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Emanzipierter und brutaler

Von Arian Faal

Politik

Die neue Generation der islamistischen Terroristen in Frankreich und Belgien unterscheidet sich von ihren Vorgängern. Eine Spurensuche.


Paris/Brüssel/Wien. Die Anschläge vom 13. November mit 129 Toten und mehr als 350 Verletzten in Paris werfen ein neues Licht auf das Wesen der aktuellen französischen und belgischen Dschihadisten-Generation, die sich laut Experten von bisherigen Terrorkreisen "emanzipieren" will.

Die "Wiener Zeitung" hat sich auf Spurensuche begeben und bei Experten nachgefragt. Erhöhte Skrupellosigkeit, die sofortige Bereitschaft, selbst zu sterben, fehlende Perspektiven und die Hoffnung, im "Projekt Islamischer Staat" eine neue Lebensaufgabe zu finden, leitet demnach die neuen Dschihadisten. Zusammenfassend kann man den Analysten zufolge sagen, dass die Mitglieder der jetzigen Terrorzellen in Brüssel und Paris wesentlich jünger, also durchschnittlich 17 bis 37 Jahre alt, schlechter gebildet und ahnungsloser in religiösen Fragen sind: Die Koranaffinität, mit der frühere extremistische Gruppen geprahlt haben, ist jedenfalls teilweise dahin. Nicht einmal die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten oder die Anzahl der Suren im Koran können manche IS-Mitglieder nennen. Heinz Gärnter, der Vorstand des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP), meint im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass diese neuen Dschihadisten sich von ihren Vorgängern abheben wollen. "Diese Leute grenzen sich durch noch größere Brutalität - Stichwort medial inszenierte Enthauptungen und die barbarische Zurschaustellung der Gräueltaten auf Facebook, Twitter und Co. - ab, um zumindest genauso viel Aufmerksamkeit zu erregen wie die ältere Generation", so der Experte.

Außerdem sei es gelungen, die Überwachungssysteme zu unterlaufen. Gärtner sieht auch die Nachrichtendienste vor eine schwierige neue Aufgabe gestellt. "Nach Al-Kaida hat man geglaubt, die kritische Infrastruktur sind Ministerien, Militäreinrichtungen und Politiker. Jetzt kommt man drauf, dass die wirkliche kritische Infrastruktur der Bürger ist."

"Schwierig zu klassifizieren"

"Diese neue Generation an Terroristen ist so vielfältig, dass es schwierig ist, sie zu klassifizieren. Aber wahrscheinlich sind die wenigsten religiös motiviert", sagt Gärtner. Allerdings gebe es eine umfassende Gehirnwäsche, die bei den meisten stattgefunden habe. Auf die Frage, wie man dem entgegentreten könne, meint Gärtner, dass die wirkungsvollste Methode die wäre, die IS-Ideologie zu bekämpfen und ihre Ressourcen auszutrocknen. "Das wird allerdings letztlich nur dann funktionieren, wenn der Islamische Staat seine falsche Anziehungskraft verloren hat", stellt er im selben Atemzug klar. Diese Anziehungskraft sei fatal, da sehr viele der Jugendlichen ihr verfallen. Das Alter der Terroristen sage viel darüber aus, dass da nicht rational, sondern auf Basis von Gehirnwäsche entschieden werde. Und in diesem Alter seien die jungen Menschen ohnehin sehr empfänglich für diese Dinge.

Warum aber sind Paris und Brüssel im Fokus? "Frankreich ist nach den USA der nächste Hauptfeind des IS und beteiligt sich auch an den internationalen Luftschlägen. Das erregt Aufmerksamkeit", sagt Gärtner. Außerdem habe das Land eine koloniale Vergangenheit und kann negativ dargestellt werden, etwa wegen seiner Taten in Algerien.

Belgien hingegen sieht er eher als Hinterland für Frankreich. Es sei "nicht das erste Ziel". Vor allem könne man aber dort leichter untertauchen, da es nicht so akribisch überwacht wurde. Jene Informationen, die bis jetzt über die Hintergründe der Täter von Paris bekannt sind, deuten auf starke Verbindungen nach Syrien hin - und auf eine Kooperation mit der belgischen Terror-Szene, wie auch andere Experten bestätigen: Die neue Terrorachse Paris-Brüssel sei eindeutig ein Aspekt, der Grund zur Annahme biete, dass die Anschlagserie in Frankreich sehr bald Nachahmungstäter in Europa finden werde, sagte Hugo Micheron, Dschihadismus-Forscher am Centre de Recherches Internationales (Ceri), das an der Elitehochschule Sciences Po angesiedelt ist. Für die Behörden sind diese jungen, von der IS-Herrschaft in Raqqa und Mossul inspirierten Extremisten offenbar eine größere Herausforderung als die Generation Al-Kaida. Die Al-Kaida-Operationen fanden zumeist in einer Stärke von ungefähr 20 Personen statt. Der neue Terroristenkern in Paris hingegen sei wesentlich kleiner, so Micheron. Dies erschwere die Ermittlungen, da auch zunehmend verschlüsselt kommuniziert werde. Al-Kaida übrigens versuche nun, sich selbst als so etwas wie die "kultivierte" und "pragmatischere" Dschihadismus-Strömung darzustellen.