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Auftakt zur Jagdsaison

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Verschärfung der Einwanderungspolitik zeigt bereits Wirkung - durch Schaffung permanenten Klimas der Angst.


Los Angeles. "Meld dich, wenn du was hörst. Und ich mach dasselbe, wenn mir was zu Ohren kommt. Okay?" Es ist erst sieben Uhr morgens, aber der Mann klingt, als hätte er die ganze Nacht durchgeredet. Die eine Hand hält das Telefon am Ohr, die andere hält den Kopf. Am Gehsteig vor ihm liegt mehr als eine Handvoll Marlboro Lights, die schon um diese Zeit dran glauben mussten. "Natürlich, natürlich. Hast du mit Alfonso gesprochen? Er ist draußen in Pomona untergekommen. Sie haben seine Adresse und er wollte nicht mehr in seinem Haus bleiben. Schöner Mist. Jetzt braucht er mindestens eine Stunde bis in die Arbeit."

Der Mann am Telefon ist Mitte Vierzig und stammt aus Acapulco, Mexiko, von wo er nach eigenen Angaben nach einem Streit mit einem Polizisten flüchten musste. Er ist frau- und kinderlos. Seit über zehn Jahren teilt er sich mit einem Freund eine Zweizimmer-Wohnung in einem Apartmenthaus am Rande von Glassell Park, einer bis heute zuvorderst von Mexikanern und Filipinos geprägten Nachbarschaft zwanzig Autominuten nordöstlich von Downtown Los Angeles. Bis heute besitzt er kein Auto, sondern fährt überall nur mit dem Fahrrad hin. "Gott sei Dank regnet’s sonst kaum", sagt er: "Und mit dem Rad ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie mich aufhalten, geringer."

Billig und diskret

Als er einzog, bildete das Viertel noch eines der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Hoheitsgebiete jener Latino-Straßengangs, die in den Achtzigern und Neunzigern nur so aus dem Boden schossen. Die von seinem morgendlichen Standort aus buchstäblich um die Ecke liegende Drew Street galt, wenn man nicht gerade drogensüchtig oder selber Gang-Mitglied war, bis weit in die Nullerjahre als absolute No-go-Area. Der Vorteil: Die Häuser und die Wohnungen in diesem Teil von LA waren spottbillig, und die Vermieter interessierten sich keinen Deut dafür, wer man war und woher man kam, wenn nur am jeweiligen Ersten des Monats das Geld stimmte.

Davon abgesehen, dass sich Glassell Park mittlerweile im Auge des seit ein paar Jahren über die Stadt der Engel hinweg fegenden Gentrifizierungsorkans befindet, gibt es neuerdings aber noch ein weiteres Problem. Eines, mit dem der Mann mit dem Telefon und seine Freunde, mit denen er jeden Tag mittlerweile mindestens einmal redet, nie und nimmer gerechnet hätte.

Wenn er spricht, kommt manchmal in jedem Satz das englische Wort für "Eis" gefühlte zehnmal vor. Und selbst wenn man des an der Westküste weit verbreiteten "Spanglish" nur rudimentär mächtig ist, versteht man allein an seiner Körpersprache, dass mit diesem "Eis" nicht zu spaßen ist. Spätestens seit dem 20. Jänner, dem Tag der Angelobung von Donald John Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, geht unter den geschätzt rund elf Millionen dort lebenden illegalen Einwanderern die ganz konkrete Furcht vor der Abschiebung um. Und von New York bis San Diego gibt es deshalb keine andere Buchstabenkombination, die diesen Menschen derzeit mehr Angst einjagt als ICE.

ICE, das steht für Immigration and Customs Enforcement. Die dem Innenministerium (Department of Homeland Security) unterstehende Abteilung der Bundesregierung in Washington D.C. ist hauptverantwortlich für das Aufspüren und die Abschiebung von sogenannten "Illegal Aliens" und galt schon bisher nicht als zimperlich. In den acht Jahren der Präsidentschaft von Barack Obama wurden 2,5 Millionen Leute aus den USA abgeschoben - mehr als unter jedem anderen Präsidenten vor ihm. (Zum Vergleich: Während der Amtszeit seines Vorgängers George W. Bush waren es nur zwei Millionen.) Die überwältigende Mehrheit davon hatte sich entweder eines oder gar mehrerer Verbrechen schuldig gemacht, oder war unmittelbar nach dem Grenzübertritt geschnappt und umgehend zurücktransportiert worden.

