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Die Selbstversorger von Hammarby

Von Lisa Arnold aus Stockholm

Politik
Vorbild aller Seestädte: Die schwedische Öko-Stadt Hammarby.
© Flickr, Arild

Die Stockholmer Seestadt gilt als Vorbild für die Seestädte dieser Welt - inklusiver Skipiste und nicht benutzbarem See.


Stockholm. Hammarby Sjöstad hat sich herausgeputzt. Die Sonne bricht durch die drei Tage alte Wolkendecke und beleuchtet die makellosen Häuserfronten. Auf dem gekräuselten Wasser schwingen die leuchtend roten Bojen hin und her. Trotzdem: Das Gefühl von Kälte wird man nicht los. Daran ist weniger das nordische Klima als die Ausstrahlung des puristischen Stadtviertels schuld. Die Gehsteige sind menschenleer, und statt kleiner Kinder kreischen nur die Möwen. Hier ist er also: Der ganze Stolz der Stockholmer Stadtregierung.

Als der Architekt und Stadtplaner Jan Inghe-Hagström am Anfang der 1990er Jahre von der umweltfreundlichen Seestadt Hammarby fantasierte, erklärten ihn die Stockholmer für verrückt. Damals vermied man es die Ufer rund um den Hammarby-See im Süden der schwedischen Hauptstadt zu betreten. Die Erwachsenen erinnern sich noch gut an die zwielichtigen Autowerkstätten, in denen man der Legende nach auch allerlei Opiate erwerben konnte, oder an die dürftig aus Brettern gezimmerten Hütten, in denen sich Obdachlose gegen die schwedische Kühle schützten. Wasser und Boden waren voll mit Schadstoffen.

Eine Seestadt-eigene Kläranlage

Ausgerechnet in dieser Altlast sah Hagström enormes Potenzial, genauer gesagt: das erste umweltfreundliche olympische Dorf. Mit diesem Trumpf bewarb sich Stockholm für die Sommerspiele 2004, die jedoch an Athen gehen und Griechenland neun Milliarden Euro kosten sollten. Den Bezirk rund um den Hammarby-See verwirklichte man trotzdem, und nach 20 Jahren Bauzeit soll er 2017 endlich fertig werden. Hammarby Sjöstad ist ein Teil des größten Städtebauprojekts der nordischen Länder.

Sechs Ziele definierte Hagström für den neuen Stadtteil. Seine Vision umfasste eine sinnvolle Landnutzung mit Grünflächen, die Zurückgewinnung von kontaminiertem Gebiet, effiziente öffentliche Verkehrsverbindungen, Häuser aus umweltfreundlichen Baustoffen, einen optimierten Energieverbrauch und ein innovatives Müll- und Abwassersystem. Letzteres wird auch das "Hammarby-Modell" genannt, wegen dem nicht nur chinesische Städteplaner regelmäßig zum Abschauen nach Schweden kommen. Müll wird - in Skandinavien selbstverständlich - getrennt, nach der Entsorgung unterirdisch eingesogen und mit einer Geschwindigkeit von sieben Kilometern pro Stunde zur Sammelstelle geschickt. Die Müllabfuhr ist damit überflüssig, wobei man die meisten Häuser im vermehrt autofreien Hammarby ohnehin nur per pedes erreicht.

Zwei nahe Kraftwerke verbrennen den Abfall zu Energie und Fernwärme, Biomüll erhält in Form von Treibstoff eine zweite Chance. Die Seestadt-eigene Kläranlage wandelt Abwasserreste in Düngemittel und Biogas um, das 120 Busse und eintausend Gasherde in Privatwohnungen versorgt. Sogar das gereinigte, 15 Grad warme Wasser trägt noch nutzbare Energie in sich, die die Fernwärme ebenfalls abschöpft. Andersherum nutzt man das Seewasser auch zur Fernkühlung. Dieses System der Selbstversorgung trägt dazu bei, dass der Umwelteinfluss der Haushalte in Hammarby der Hälfte von dem entspricht, was zu Baubeginn Standard war.

Yan Lenoble lebt mit Partnerin Kristina und dem gemeinsamen Sohn seit zwei Jahren in Hammarby. Sie fühlen sich wohl, sagt er. Weil es sicher ist und weil er nur eine halbe Stunde ins Stadtzentrum radelt, wo der gebürtige Nizzaer Französisch unterrichtet. Wenn er mal zu müde zum Sporteln ist, kann er auf eine der Fähren steigen, die zwischen Hammarby und dem Stockholmer Zentrum pendeln. Auch die 90 Quadratmeter große Vier-Zimmer-Wohnung mit einer Kaltmiete von umgerechnet 1300 Euro ist für Stockholm ein Schnäppchen. "Wohnungstausch", lautet Lenobles Antwort auf die Frage, wie man denn so ein Angebot bekommt. Denn in Stockholm wartet man als Normalsterblicher nicht selten 15 Jahre auf eine Gemeindewohnung.

