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Richtungswahl im Irak

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Der Schuhwerfer von Bagdad kandidiert für das neue irakische Parlament.


Bagdad. Muntazer al-Zaidi sitzt auf dem Sofa seines Hauses in Zafarania. Er will die Seiten wechseln. International bekannt wurde Zaidi, als er am 14. Dezember 2008 bei einer Pressekonferenz im Palast des Premiers in Bagdad seine Schuhe auszog und sie in Richtung des damaligen US-Präsidenten George W. Bush warf mit den Worten: "Das ist ein Abschiedskuss, du Hund. Dies ist von den Witwen, Waisen und allen, die im Irak getötet worden sind." Bush ging in Deckung, der erste Schuh prallte hinter ihm an die Wand, den zweiten konnte Premier Nuri al-Maliki abfangen, ehe er Bush traf. Zehn Jahre später will der 39-jährige Journalist Zaidi in die Politik. Er kandidiert bei der Parlamentswahl diesen Samstag, die über die Zukunft des Irak entscheiden könnte.

Zafarania liegt im Südosten Bagdads, ist ein Arbeiterbezirk und mehrheitlich von Schiiten bewohnt. Hier wird das einzige Bier des Irak, Farida, gebraut. Als die religiösen Fundamentalisten nach dem US-Einmarsch 2003 im Irak auf dem Vormarsch waren, wurden vor der Brauerei alle Schilder abgenommen, die Eisentore fest verschlossen, der Direktverkauf eingestellt. Nur noch über Großhändler konnte der durchaus passable Gerstensaft erstanden werden. Alkohol ist für strenggläubige Muslime "haram", verboten.

Autobomben gehörten in Zafarania jahrelang zum Alltag. Jetzt ist es ruhiger geworden. Wie überall in Bagdad sind auch hier die Straßen voller Menschen, die Märkte gut besucht. Auch Zaidis Leben hat sich entspannt. Vor zwei Monaten kehrte er aus dem Exil im Libanon zurück, um sich nun für einen der 337 Parlamentssitze zu bewerben. Er steht auf der Liste von Sa’irun, einem Zusammenschluss von sechs völlig unterschiedlichen Parteien, der buntesten Mischung in der derzeit zerklüfteten und wild durcheinandergewirbelten politischen Landschaft im Irak, die im Umbruch ist.

Die religiöse Schiitenallianz ist zerbrochen, der kurdische Block zerbröselt, die Sunniten haben keine eigene Partei oder Allianz mehr und sind auf alle Listen verteilt. Sogar der jetzige Premier Haider al-Abadi und sein Vorgänger Maliki, einst Parteifreunde, kandidieren nun auf verschiedenen Listen. Die Tendenz: Abkehr von der Religion, hin zu Säkularität und Liberalität und vor allem weg vom Proporz, der von US-Administrator Paul Bremer eingeführt wurde und den Irak bisher politisch dominiert hat.

Einfluss des Iran könnteeinen Dämpfer bekommen

Sollte das Wählerverhalten tatsächlich dem zu beobachtenden Trend entsprechen, wäre dies ein Votum gegen die Machtverteilung entlang ethnischer und religiöser Linien, ein Novum für den Irak. Der Schuhwerfer von Bagdad hätte dann eine reelle Chance, Abgeordneter zu werden, und der Einfluss des Iran im Irak bekäme einen erheblichen Dämpfer, da er sich auf die religiös dominierten Parteien begründet.

Seine Aktion vor zehn Jahren sei nicht spontan gewesen, erzählt Zaidi: "Ich habe sie geplant." Er sei von Anfang an ein Befürworter des Widerstands gegen die US-Besatzung gewesen, habe schon damals mit Muktada al-Sadr sympathisiert, dem schiitischen Rebellen und heutigen Graswurzelpolitiker. Sadr ist das tragende Element der Sa’irun-
Allianz, für die Zaidi in den Wahlkampf zieht. Er ist eine der schillerndsten Figuren im Irak der Post-Saddam-Ära. Als Zaidi den Schuh auf Bush warf, tobte Sadrs Mahdi-Miliz durchs Land mit brutalen Todesschwadronen, die sowohl die US-Soldaten ins Visier nahmen als auch die irakische Elite, die ausradiert werden sollte, um Platz zu schaffen für schiitische Nachrücker.

Sadr machte die "Drecksarbeit" für den Regimewechsel im Irak. Da vor allem Sunniten unter Saddam Hussein in Toppositionen waren, muteten seine Aktionen sektiererisch an. Doch dagegen verwahrt er sich bis heute strikt: Er verstehe sich eher als ein Robin Hood, der die Unterdrückten und Vernachlässigten rächen wolle. Premier Maliki legte sich mit Sadr an, führte Krieg gegen die Mahdi-Armee in Basra, und Zaidi landete im Gefängnis. Drei Tage lang wurde er gefoltert, weil niemand ihm glauben wollte, dass er alleine gehandelt habe.

Zweimalige Flucht des Schuhwerfers ins Exil

Als Zaidi nach neun Monaten frei kam, hatte sich sein TV-Sender Al Bagdadia auf Druck der Regierung, die die Pressefreiheit massiv einschränkte, von ihm distanziert. Zaidi ging ins Ausland: Ägypten, Türkei, Deutschland, Schweiz, Österreich. Als er 2011 nach Bagdad zurückkehrte, war Maliki noch immer Premier, und die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten spitzten sich zu. Bei einer Demo gegen die Regierung wurde Zaidi erneut verhaftet, nach drei Tagen wieder frei gelassen. Eine Morddrohung trieb ihn dann endgültig ins Exil. Er ging nach Beirut.

"Ich habe über die Missstände im Land als Journalist berichtet, nun will ich sie als Politiker ändern", sagt der nunmehrige Parlamentskandidat. Der Kampf gegen Korruption steht ganz oben auf seiner Agenda. Nach dem Sieg über den IS ist dies ohnehin das vorherrschende Thema des gesamten Wahlkampfes. Fast jede Partei, Gruppe oder Allianz wirbt damit, Sa’irun wirkt dabei allerdings am glaubhaftesten. Zusammen mit der Kommunistischen Partei und einigen NGOs haben Sadrs Anhänger in den vergangenen zwei Jahren regelmäßig bei Freitagsdemos am Tahrir-Platz von Premier Abadi Maßnahmen gegen die grassierende Korruption gefordert. So ist die Allianz einer einst religiös geprägten Bewegung mit den Kommunisten zwar verblüffend, leitet sich aber vom gemeinsamen Ziel ab.

Für die Kommunisten ist es eine Überlebenschance. "Muktada hat sich von Grund auf erneuert", sagt Zaidi zum Einwand, dass Sadrs drei Minister in der Regierung ebenfalls der Korruption bezichtigt wurden. Er habe sich von ihnen getrennt, die Partei komplett aufgelöst und neu aufgestellt. Ein wenig erinnert die Vorgehensweise an Emmanuel Macron in Frankreich. Zufall oder Absicht? "Sa’irun" heißt übersetzt "en marche".