Die Immigrationspolitik des ersten afroamerikanischen Präsidenten der Geschichte stellte sich prinzipiell so klar wie pragmatisch dar: Jede/r, der oder die sich illegal in den USA aufhielt und wegen eines Gewaltverbrechens verurteilt wurde, durfte sich kaum Hoffnungen machen, zu bleiben. Wer sich dagegen nichts zuschulden kommen ließ, was einem Kapitalverbrechen ("Felony") im streng juristischen Sinn gleichkam, musste sich in der Regel mit wenigen Ausnahmen keine großen Sorgen machen. Auch wenn der Teufel wie immer in den Details lag - Stichwort Autorität der Bundesbehörden versus jener der jeweiligen lokalen Exekutive -, waren die Regeln relativ eindeutig: Nachdem nicht zuletzt die US-Agrarwirtschaft auf billige Arbeitskräfte aus Zentralamerika angewiesen ist, wurden illegale Einwanderer geduldet, solange sie sich an Recht und Gesetz hielten und auch sonst nicht weiter auffielen; was die überwältigende Mehrheit von ihnen genau aus diesem Grund bis heute tut.

Neuer Freibrief

Seit der Wahl des New Yorker Ex-Reality-TV-Stars zum Präsidenten ist trotzdem alles anders. Seit nämlicher haben die derzeit rund 20.000 ICE-Mitarbeiter, deren Standesvertretungen sich im Wahlkampf mit großer Mehrheit für ihn aussprachen und teils sogar politisch engagierten, de facto Carte Blanche. Nicht umsonst nannte der orange Mann im Weißen Haus das, was die (zivilen) Beamten derzeit treiben, erst vergangenen Donnerstag wörtlich "eine militärische Operation". Eine Operation, im Rahmen derer, im Gegensatz zur jüngeren Vergangenheit, keinerlei Unterschied mehr zwischen Einwanderern gemacht wird, die sich mit Ausnahme des illegalen Grenzübertritts beziehungsweise der Überschreitung ihrer Visas nie etwas zuschulden haben kommen lassen, und einer Minderheit von Kriminellen, deren Anteil im Pro-Kopf-Vergleich verschwindend gering ist. Um dem neuen Mandat zu genügen, soll ICE laut den diese Woche bekannt gewordenen Plänen von John Kelly, dem von Trump bestellten neuen Chef der Homeland Security, zudem 10.000 Mitarbeiter mehr bekommen.

Bereits jetzt offen zutage treten die Auswirkungen dieser harschen Gangart - allen voran in Kalifornien, dem mit 40 Millionen Bürgern größten Bundesstaat der insgesamt 325 Millionen Einwohner zählenden USA, der noch dazu direkt an der Grenze zu Mexiko liegt.

"Seit der Wahl von Trump - mit der, wie man nicht vergessen darf, niemand ernsthaft gerechnet hat - gibt es das Problem, dass viele unserer Kids plötzlich nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Die, die ich betreue, stecken zum Beispiel mitten in einer Ausbildung. Einer Ausbildung, von der sie nicht wissen, ob sie sie je fertig werden machen können. Von der Sorge um ihre Eltern ganz abgesehen", sagt Christopher P., der als sogenannter "Counselor" für zwei Colleges in Los Angeles County arbeitet und deshalb prinzipiell unter Verschwiegenheitspflicht steht. Der Job des Endvierzigers, eine Art Mischung aus Lebensberater und Erziehungspsychologe, besteht normalerweise darin, Studenten zu helfen, die gerade erst die Mittelschule abgeschlossen haben und noch nicht sicher sind, welchen Karriereweg sie einschlagen wollen.

Seit dem 8. November vergangenen Jahres hat sich P.s Aufgabenfeld massiv verschoben. Die, die ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen dieser Tage die meiste Arbeit bereiten, sind die sogenannten "Dreamers" ("Träumer"); ein Terminus, der sich aus einem erstmals 2001 präsentierten Gesetzesvorschlag speist (Development, Relief and Education for Alien Minors) und der angesichts des neuen Status quo wie ein Schlag ins Gesicht wirkt. Seit Anfang des Jahrhunderts haben amerikanische Bundespolitiker immer wieder versucht, ein besonderes Problem zu lösen: das jener Menschen, die, als sie illegal in die USA kamen, noch Kinder waren.

Unsicherheit und Panik

Seit 2012 sind die Angehörigen dieser Gruppe durch ein Programm namens Daca (Deferred Action for Childhood Arrivals) per Verordnung vor Deportation geschützt. Noch traut sich die Trump-Administration nicht, Daca aufzukündigen. Aber die unter Obama gepflegte Hoffnung, aus diesen Jugendlichen (die teilweise mittlerweile erwachsen sind), die nie eine andere Heimat kannten als die USA, mit allen Rechten und Pflichten ausgestattete Staatsbürger zu machen, ist jetzt definitiv auf die lange Bank geschoben, wenn nicht gar tot. Der Effekt ist schon jetzt verheerend. Nachdem die rund 750.000 Betroffenen - ausnahmslos unbescholtene Kids, die der Bundesregierung im guten Glauben an ihre bevorstehende Legalisierung ihre Daten wie die ihrer Eltern und Verwandten anvertrauten -, alle zwei Jahre um eine neuerliche Verlängerung ihrer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung ansuchen müssen, herrscht unter ihnen jetzt vage Unsicherheit bis offene Panik.

