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"Lieber tot als betteln"

Von Siobhan Geets

Politik
Der syrische Flüchtling Hamoud und zwei seiner Töchter vor derHerberge in der Saadnayel-Siedlung in der Bekaa-Ebene nahe der Beirut. 
© Geerts

Ein Fünftel der Menschen im Libanon sind Flüchtlinge. Es fehlt an Geld für Lebensmittel.


Es herrscht Weihnachtsstimmung in Beirut. Überall hängt beschauliche Beleuchtung, am Hauptplatz steht ein riesiger Plastikchristbaum, darunter werden echte Tannen verkauft. Keine fünfzig Meter weiter sieht man die ersten Flüchtlinge – junge Frauen, die um Geld betteln, Männer, die Krimskrams verkaufen. Beirut ist eine Stadt der Gegensätze.

Mehr als eine Million Flüchtlinge leben im Libanon – damit hat das 4,8-Millionen-Einwohner Land, das in etwa der Größe Tirols entspricht, gemessen an der Bevölkerung die meisten Menschen aufgenommen. Informelle Schätzungen gehen sogar von bis zu zwei Millionen Flüchtlingen im Land aus.

Offizielle Flüchtlingslager gibt es im Libanon keine. Die meisten Familien leben in den rund 2000 inoffiziellen Siedlungen in der Bekaa-Ebene. Gegen Geld oder Arbeit mieten sie Grund bei Bauern oder Gemeinden und stellen Zelte und kleine Barracken auf. Hamoud und Abir haben sich im Saadnayel-Settlement in der Bekaa-Ebene niedergelassen, keine Autostunde von Beirut entfernt. Gemeinsam mit 20 weiteren Familien leben sie in Verschlägen aus Ziegeln und Plastikplanen. Die beiden sind mit ihren fünf Kindern aus dem syrischen Homs geflohen, nachdem ihr Haus bombardiert wurde. "Wir dachten, wir würden am nächsten Tag zurückkehren", erinnert sich Abir. Das ist jetzt vier Jahre her. Auf die Frage, was sie am meisten vermissen, muss Hamoud nicht lange überlegen. "Die Sicherheit", sagt er. "Bei uns zu Hause war es sicherer als in Skandinavien. Wir schliefen bei unverschlossenen Türen."

Rund 230.000 libanesische Pfund (140 Euro) bezahlt die Familie monatlich für den Grund, auf dem ihr Zelt steht, mit einer Million (rund 600 Euro) ist sie mittlerweile verschuldet. In Syrien hat Hamoud als Bauarbeiter gearbeitet, hier im Libanon darf er nicht. Zudem ist er illegal im Land: Wie rund 60 Prozent der Syrer kann er es sich nicht leisten, alle sechs Monate 200 Dollar für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu bezahlen.

Die Familie lebt von der Food-Card des UN Welternährungsprogrammes (UN Word Food Programme/WFP). Die 21 Dollar, die monatlich pro Person überwiesen werden, reichen gerade einmal für 20 Tage. Abir kauft nur das Nötigste. Frisches Obst, Gemüse und Tierprodukte kann sich die Familie nicht leisten. Im Jänner musste das WFP das Guthaben pro Person von 27 Dollar auf die Hälfte kürzen, seit Herbst sind es zumindest wieder 21 Dollar. "Ich sah Männer weinen, weil sie kein Geld mehr auf der Karte hatten", erinnert sich Hamoud. Die Food-Card zu verlieren ist seine größte Angst. "Wenn das passiert", sagt er, "dann kehren wir zurück, Krieg hin oder her. Der Tod ist besser, als betteln zu müssen".

Die Familie würde gerne nach Europa, wegen der Kinder. Zwar besuchen sie hier die Schule, doch mangelt es an Perspektiven. "Noch sind sie jung und ich habe sie unter Kontrolle", sagt Hamoud, "aber ich weiß nicht, was sie tun werden, wenn sie groß sind".

Die Anspielung kommt nicht von irgendwo. Im Libanon ist die Terrorgefahr groß, erst vor wenigen Wochen starben in Beirut mehr als 40 Menschen durch einen Anschlag, zu dem sich der Islamische Staat (IS) bekannt hat. Jede Woche werden mutmaßliche Mitglieder des IS oder der al-Nusra-Front verhaftet. Das Verhältnis zwischen Syrern und Libanesen ist auch deshalb gespalten: Einerseits bringen die Flüchtlinge der libanesischen Lebensmittelindustrie Millionen Dollar im Jahr, andererseits werden Syrer im medialen Diskurs häufig mit Kriminalität und Terror in Verbindung gebracht. Zudem leidet die Wirtschaft des multikonfessionellen Landes am Syrienkonflikt: Zahlreiche Exportwege sind blockiert, Tourismus und Bauwirtschaft zurückgegangen. Das strapaziert die Geduld der Libanesen, die ohnehin schon in einem instabilen, von Kriegen und Konflikten geprägten Land leben. Viele Einheimische fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. In ihren Augen kümmert sie sich vor allem um eines: Die Syrer.

Am härtesten trifft es alleinstehende Frauen

Dabei leben auch sie unter widrigsten Bedingungen, am härtesten trifft es alleinstehende Frauen. Ein Dutzend von ihnen hat sich in einer Schule nahe der Flüchtlingssiedlung versammelt. Die meisten kommen aus Homs, nur drei haben noch einen Ehemann. Die Meisten von ihnen leben in Zelten, manche können sich eine kleine Wohnung leisten; eine lebt mit 14 Familienmitgliedern in einem Zimmer für 250 Dollar im Monat. Allen fehlt es an Geld für Heizen und Miete. Eine ältere Frau bedankt sich bei der Deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, weil sie so viele Flüchtlinge aufgenommen hat.

Rabia könnte man für sehr jung halten, doch auch sie hat bereits fünf Mädchen. In die Schule gehen sie, wie rund 100.000 syrische Kinder im Libanon, nicht, weil das Geld für den Schulbus fehlt. Rabias Jüngste bräuchte eigentlich Milch, doch das kann sie sich nicht leisten, genauso wenig wie die Million syrische Pfund (600 Euro) Miete im Jahr. Ihr Mann ist vor sieben Monaten in Syrien verschwunden. "Die Männer haben zumindest die Möglichkeit, tageweise am Bau zu arbeiten", sagt Adla aus Homs, "als alleinstehende Frau ist man völlig auf Spenden angewiesen". Ihr Sohn hat die Schule abgebrochen, um arbeiten zu gehen, zuerst in einem Supermarkt, dann am Bau. Legal ist das nicht, aber er verdient immerhin rund 30 Euro in der Woche, wenn er jeden Tag Arbeit hat. Ihr selbst bleibt nichts anderes übrig, als zu betteln.

Einige der Frauen haben Verwandte in Europa, manche haben um resettlement angesucht. Heuer haben 18 Staaten, darunter Australien, Belgien, Deutschland und Österreich, rund 12.600 Syrer aus dem Libanon geholt. Für 2016 gibt es noch keine Zusagen. Der Libanon droht, in Vergessenheit zu geraten.