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"Wir sind die Guten"

Von Adrian Engel

Politik

Sie kämpfen für Denkmalschutz, Garagen unter Parks und Bauprojekte auf Grünflächen. Vor der Gemeinderatswahl am 11. Oktober sind Wiens Bürgerinitiativen lauter denn je.


Wien. Elisabeth Wolkenstein sieht das Transparent an ihrem Gartenzaun an, als wäre es nicht von ihr. Der Regen hat den Graffiti-Schriftzug auf der blauen Gewebe-Plane mittlerweile ausgewaschen. "Weg mit der Gelben Linie" - die Botschaft der blassen Buchstaben ist noch erkennbar. Die Dame mit der violett-braunen Hornbrille wandert die Stufen ihres Gartens hoch.

"Das war schon ein eigenartiges Gefühl, das zu basteln. Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben eine Spraydose in der Hand", sagt Wolkenstein, als sie auf der Terrasse angekommen ist. Sie blickt Richtung Westen über die Dächer der Stadt. Hier am Abhang des Satzbergs in Penzing genießt sie ihre Pension. Nur wie lange noch? Vielleicht ziehen sie und ihr Mann bald weg. Die Gegend sei nicht mehr richtig für den späten Lebensabend. Denn zwei gelbe Linien an den Fahrbahnrändern verbieten das Halten und Parken vor dem Haus.

Vor zwei Jahren markierte die MA 46 nach einer neuen Verordnung die gesamte Ulmenstraße mit gelben Linien. Elisabeth Wolkenstein war stets politisch interessiert, aber engagiert hat sie sich nie. Und Aktionismus liegt ihr fern, doch nun war es so weit. Mit 67 Jahren ging sie zum ersten Mal auf die Straße. Im Juni gründete Elisabeth Wolkenstein mit anderen Anrainern eine Bürgerinitiative. Im Juli marschierten 100 Bewohner bei einer Demonstration in der Straße auf. Auch an den anderen Zäunen in der Straße hängen Transparente. "Gelbe Linie? Nein danke!", "Schluss mit der Schikane". Verboten war das Parken und Halten in der Ulmenstraße schon immer, aber es wurde ohne die gelben Linien nie geahndet. Zurzeit parken alle Bewohner ohne Garage in den verzweigten Seitenstraßen. Auch dort ist Parken und Halten eigentlich nicht erlaubt - aber es gibt keine Verbotsmarkierung. Elisabeth Wolkenstein und ihr Mann müssen bis zu ihrem Auto 30 Meter ums Eck gehen. Solange die Seitenstraßen nicht auch gelb markiert werden, hält sich der Schaden eigentlich stark in Grenzen. "Es geht uns vor allem ums Prinzip", gibt Elisabeth Wolkenstein nach vielen verärgerten Beweisführungen zu.

Sie fühlensich übergangen

Das "Drüberfahren" der rot-grünen Regierung ist es, was die Nachbarschaft in der Ulmenstraße so wütend macht. Damit stehen sie nicht allein da. Um die 100 Bürgerinitiativen dürfte es in Wien geben. Die Bezeichnung "Bürgerinitiative" ist an keine Organisationsform gebunden. Es sind oftmals lose Gruppen von Leuten, die sich gegen eine Entscheidung der Politik zusammenschließen. Und daher gibt es keine offizielle Zählung. Die meisten Initiativen kämpfen gegen den Bau von Hochhäusern, den Abriss historischer Gebäude und Tiefgaragen unter Parks. Alle eint das Gefühl, dass die Stadtregierung bei diesen Bauprojekten den Bürgerwillen übergeht. Bürgerinitiativen kämpfen gegen politische Willkür.

Stuttgart 21 alsVorbild für die Wiener

Hauptsächlich sind es ältere, konservative und wohlhabende Leute, die sich in Bürgerinitiativen engagieren. Vor der Gemeinderatswahl mobilisieren sie wieder ihre eigenen Aktionen. Die Bürgerinitiative in der Ulmenstraße hat sich sogar anlässlich der Wahl gegründet. "Wir dachten uns, wenn wir etwas unternehmen, dann müssen wir das vor der Wahl tun, weil man da am ehesten etwas bewirken kann", erklärt Elisabeth Wolkenstein. Und am 24. September veranstalten einige Wiener Bürgerinitiativen eine große Demonstration am Ring. Die Wutbürger feiern ihr Comeback.

