Zum Hauptinhalt springen

Über die unklare Weiblichkeit des Seins

Von Michael Schmid

Politik

Die Grünen Frauen Wien haben einen Beschluss gefasst, dass eine Frau ist, wer sich so nennt. Auch Männer.


Groß war die Aufregung im vergangenen Sommer bei Teilen der Wiener Grünen und der LGBTIQ-Community (lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexual, queer). Was war geschehen? Faika El-Nagashi, grüne Nationalratsabgeordnete aus Wien, hatte in Interviews die Auffassung vertreten, dass es zwei biologische Geschlechter gebe, und sich skeptisch gegenüber neuen Gesetzen gezeigt, die allein durch Selbsterklärung die Änderung des rechtlichen Geschlechts ermöglichen.

Worum geht es? Seit einigen Jahren wird - vor allem im liberal-akademisch sozialwissenschaftlichen Bereich - die Debatte geführt, dass Geschlecht als soziales Konstrukt zu verstehen sei, das in Interaktion mit anderen entstünde. Geschlecht werde durch Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung hergestellt. Daher sollten die Menschen ihr Geschlecht selbst definieren können. Diese Diskussion hat mittlerweile von der universitären auf die politische Ebene übergegriffen. Die Parlamente Kanadas, Spaniens und Schottlands haben bereits sogenannte Selbstbestimmungsgesetze verabschiedet. In Deutschland befindet sich eine Vorlage in der Begutachtung. Deren Kernpunkt: Jede Person kann ungeachtet ihrer biologischen Merkmale ihr Geschlecht vor der Behörde selbst definieren und eintragen lassen. Ab dem 14. Lebensjahr.

Männer auf Frauenplätzen

Bei den Wiener Grünen zirkuliert seit dem vorigen Jahr ein Papier, demzufolge die geschlechtliche Selbstbestimmung in der Partei künftig selbstverständlich sein soll. Was auf den ersten Blick harmlos aussieht, kann für die Partei allerdings noch gehörige Sprengkraft entfalten. Einer der sechs Grundsätze der Partei lautet feministisch. Bis dato gibt es klare Quotenregelungen. Auch ein eigenes Frauenvotum für Landesversammlungen ist vorgesehen. Doch wenn künftig die Selbstdefinition des Geschlechts das Sein bestimmt, dann können biologische Männer auf Frauenplätze gewählt werden.

Seit Jahrzehnten treten die grünen Frauen für die Gleichberechtigung im Beruf ein, thematisieren die Einkommensschere zwischen Männern und Frauen, fordern eine bessere Aufteilung und Bezahlung der Sorgearbeit. Ganz wichtig sind ihnen die "Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen und Verhütungsmittel" sowie die "sichere und langfristige Ausfinanzierung von Gewaltschutz und Gewaltprävention", wie es auf der Website heißt. Mit etlichen dieser für Frauen zentralen Themen sind Männer zeit ihres Lebens nicht oder kaum befasst. Dennoch sollen sie künftig, sofern sie sich als Frauen definieren, diese Fragen mitbestimmen. Kein Wunder, dass sich Widerstand regt. Oksana Stavrou, studierte Juristin, erfolgreiche grüne Unternehmerin und stellvertretende Obfrau der Wirtschaftskammer Ottakring, hat klare Vorstellungen zum Thema. "Transfrauen sind keine Frauen. Sie haben unterschiedliche körperliche Themen, unterschiedliche gesellschaftliche Prägung, Lebensrealität, Problemstellungen und Zielsetzungen. Interessen der Transfrauen sind nicht Interessen der Frauen."

Wie Faika El-Nagashi betont Stavrou, dass sie großen Respekt vor Transpersonen habe, "die sich trauen, ihr Leiden anzusprechen und verändern zu wollen". Sie begegne "Transpersonen als ebenbürtigen Mitbürgerinnen gerne in anderen Kontexten", aber nicht in der Frauenorganisation. Doch ganz so einfach scheint es nicht. Faika El-Nagashi war und und ist wegen ihrer Position massiven Angriffen aus den eigenen Reihen ausgesetzt. So wurde sie erst "gebeten, ihre öffentliche Kommunikation dazu einzustellen", wie es in einer internen grünen Mitteilung heißt. Als dies nichts fruchtete, unterzeichneten die grüne Nationalrätin Ewa Ernst-Dziedzic und Katharina Schöll, Sprecherin der Teilorganistion Grüne Andersrum, ein Positionspapier der Homosexuellen Initiative Wien gegen die "eindeutig transfeindlichen Äußerungen der grünen Nationalratsabgeordneten Faika El-Nagashi". Zugleich begrüßten die Unterzeichnerinnen den Rausschmiss El-Nagashis aus der European Lesbian Conference, in deren Vorstand sie gesessen war.