In Hammarby vermietet die Stadt ein Drittel der Wohnungen, der restliche Großteil steht zum Verkauf. Doch wo man zu Beginn überwiegend Dinks erwartete - wohlhabende kinderlose Paare, auf Englisch "double income, no kids" -, beobachtet Hammarbys Finanzdirektor Olle Cyrén mit Freude, dass auch viele junge Eltern ihre Kinder in der Seestadt großziehen. Um Fluktuation vorzubeugen und die Bewohner zum Dableiben zu animieren, ließ der Architekt Mats Egelius private Kleingärten und Gewächshäuser zwischen den Häusern anlegen - so würden sich die Bewohner in der Gegend mit höherer Wahrscheinlichkeit verwurzeln.

300 Meter zu Wasser und Gärten

Insgesamt 25.000 Bewohner finden in dem puristischen Umfeld nun ihre neue Heimat, daneben gibt es 10.000 Arbeitsplätze. Damit liegt die Kapazität knapp unter der von Aspern in Wien. Doch an diesem sonnig-frischen Samstag sieht man nur wenige der nordischen Seestädter über den Kai joggen oder beim gut versteckten Greißler eine Felix-Gulaschsuppe einkaufen.

Auch Yan war vor dem Umzug nach Hammarby skeptisch: "Manchmal fühlte ich mich wie in einer Geisterstadt. Wenigstens sind im vergangenen Jahr neue Cafés und Geschäfte entstanden. Seitdem sieht man mehr Leute." Ob er es unter diesen Umständen schafft, seine Nachbarn kennenzulernen? Es geht, meint Yan Lenoble: Der grüne gemeinsame Innenhof und der kreative Spielplatz mit Booten und eingerichteten Häusern im Kindermaßstab, auf dem man statt Spielzeug nur "echte" Dinge findet, würden helfen. Seine schwedische Freundin geht auf die Frage nach dem Kontakt mit den Nachbarn nicht ein.

Doch es ist etwas anderes, das Lenoble und seinen kleinen Sohn im neuen Bezirk am meisten stört. Der Architekt Jan Inghe-Hagström legte bei seiner Planung der Seestadt Hammarby, die offiziell südlicher und nördlicher Hammarby-Hafen heißt und ihren volkstümlichen Namen vom Stadtmarketing erhielt, großen Wert darauf, dass keiner der Bewohner mehr als 300 Meter zu Wasser und Gärten gehen muss. Das Ergebnis ist ein von grünen Ecken durchdrungenes Gebiet mit der maritimen Atmosphäre, die man in der Inselstadt Stockholm immer wieder spürt. Nur: Baden darf man nicht, das Wasser sei zu schmutzig. "Das ist wirklich schade", findet Lenoble. "Das einzige Mal, dass ich jemanden im Wasser gesehen habe, war bei einem Junggesellenabschied."

In Wien ist diese Frage in Aspern noch nicht völlig geklärt, doch auch dort wird es, wenn überhaupt, nach dem Bauende nur eingeschränkten Badespaß geben. Das Manko macht die Seestadt mit einer anderen sportlichen Attraktion wett: Der Hausberg Hammarbybacken lädt nicht nur Einheimische zum Skifahren ein. Kommenden Februar misst sich dort die Skielite beim City-Event der Alpinen Skiweltmeisterschaft. Die geradlinige Architektur verleiht Hammarby eine harmonische Optik. "Konsequent im Größenverhältnis, variierend im Design", so lautete Hagströms Versprechen. Und das wurde eingehalten: Sechs- bis achtgeschossige Würfelhäuser in gedeckten Farben mit filigranen Glasbalkonen und hohen Fenstern spiegeln sich im ruhigen Wasser. Das Ergebnis findet auch unter schwedischen Architekten Bewunderung, die der Seestadt vor zehn Jahren den renommierten Kasper-Salin-Preis für herausragende Bauprojekte verliehen. Doch zwei Monate vor der Bekanntgabe war der Visionär Jan Inghe-Hagström gestorben - ohne die Ehrung, geschweige denn die wachsende Beliebtheit und den internationalen Ruhm seines einst so verrückten Projektes mitzuerleben.