Von der Tatsache ganz abgesehen, dass die Sorge um den Vater und die Mutter mit jeder neuen Nachricht der mittlerweile in immer kürzeren Abständen stattfindenden ICE-Razzias in Kalifornien für zusätzlichen Stress sorgt. Eine bittere Ironie der Geschichte: Ausgerechnet jener Bundesstaat, in dem Hillary Clinton am Ende der Auszählung fast doppelt so viele Stimmen bekam wie Donald Trump, leidet jetzt am meisten unter den Auswirkungen der Jagd auf illegale Immigranten.

Aber so bitter, so logisch: Weil das, was Trump und die Seinen aufführen, im Grunde auf dem Mist eines einzigen Mannes gewachsen ist, der eben nicht aus einer Metropole wie LA, sondern aus der tiefsten Provinz stammt und nur einmal in seinem Leben, zum Jus-Studium, länger an der Ostküste vorbeischaute. Sein Name lautet Kris Kobach, ein extremer Rechtsausleger, der dem - von den Republikanern seit Jahrzehnten so absolut wie absolutistisch regierten (und ergo mittlerweile fast pleitegegangenen) - Bundesstaat Kansas als Secretary of State dient.

Während des Wahlkampfs war er es der, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeobachtet, Trumps plumpe Anti-Ausländer-Rhetorik mit jenen realpolitischen Blaupausen unterfütterte, die jetzt Stück für Stück in die Tat umgesetzt werden. Nur wegen der im Fall seiner Nominierung erwarteten Proteste - Kobach gilt in Immigrationsfragen als derart radikal, dass ihm die Demokraten im Kongress höchstwahrscheinlich mehr als einen Baum aufgestellt hätten (und einen zweiten Fall wie den des zurückgetretenen Arbeitsministers in spe Andy Puzder konnte die Administration nicht brauchen) - sah Trump am Ende davon ab, den 50-Jährigen an Stelle von Kelly zum Innenminister zu ernennen. Seitdem versuchen Kobachs Fürsprecher im Kongress - die allesamt unter massivem Druck der konservativen Anti-Einwanderungslobby stehen - einen Job für ihn im Weißen Haus zu (er)finden.

"Domino-Doktrin"

Um seine Sicht der Dinge zu beschreiben, bemühte Kobach in der Vergangenheit gern das Bild eines viel befahrenen Highways. Seine damit zusammenhängende Theorie, der "Domino-Doktrin" eines Henry Kissinger nicht ganz unähnlich, stellt sich so dar: Als Barack Obamas Leute für die Sicherheit der Straße zuständig waren, habe es nach Kobachs Meinung "kaum Verkehrskontrollen gegeben". Was dazu geführt habe, dass "immer mehr Leute immer schneller fuhren, weil sie keine Angst haben mussten, von der Highway Patrol erwischt und bestraft zu werden". Laut ihm habe diese Politik langfristig nicht nur mehr Unfälle zur Folge, sondern bilde darüber hinaus einen Anreiz für noch mehr ortsfremde Raser, die Regeln zu missachten.

Klingt gut, hat aber mit der Realität freilich ungefähr so viel zu tun wie die Berichterstattung von Fox News mit der Wahrheit. Was gestern wie heute freilich weder Kobach noch seinen Präsidenten anficht. Aktuellster Beleg dafür: Eine ICE-Aktion, die Mitte dieser Woche für großes Aufsehen in den sozialen Medien sorgte. Als am Mittwochabend ein aus San Francisco kommender Linienflieger am New Yorker Großflughafen JFK landete, wurden seine Passagiere von ICE-Agenten in Empfang genommen und genau auf ihre Identität hin kontrolliert.

Nachdem eine derartige Maßnahme auf einem Inlandsflug in höchstem Maße ungewöhnlich ist und die erst nach mehrmaliger Nachfrage veröffentlichte Begründung der Behörde so karg wie grob unglaubwürdig klang - angeblich war man auf der Suche nach einem nicht näher genannten "illegalen Kriminellen" -, trat der wahre Sinn der Aktion schnell zutage: Es geht, ganz der Kobach’schen/Trump’schen Doktrin entsprechend, schlicht darum, im ganzen Land ein Klima zu schaffen, in dem jeder illegale Einwanderer zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort der USA Angst davor haben muss, erwischt und abgeschoben zu werden - ob zu Lande, zu Wasser, oder eben in der Luft. Die Jagdsaison ist eröffnet.