Eine einheitliche Meinung gibt es bei dieser Frage in der lesbischen Community jedoch nicht. Claudia Bergermayer vom Autonomen FrauenLesbenMigrantinnenZentrum (FZ) sieht die aktuelle Transgender-Debatte durchaus kritisch. Geschützte Räume für Frauen seien nicht nur wegen männlicher Gewalt gegen Frauen unerlässlich, "weibliche Lebensrealitäten und -geschichten sind auch durch Sozialisation und Erfahrungen, die Frauen mit Sexismus und Diskriminierung machen, andere als die von Transpersonen". Bergermayer registriert in der Auseinandersetzung klare Tendenzen, Frauen in die alte Rolle der Fürsorgerinnen zu drängen, die eigene Bedürfnisse zurückstecken sollen. Das spiegle sich im Öffnen von Frauenräumen wie im Aufgeben von Frauenquoten wider.

"Sehr kleine Minorität"

Recht kühl beurteilt die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Bettina Reiter den steigenden Wunsch nach Selbstdefinition des Geschlechts. Sie betrachtet das als Thema einer sehr kleinen Minorität. Zahlen der Sozialversicherung scheinen Bettina Reiter recht zu geben. Im Jahre 2017 wurden in Österreich 172 Personen mit Geschlechtsdysphorie, also dem Gefühl, im falschen Geschlecht zu leben, operativ behandelt. Bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 8,8 Millionen Menschen.

Reiter stellt zudem deutliche Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen fest. Während es bei Teenagern eine riesige Welle von Genderdysphorie gibt, die die Vermutung der sozialen Ansteckung nahelegt und zu über 80 Prozent Mädchen betrifft, sind es im Erwachsenenalter vor allem Männer, die sich als Frauen definieren wollen. Bei diesen Männern, die keine Transition im klassischen Sinn anstreben, so konstatiert Reiter, stünde meist das Ausleben ihrer fetischistischen Sexualität im Vordergrund. 98 Prozent dieser Männer ließen sich auch nicht operieren.

Für Viktoria Spielmann, die Sprecherin der Grünen Frauen Wien, indes stehen Selbstbestimmung und Solidarität mit transgeschlechtlichen Personen im Mittelpunkt der politischen Überlegungen. "Wir Grünen setzen uns für Schutzräume für trans* Menschen ein, denn ihre Situation ist besonders vulnerabel und die bereits bestehenden Angebote können diesen Schutz noch nicht vollumfänglich gewährleisten", so Spielmann. "Wir wollen den Frauenbegriff erweitern", so Spielmann. Daher wurde im Februar 2023 mit Valerie Lenk erstmals auch eine Transperson in den Vorstand der Grünen Frauen Wien gewählt. In der Debatte um geschlechtliche Selbstbestimmung wies Lenk - vor ihrer Selbstdefinition als Frau Vater von vier Kindern und Risk Manager der Hypo Alpe Adria - auf die Verfolgung hin, die Transsexuelle in aller Welt erlitten.

Unterschiedliche Realitäten

Das grüne Selbstbestimmungspapier sei ein wichtiges Zeichen. Die Vorlage wurde denn mit großer Mehrheit beschlossen. Am Ende der Debatte meldete sich eine der Frauen, die gegen das Papier gestimmt hatten, zu Wort. Mit einer Entschuldigung für ihre Emotionalität in der Diskussion. Sie sei vor etlichen Jahren bei einem Vergewaltigungsversuch von dem Angreifer mit einem Beil attackiert worden und bei diesem Überfall fast verblutet. Ihre Narben schmerzten noch immer. Betretenes Schweigen im Raum. Es gibt eben sehr unterschiedliche Lebensrealitäten von biologischen Frauen und Transfrauen. Auch bei den Grünen.