Vor fünf Jahren definierte die deutschsprachige Medienwelt eine neue politische Bewegung. Tausende Stuttgarter Bürger protestierten hartnäckig gegen ein Umbauprojekt (Stuttgart 21) des Stuttgarter Bahnhofs. Es war vorrangig traditionelle Bildungsbürger, die empört den Schlossgarten besetzten und mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray von der Polizei vertrieben wurden. Auch in Wien gab und gibt es vergleichbare Proteste. Schon 2007 besetzten bürgerliche Aktivisten den Augartenspitz. "Wir haben ein Jahr vor Stuttgart 21 sogar ein Buch rausgebracht, in dem alle Wiener Bürgerinitiativen aufgelistet und erklärt werden", erzählt Herta Wessely stolz. Sie ist die Grande Dame der Wiener Bürgerinitiativen. Die 75-Jährige steht in braunem Langarmkleid in einem kleinen Park in Margareten. Sie erzählt vom "Zorn", den sie bekommt, wenn sie an Michael Häupls "populistische" Volksbefragung vor fünf Jahren denkt und von den wenigen vorhandenen Bürgerbeteiligungsangeboten. Und der parteipolitischen Bedeutungslosigkeit von Petitionen, die sie "besonders aufregt".

Und die Stadtgab nach

Hinter Herta Wessely steht das denkmalgeschützte Palais, in dem sie wohnt. Hier erwachte vor 25 Jahren ihr politischer Geist. Ein Abschnitt des Parks sollte teilweise zugebaut werden. Im Gegensatz zu früher hatte Wessely genügend Zeit, um sich zu engagieren. Ihre vier Kinder waren gerade alle von zu Hause ausgezogen. Sie setzte sich mit einem Stuhl vor das Eingangstor und sammelte zwei Monate lang Unterschriften. Mit Erfolg, die Stadt gab nach. Herta Wessely stellte fest, dass man als einfacher Bürger mit Mut und Hartnäckigkeit etwas durchsetzen kann. Deshalb machte sie weiter. "Bürger wissen es manchmal einfach besser", sagt sie. Anfang 2004 gründete Herta Wessely mit anderen Anrainern im 5. Bezirk die Bürgerinitiative "Bacherpark ohne Tiefgarage". Die bunt zusammengewürfelte Gruppe wollte verhindern, dass die Stadt unter dem betonierten Park im dichtest besiedelten Wiener Bezirk eine Tiefgarage baut. "Der Bezirksvorsteher pflanzte sich vor mir auf und sagte: Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Schluss. Aus. Basta", erzählt Herta Wessely. Gemeinsam mit linken Studenten und traditionalistischen Pensionisten stellte sie im Winter 2006 Zelte im Park auf und campierte dort. Und wieder gab die Stadt nach.

2008 gründete Herta Wessely die Aktion21. Auf der Online-Plattform können sich Bürgerinitiativen vernetzen und einander unterstützen. "Im Gegensatz zu uns haben Bürgerinitiativen heute Vorbilder. Sie treten selbstbewusster auf", erklärt Herta Wessely. Für Interessierte ist die erste Anlaufstelle Herta Wesselys Wohnzimmer. Am Tisch neben ihrer Bücherwand, vor Werken, die sich mit dem römischen Weltreich und Fürst Metternichs Rolle am Wiener Kongress beschäftigen, erklärt sie den Frischlingen, "was zu tun ist". Sie bespricht mit den Aktivisten die ersten Schritte. "Flyer austeilen, ein erstes Treffen einberufen, Rollen verteilen." 40 aktive Bürgerinitiativen sind zurzeit Teil der Aktion21. Durch ihre jahrzehntelange Erfahrung ist Herta Wesselys Wohnzimmer mittlerweile zu einem Sammelbecken für Protest-willige Bürger geworden. "Nicht selten sagen die Grünen: Geht zur Aktion21", sagt Herta Wessely. Den umgekehrten Weg hat sie nie in Erwägung gezogen. Ein Engagement in einer Partei kommt für sie nicht in Frage. "Ich habe den Eindruck, dass man mehr bewegen kann, wenn man in keiner Partei ist."

