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Flexibel in die Armut

Von Bernd Vasari

Politik

Jeder achte Beschäftigte arbeitet für einen Bruttostundenlohn unterhalb der Niedriglohngrenze - davon 78 Prozent Frauen.


Wien. "Prekäre Verhältnisse. Von der Ausnahmesituation zur Normalität". Unter diesem Titel findet heute, Dienstabend, eine Diskussionsrunde im Rahmen der "Wiener Vorlesungen" im Radiokulturhaus statt. Die beiden Soziologen Christoph Reinprecht und Ulrike Papouschek werden dabei Hubert Christian Ehalt Rede und Antwort stehen.

"Die Immobilienpreise, die Wohnkosten und die Energiekosten steigen. Die Zahl der Menschen, die in Armut und an der Armutsgrenze leben, wächst. Gleichzeitig wird die Zahl der Reichen und der Superreichen größer", sagt Ehalt. Zwischen diesen beiden Sachverhalten sieht der Universitätsprofessor einen Zusammenhang. Sie seien wesentlich auch Ausdruck einer Umverteilung. Denn Arbeit, die von den Kosten für soziale Wohlfahrt der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer befreit ist, kostet weniger. "Die sogenannten atypischen Beschäftigungen haben sich mittlerweile in der Rangordnung des Typischen etabliert."

Charakteristisch für atypische Beschäftigung sind etwa die Unterminierung von Kollektivvertragslöhnen und das Abwälzen von Sozialversicherungskosten auf die Beschäftigten. Darunter fallen die geringfügige Beschäftigung, freie Dienstnehmer, Kettenverträge und Leih- oder Zeitarbeit.

Ulrike Papouschek sieht eine Zunahme atypischer Beschäftigung seit den 1980er Jahren. Die Zahl Erwerbstätiger in atypischen Beschäftigungsformen habe seit geraumer Zeit auch in Österreich zugenommen, so die Soziologin. Ihr Anteil liegt laut Papouschek bei rund 31 Prozent, wenn Teilzeitarbeit zu atypischen Beschäftigungsformen gezählt wird. 78 Prozent davon sind Frauen.

Auch Jobs im Niedriglohnbereich seien häufiger geworden. Inzwischen arbeitet mehr als jeder achte Beschäftigte für einen Bruttostundenlohn unterhalb der Niedriglohngrenze. Zu den besonders gefährdeten Gruppen gehören vor allem Geringqualifizierte, Personen in niedrigen Berufsklassen und Frauen. Zudem zeigt eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo), dass Arbeitslose, die eine (Vollzeit-)Beschäftigung im Niedriglohnsektor finden, ein markant höheres Risiko aufweisen, wieder arbeitslos zu werden, als jene, die in höher bezahlte Jobs einsteigen. Typische Bereiche sind etwa Reinigung oder Gastgewerbe.

Neoliberaler, politischer Kampfbegriff

Dem Trend zur sogenannten Flexibilisierung kann die Soziologin wenig abgewinnen. Ursprünglich sei der Begriff mit Humanisierung der Erwerbsarbeit verbunden gewesen. Gegen die Starrheit der industriegesellschaftlichen Organisation. Gegen die Zumutungen der Fabrikdisziplin und der zeitlichen Fremdbestimmung. Und für die Selbstbestimmung der Lage der Arbeitszeit. Für die Anpassung der Arbeitszeit an Notwendigkeiten des Privatlebens. Für anregende Vielfalt von Tätigkeiten statt starrer Arbeitsteilung.

Inzwischen sei daraus aber ein neoliberaler, politischer Kampfbegriff geworden, kritisiert Papouschek. "Diese positiv besetzten Bedeutungen - Freiräume oder arbeitszeitlich mehr Wahlmöglichkeiten - schwingen noch mit, wenn heute von Flexibilisierung die Rede ist. Tatsächlich geht es aber längst nicht mehr darum", sagt sie. Im Kern würde es sich bei Flexibilisierung um das Abwälzen von Marktrisiken an die Beschäftigten und die Senkung der Arbeitskosten handeln. Und damit um eine Zunahme von Unsicherheit und sozialen Risiken.

Hubert Christian Ehalt stimmt der Soziologin zu: "Die atypischen Arbeitsverhältnisse produzieren die atomisierten, desintegrierten, flexiblen ,Massenteilchen‘-Menschen, wie sie sich der neoliberale Kapitalismus wünscht: rechtlos und abhängig, beliebig einsetzbar, austauschbar und gängelbar."

Die Arbeitgeber minimieren die Kosten für die soziale Sicherung der Mitarbeiter. Denen gehe es schlecht, trotz Arbeit, sagt Ehalt. "Sie rutschen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und anderen unvorhergesehenen Ereignissen in die Armut." Die sogenannte Armutsfalle sei keine Sondersituation mehr, sondern die "Sollbruchstelle" der neoliberalen Arbeitsmarkt-Ungerechtigkeit.

Kleine und mittlere Einkommen bezahlen Armenzuschüsse

Die Kosten, die aus den Zuschüssen für die Armen entstehen würden, kommen von den Steuerleistungen der Bezieher mittlerer und kleiner Einkommen. Die Profiteure eines Arbeitsmarktes sozial nicht gesicherter Arbeit würden sich hingegen ihrer Steuerleistungen entziehen, so Ehalt.

"Eine wachsende Niedriglohnzone und eine ständige Absenkung des Niveaus der sozialen Sicherheit und der Leistungen des Wohlfahrtsstaates gelten als State of the Art im globalen ,Standortwettbewerb‘. Dabei bleiben die Menschen mit ihren Ansprüchen und Rechten, mit ihrer Hoffnung auf Zukunft und Glück auf der Strecke."

Bei kaum einem anderen Thema passt die Floskel "Geschichte wiederholt sich" so gut wie hier. Ehalt: Die Zielsetzungen der Arbeiterbewegung, die Menschen zu bilden, ihnen Arbeit, Stolz und Respekt zu geben und sie zu Mitgliedern einer solidarischen Gemeinschaft zu machen, seien heute aktueller denn je.