenze", sagt Fritz - in dieser Nacht wird es lange dunkel bleiben.

Auf einem nahegelegenen Hügel hat man einen ausgezeichneten Blick auf Kobanê. Oben fünf schwarze Silhouetten auf einer improvisierten Sitzbank - mit Pappkarton als Unterlage und einem Haufen Steine als Rückenlehne beobachten sie das Kriegsleuchten über der dunklen Stadt; dumpfes Grollen der Peschmerga-
Artillerie, Hunde bellen, dann setzen Maschinengewehre ein. Stille. Zwischen dem Hügel und Kobanê irrlichtern die Scheinwerfer türkischer Patrouillenfahrzeuge.

"Hauptsache, ich kann eines Tages dorthin zurück"

Die Häuser sind von hier mit freiem Auge zu erkennen. "IS hat die Stromversorgung gekappt", sagt Mohammad, ein junger Kurde aus Kobanê. Das Krankenhaus der kurdisch-syrischen YPG-Miliz im Westen der Stadt habe zwar einen Stromgenerator. Da der Diesel knapp ist, werde er aber nur angeworfen, wenn es Verletzte gibt. "Meine beiden Brüder kämpfen dort", sagt er. Seit zwei Tagen haben sie sich nicht mehr gemeldet.

Eine Detonation lässt die Erde beben. Die graue Wolke aus Rauch und Staub im Zentrum von Kobanê hebt sich vom nachtschwarzen Hügel hinter der Stadt ab. "Es kümmert mich nicht, wenn sie Kobanê dem Erdboden gleichmachen", sagt Mohammad. "Hauptsache, ich kann eines Tages dorthin zurück."

Dann weht der Wind das Knattern eines Motors heran - im Krankenhaus von Kobanê haben sie den Generator angeworfen.

"Ich bleibe, bisKobanê befreit ist"

Am nächsten Morgen in Suruç, einer staubige Stadt, zehn Kilometer von der syrischen Grenze entfernt: Panzerfahrzeuge, Wasserwerfer, Soldaten in Kevlarwesten mit automatischen Waffen - der Ort gleicht einem Stützpunkt der türkischen Armee.

Im Rojava Camp am Rande der Stadt treffen wir Emine Yilmaz. Die kleine Frau mit müden Augen führt uns durch die Reihen weißer Zelte, vor denen Frauen Wäsche waschen und Kinder spielen.

Seit zwei Monaten arbeitet die alleinerziehende Mutter als Freiwillige im Camp, den Hoteljob hat sie gekündigt. Ihre beiden Kinder sind bei den Großeltern in Mersin untergebracht. "Meine Kinder haben ein warmes Zuhause. Die Flüchtlingskinder hier haben es nicht und brauchen mich daher mehr", sagt sie und lächelt.

Yilmaz ist für die Hygiene und Wasserversorgung im Zeltlager zuständig. Keine einfache Aufgabe, wenn sich 1100 Flüchtlinge sechs Toiletten und einen Duschcontainer teilen müssen und es weder Kanalisation noch fließendes Wasser gibt. "Kurdische Helfer liefern Trinkwasser in Plastikflaschen und Waschwasser in Tankwägen", sagt sie. Unterstützung von der türkischen Regierung gebe es keine. Das Areal, auf dem die Zelte stehen, mussten sie von einer Privatperson anmieten.

"Im Lager gibt es keinen Strom und kein Hospital und langsam wird es eng", sagt Yilmaz. Schon jetzt sind die hundert Zelte überbelegt. Hinter dem Lagerzaun liegt eine staubige Ebene. Dort sollen demnächst Wohncontainer für die Flüchtlinge aufgebaut werden.

Und wann wird sie ihre Kindern wiedersehen? "Ich bleibe, bis Kobanê befreit ist." Am Weg zum nächsten Interview fahren wir am Depot vorbei, ein Warenlager, das die kurdische Stadtverwaltung von Suruç zur Verfügung gestellt hat. Tonnen an Hilfsmitteln erreichen täglich die zwei riesigen Lagerhallen, wo Freiwillige mit Staubmasken die Kleidersäcke, Matratzen, Hygieneartikel und Nahrungsmittel abladen. Von hier beliefern Kleinbusse Kochstellen, wo jeden Tag 12.000 Essen zubereitet werden. Bei den wenigen Gelegenheiten, an denen das türkische Militär den Grenzübergang öffnet, werden auch Hilfsgüter nach Kobanê gebracht.

Die hohe Effektivität der Hilfsleistungen beeindruckt. Cesare nickt. "Die PKK schmeißt den Laden", sagt er.