"Wir haben dievernünftigen Argumente"

Die größte Initiative der Aktion21 ist die "Initiative Steinhof". "Wir haben für drei Petitionen insgesamt über 85.000 Unterschriften gesammelt", erzählen Carola Röhrich und Gerhard Hadinger. Auch sie versuchen, vor der Wahl ihre Initiative "wieder warmlaufen zu lassen". Ihr derzeitiges Ziel: Unesco-Weltkulturerbe-Status für das gesamte Areal des Otto-Wagner-Spitals. Die Pressesprecherin und der Obmann der "Initiative Steinhof" stehen vor einem verfallenen Pavillon im Osten des Klinik-Geländes in Penzing. Aus dem Dach des zweistöckigen Ziegelhauses wächst Gras, vor dem Eingangstor steht ein marodes Baugerüst, die Vorderfassade umrahmt ein Bauzaun. Hier steht eines der größten Leiden von Carola Röhrich und Gerhard Hadinger. 2006 widmeten SPÖ, ÖVP und FPÖ das bis dahin für öffentliche Zwecke gewidmete Areal um. Von da an konnte es bebaut werden. Der stadtnahe Bauträger Gesiba will Anfang 2016 im Osten des heutigen sozial-medizinischen Zentrums 200 Wohnungen bauen. Aufgrund des Spitalskonzeptes der Stadt Wien wird das Otto-Wagner-Spital bis 2025 geschlossen und die jeweiligen Abteilungen werden sukzessive abgesiedelt. Die leerstehenden Pavillons sollen dann für andere Zwecke genützt werden - wofür genau, gibt die Stadt zurzeit nicht bekannt. "Wir vermuten, dass Pavillon 8 seit Jahren absichtlich zerfällt. Man kann den Verkehr zu den Wohnungen nur vernünftig hinleiten, indem man ihn durchbricht. Er wird so lange verlassen stehen gelassen, bis der Denkmalschutz verfällt", sagt Gerhard Hadinger.

Gegenüber des Pavillons steht seit 2013 bereits eine Rehaklinik des privaten Betreibers Vamed. Auf dem Föhrenwald davor sollen die Wohnungen der Gesiba errichtet werden. Angrenzend an die derzeitige Pathologie des Otto-Wagner-Spitals. Während des NS-Regimes lagerten dort Gehirne gefolterter Kinder. Nationalsozialistische Ärzte führten damals am Spitalsgelände in einer "Jugendfürsorgeanstalt" perfide Experimente mit geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen durch. Mindestens 789 Kinder und Jugendliche kamen "Am Spiegelgrund" ums Leben. "Und neben einem solchen tragischen Ort sollen bald Leute wohnen - als wäre nichts gewesen?", fragt Carola Röhrich aufgeregt. Für sie ist klar: "Wir haben die vernünftigen Argumente. Wir sind die Guten."

Sie und Gerhard Hadinger kennen das Gelände des Otto-Wagner-Spitals wie ihre eigene Westentasche. Die pensionierte Bank-Angestellte und der Maschinenbautechniker wohnen beide in der Nähe. Seit Jahren kommen sie zum Spazieren bzw. Mountainbiken hierher.

Was, wenndie Wut verblasst?

Es ist meist die persönliche Betroffenheit, die Leute dazu bewegt, eine Bürgerinitiative zu gründen, erklärt Herta Wessely. "Diese Leute brennen. Sie haben das Gefühl, dass ihr Wohl den Parteien nicht mehr das Wichtigste ist."

Doch ist die Initiative vorbei oder abgeschlossen, stoben in den meisten nur mehr Funken. Endet der politische Wille der Wutbürger also hinter dem eigenen Kosmos rund um die norwegischen Designer-Möbeln im Wohnzimmer und den Apfeltomaten-Stecklingen im Vorgarten-Beet? Bürgerinitiativen Mutter Herta Wessely macht sich da keine Illusionen: "Es gibt ganz wenige, deren Engagement nach der Initiative anhält."