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Abes Kalkül geht auf

Von WZ-Korrespondentin Sonja Blaschke

Politik

Chancen auf eine historische dritte Amtszeit als japanischer Premier sind größer denn je.


Tokio. Als der japanische Regierungschef Ende September Neuwahlen ankündigte, warfen ihm viele vor, damit schlicht seinen Hals aus der Schlinge ziehen zu wollen. Shinzo Abe, der in den fast fünf Jahren seiner zweiten Amtszeit geradezu unangreifbar schien, war im Sommer auf Zustimmungswerte von gerade 30 Prozent abgestürzt. Skandale um Vetternwirtschaft untergruben seine Glaubwürdigkeit. Erstmals schien es, als sei die Zeit des 63-Jährigen als Regierungschef gezählt. Und auch jetzt, nach dem klaren Wahlsieg der regierenden Liberaldemokraten (LDP) bei den Unterhauswahlen am Sonntag, ist Abes Position nicht mehr so stark, wie sie einmal war. Er profitiert jedoch weiter vom Vakuum auf Seite der Opposition und fehlenden starken Persönlichkeiten in der eigenen Partei.

Zweidrittelmehrheit im Unterhaus

Alles in allem ist Abes Strategie, über ein Jahr früher als nötig Neuwahlen anzusetzen und die Schwäche der Opposition zu nutzen, aufgegangen. Mit dem Sieg am Sonntag, die der konservativen Regierungskoalition erneut eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus sicherte, steigen Abes Chancen auf eine historische dritte Amtszeit ab dem kommenden Jahr. Bis 2021 im Amt, würde er zum am längsten regierenden Premierminister Japan werden. Außerdem rückt damit sein lang gehegtes Ziel, Japans pazifistische Verfassung zu reformieren, erneut in Reichweite. Wie viele Erzkonservative betrachtet er diese als ein von den Amerikanern aufgedrücktes Dokument der Schande, das geändert werden muss.

Mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlamentes für eine Revision könnte Abe ein nationales Referendum ansetzen. Er kündigte bereits an, bei dem Vorhaben auch die Kooperation mit Parteien in der Opposition zu suchen.

Ob er diesen Plan verfolgen kann, ohne sich wieder auf dünnes Eis zu bewegen, werden die nächsten Monate zeigen. Die ostasiatische Nation ist tief gespalten bei der Frage der Verfassung. Vor allem Artikel neun, in dem Japan für immer auf die Nutzung von Waffen zur Lösung von Konflikten verzichtet, möchten viele auf keinen Fall geändert sehen. In einer Umfrage der liberalen Zeitung "Asahi Shimbun" unter rund 1500 Japanern per Telefon, sagten 37 Prozent, dass sie Abes Vorschlag der Reform unterstützten. 40 Prozent waren dagegen. Der langjährige Japan-Kenner und Professor an der amerikanischen Columbia-Universität, Gerald Curtis, glaubt, dass die pragmatische Seite Abes am Ende die Oberhand behalten wird. "Abe will zwar die Verfassungsänderung sehen (. . .), aber wenn er versucht, die Reform durchzudrücken, würde das das Parlament so verstopfen, dass kaum etwas anderes erledigt würde." Er glaube daher nicht, dass in den nächsten zwei Jahren viel passiere, sagte Curtis.

Während die letzten Stimmen noch ausgezählt werden, gewann der konservative Block 313 von 465 Sitzen. Weit abgeschlagen erzielten die beiden größten Oppositionsparteien zusammen gerade 105 Sitze. Abe konnte vom Chaos in der Opposition profitieren: Denn kurz vor der Wahl waren die Demokraten (DPJ), die bislang größte Oppositionspartei, auseinandergebrochen, als die Tokio-Gouverneurin Yuriko Koike eine neue Partei gründete. Konservative DPJ-Mitglieder wechselten ins Lager der Politikerin, die eher links und liberal Eingestellte jedoch ablehnte. Diese wiederum formierten sich hinter Yukio Edano zur Konstitutionell-Demokratischen Partei (CDP). Mit Erfolg: Sie stiegen zur zweitgrößten Partei auf, vor Koike.

Unzufriedenheit mit dem Regierungschef wächst

Die komfortable Mehrheit der Regierungskoalition täuscht darüber hinweg, dass sich immer mehr Unzufriedenheit in Japan mit dem Regierungschef breitmacht. Laut der gleichen Umfrage der Zeitung "Asahi Shimbun" am Dienstag und Mittwoch sagten 51 Prozent, dass sie nicht wollten, dass Abe weiter Premierminister bleibe. Abe scheint sich der umgeschlagenen Stimmung im Volk bewusst zu sein. Ungewohnt zurückhaltend äußerte sich der Regierungschef am Sonntagabend, als erste Ergebnisse herauskamen. "Ich muss mich diesem Sieg mit Bescheidenheit stellen", sagte der 63-Jährige.

Sogleich zückte Abe die Nordkorea-Karte und kündigte einen härteren Kurs gegenüber dem provokanten Nachbarn an. Schon vor den Wahlen hatte Abe, der als "Falke" gilt, vom Säbelrasseln zwischen Kim Jong-un und dem amerikanischen Präsidenten profitieren können. Seine Umfragewerte erholten sich wieder auf bis zu 50 Prozent. "Nordkorea hat der LDP geholfen, weil die Japaner Angst vor dem Atomwaffenprogramm haben", sagte Curtis. Die Wahlbeteiligung war mit 53,61 Prozent die zweitniedrigste - ein Ausdruck der Politikverdrossenheit der Japaner, die seit 1945 überwiegend von der LDP regiert wurden. Am Wahlsonntag suchte außerdem einer der stärksten Taifune seit Jahrzehnten weite Teile Japans heim.