Kurden klagen übermangelnde internationale Hilfe

Die Fäden der kurdischen Flüchtlingshilfe laufen in einem zweistöckigen Gebäude im Zentrum von Suruç zusammen. Hier werden die Daten der Flüchtlinge gespeichert, um ihre Versorgung mit Nahrung und Medikamenten zu sichern; von hier aus wird die Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen NGOs koordiniert.

"Die meisten internationalen NGOs arbeiten nur mit dem türkischen Staat zusammen", sagt Olcay Gelik. "Mit uns wollen sie nicht kooperieren." Daher profitieren die Kurden nur im geringen Maß von den Hilfsgeldern. Nur ein kleiner Teil der kurdischen Flüchtlinge ist in staatlichen Camps untergebracht. Gelik, kurz rasierte Haare und mächtiger Schnauzbart, hat seinen Schreibtisch im zweiten Stock. Dort tippt er die gesammelten Daten der Flüchtlinge in einen Laptop: Aufenthaltsort - ob im Camp oder privat -, Alter, eventuelle Krankheiten oder Behinderungen.

Freiwillige für die "kommunistische Revolution"

Gelik kommt aus Istanbul, Kurde ist er keiner. "Ich bin hier, weil ich mich als internationalen Kommunisten sehe", sagt er. Dann spricht er über Gütergemeinschaft und Produktionsmittel, Machtstrukturen und Gender-Beziehungen. Was sich im kurdischen Kobanê entwickelt habe, sieht er als Konkretisierung dieser Ideen - ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

"Diese Revolution ist eine kommunistische", sagt er. "Ich bin hier, um sie zu unterstützen."

Für die Freiwilligen werde gesorgt, sagt Gelik, der im Grenzdorf Mahser untergebracht ist. Dreimal am Tag gebe es warmes Essen, auch die Zigaretten teilen sie sich. "Wir führen einen kommunalen Lebensstil."

Ermöglicht werde all das durch Kleider-, Nahrungs- und Geldspenden von kurdischen Gemeinschaften und Privatpersonen. "Die kurdischen Stadtverwaltungen helfen natürlich auch, ebenso wie Kurden aus Europa." An der Universität in Istanbul, wo er an seiner Dissertation in Philosophie schreibt, habe er 15.000 Lira, umgerechnet 5000 Euro, in einer Woche gesammelt. "Das ist natürlich nicht viel, wenn wir uns die Flüchtlingszahlen ansehen", sagt er. Aber eine Vielzahl solcher Aktionen garantieren das Überleben der Menschen.

Wir sprechen über Kobanê. Die Nachrichten aus der belagerten Stadt seien gut, es gehe voran. Dass Kämpfer der Peschmerga und der Freien Syrischen Armee den Volksverteidigungseinheiten YPG zu Hilfe eilten, mache sich bemerkbar. Ebenso die Bombardements durch die Koalitionsarmee. Er habe immer schon an den Sieg geglaubt, jetzt sehe er aber konkret, dass etwas passiert. "Wir drängen sie Schritt für Schritt aus Kobanê", sagt Gelik und zündet sich eine Zigarette an. YPG, das sei keine Armee, sondern die Menschen von Kurdistan. "Eine Armee kannst du besiegen, ein Volk nicht."

"Dieser Boden ist für zukünftige Märtyrer reserviert"

"Die einzigen Kurden, die das türkische Militär jetzt noch aus Kobanê raus lässt, sind Schwerverletzte und Tote", sagt Cesare. Von Letzteren gibt es täglich welche zu beklagen. Der Trauerzug mit den zwei Särgen ergießt sich hinaus zum Friedhof vor der Stadt, wo die Shuhada, die Märtyrer des Krieges, begraben werden.

Die Menge ist laut und ungestüm, die Särge schwanken bedenklich, die Toten der vergangenen Nacht waren noch keine zwanzig Jahre alt. "Meinen Sohn hab ich für euch gegeben!", schreit eine Mutter. Es ist ihr zweiter Sohn, den sie im Kampf gegen den IS verloren hat.

Cesare wird nachdenklich. Auch seine Familie musste aus Syrien fliehen, als er zwei Jahre alt war. Sein Vater, ein PKK-Aktivist, wurde damals vom Regime verfolgt. "Ich konnte das Land verlassen und in Europa leben, sie nicht", sagt er. Dann läuft er los, um einen Sarg ein Stück weit mitzutragen.

Als die Männer später die Erdlöcher zuschaufeln, kommt Wind auf und hüllt die Trauergesellschaft in eine Wolke aus Staub. Die dicht gedrängten frischen Gräber verlieren sich im weiten, ummauerten Feld. Ein paar verlorene Kiefer wachsen zwischen vertrocknetem Gras.

"Dieser Boden ist für zukünftige Märtyrer reserviert", sagt Cesare. Dann gehen wir über die staubige Straße zurück nach Suruç.