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Die Tragödie von Jarmouk

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Zum zweiten Mal wird der Palästinenserbezirk vor den Toren von Damaskus vom IS belagert. Während die Gotteskrieger im Irak an Territorium verlieren, legen sie in Syrien wieder zu.


Damaskus/Bagdad. Die Menschen in Jarmuk sitzen in der Falle. Das, was gerade in dem Vorort von Damaskus passiert, steht für die Tragödie, die sich in ganz Syrien abspielt. Es herrscht Gewalt, mangelnde medizinische Versorgung und Unterernährung. Jarmuk ist nun schon zum zweiten Mal davon betroffen. Kein Wasser, kein Strom, keine Lebensmittel: 18.000 Menschen sind gefangen in ihren Behausungen. Fast alle sind Palästinenser. Die UNO nennt es eine "menschenunwürdige" Situation. Seit Tagen toben in dem Bezirk, acht Kilometer südlich von Damaskus, heftige Kämpfe. Niemand darf nach Jarmuk hinein oder hinaus. Eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats am Montagabend in New York forderte eine Ausquartierung der Zivilisten. Zudem müsse es Zugang für humanitäre Hilfe geben. Bis jetzt verhallen die Appelle ohne Reaktion.

Vor genau einer Woche erstürmte der Islamische Staat (IS) den Bezirk, den viele als Flüchtlingslager bezeichnen, obwohl dort keine Zelte mehr stehen und überwiegend solide Häuser gebaut wurden. Denn die Palästinenser von Jarmuk leben schon lange hier. Die Ersten kamen, als der Staat Israel 1948 gegründet wurde und sie ihr Zuhause verlassen mussten. Andere kamen 1967, als der Sechs-Tage-Krieg sie in die Flucht trieb. Sie nannten ihr Camp Jarmuk, nach dem Grenzfluss im Dreiländereck Syrien, Jordanien und Israel. Dort tobte im Jahre 636 die entscheidende Schlacht zwischen Arabern und Römern. Saladins Sieg über die christlichen Ritter am Jarmuk gilt auch heute noch als der Triumph des Orients über den Okzident schlechthin.

Gestern nun hieß es, die Dschihadisten des IS hätten bis zu 80 Prozent des Territoriums von Jarmuk unter ihre Kontrolle gebracht. Hilfe zur Eroberung des ehemaligen palästinensischen Flüchtlingslagers soll der IS von der ebenfalls islamistischen Al-Nusra-Front erhalten haben. Würde sich dies bestätigen, bekäme der Kampf in Syrien eine neue Dimension. In der Vergangenheit waren der IS und Al-Nusra mehr Feind als Freund.

Der IS greift um sich

Bereits seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien vor vier Jahren war Jarmuk immer wieder Schauplatz heftiger Kämpfe. Der Bezirk gilt als Tor zur Hauptstadt Damaskus. Von einst etwa 160.000 Menschen leben heute nur noch 18.000 Menschen in dem Stadtteil, darunter 3500 Kinder. Die Mehrheit der Einwohner von Jarmuk war im Dezember 2012 geflohen, nachdem sie wochenlang eingeschlossen waren und durch Unterernährung zu verhungern drohten. Damals waren es die syrische Armee und mit ihnen verbündete Regierungstruppen, die eine Belagerung Jarmuks aufrechthielten und die Einwohner buchstäblich aushungerten. Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) und eine palästinensische Bürgerwehr übernahmen schließlich die Kontrolle des Bezirks. Man einigte sich mit den Regierungstruppen auf eine entmilitarisierte, zivil verwaltete Zone. Jarmuk wurde zum sogenannten "soft target", ein weiches Ziel für den IS.

Während die Terrorarmee im irakischen Tikrit eine Niederlage erleiden musste, legt sie also in Syrien zu. Nie zuvor war der IS so nahe an der Hauptstadt Damaskus wie jetzt. Der Übergriff auf Jarmuk kam nur wenige Tage, nachdem Iraks Premierminister Haidar al-Abadi die Rückeroberung von Saddam Husseins Heimatstadt Tikrit durch die irakische Armee verkündete. Doch alle Siege und Niederlagen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch zehn Monate nach Ausrufung des Kalifats der islamische Gottesstaat noch immer eine beträchtliche Fläche im Nordosten Syriens und Nordwesten Iraks aufweist. Verliert die Terrormiliz an Boden im Irak, gewinnt sie in Syrien dazu und umgekehrt.

Die Beispiele Tikrit und Jarmuk sind bezeichnend. Wie ein Krake strecken die Gotteskrieger ihre glitschigen Beine auf der einen Seite aus, um sie auf der anderen einzuziehen. Längst sind ihre Bewegungen nicht mehr nur auf das Kernland Syrien und Irak beschränkt. Inzwischen gibt es Provinzen, die arabisch "Wilayat" genannt werden, in Libyen und auf dem Sinai in Ägypten. Es reicht aus, dass eine Dschihadistengruppe Abu Bakr al-Bagdadi die Treue schwört und der Schwur offiziell vom selbst ernannten Kalifen angenommen wird, um fortan dazuzugehören. Im Zuge dessen bekommt die Umbenennung von Isis - Islamischer Staat in Irak und Syrien - in nur mehr IS - Islamischer Staat - einen Sinn. "Der IS reagiert auf die sich ändernden Umstände", schreiben Analysten des Risikoanalyse-Unternehmens "Soufan Group" in New York. Sie sprechen inzwischen von einem "IS 2.0": Eine neue Phase sei erreicht, in der die Organisation sich darauf konzentriere, "nicht nur zusammenhängende Staaten" zu schaffen. Jüngster Zugang ist Boko Haram aus Nigeria, rund 4000 Kilometer vom IS in Syrien und Irak entfernt. Der islamistische Dschihadistenstaat greift jetzt nicht nur über Ländergrenzen hinweg, sondern auch über Kontinente.