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Eden im Armenviertel

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen
Der Garten von Manguinhos in Rio ist eine Oase inmitten der Betonwüste.
© Ian Cheibub

Ein Gemeinschaftsgarten in einer Favela von Rio zeigt, wie Metropolen grüner und sozialer werden können.


Rose Rodrigues und Roberto Nascimento schieben ihre Scheibtruhe durch die feuchten Gassen der Favela, sie kommen über vermüllte Plätze und passieren eine Gruppe junger Männer, die mit Gewehren an einem Tisch voller Kokain und Marihuana stehen. In der Scheibtruhe von Rodrigues und Nascimento leuchtet es hingegen grün und frisch. Sie rufen: "Lebensmittelspende! Gesundes Essen aus dem Gemeinschaftsgarten." Immer wieder bleiben Passanten stehen, um Rucola, Kohl, Spinat, Melanzani und Okraschoten in Empfang zu nehmen.

Rodrigues und Nascimento stammen aus der Favela Manguinhos in Rio de Janeiros Nordzone, und wie jeden Mittwochmorgen verteilen sie heute die Erträge aus dem Gemeinschaftsgarten des Armenviertels. Viele Bewohner wirken bei der Annahme der Spenden etwas schüchtern. "Die Leute sind bescheiden, sie schämen sich, wenn sie etwa gratis bekommen", erklärt Rodrigues. "Aber es gibt auch viele, die Salat nicht mögen", wendet Roberto Nascimento ein. "Sie essen lieber Pommes."

Schillernde Grüntöne

Rund 40.000 Menschen leben in Manguinhos, es ist eine der größten Favelas von Rio de Janeiro und wird wie die meisten von einem Drogenkommando beherrscht. Bereits beim Betreten passiert man Barrikaden aus einbetonierten alten Eisenbahnschienen, die die Drogengang errichtet hat. Dann geht es an einem stinkenden Abwasserkanal vorbei. Umso überraschter ist man dann, wenn man den Gemeinschaftsgarten von Manguinhos erreicht. Er wirkt wie eine Oase inmitten einer Wüste aus Beton, Zement und Ziegeln, präsentiert sich in schillernden Grüntönen. Dunst steigt in der Morgensonne aus den Beeten auf.

Der Gemeinschaftsgarten von Manguinhos gilt als der größte innerstädtische Gemüsegarten Südamerikas. Er existiert seit 2013 und umfasst zwei längliche Terrains, die die Größe von vier Fußballfeldern haben und genau unter einer Hochspannungsleitung verlaufen. "Früher war dies der schlimmste Ort des Viertels", erinnert sich Erivaldo Lira. Der klein gewachsene Mann mit Bäuchlein und Schnauzer ist seit 16 Jahren Präsident der Einwohnervereinigung von Manguinhos. "Die Leute luden ihren Müll hier ab und es kamen Drogenabhängige, um Crack zu nehmen. Sie lebten unter schlimmen Bedingungen, es stank zum Himmel, es war gefährlich, es gab Ratten und Ungeziefer", erinnert er sich.

Die Stadtverwaltung von Rio de Janeiro entschied dann im Rahmen eines Programms mit dem Namen "Hortas Cariocas" (Gärten von Rio), genau dieses Terrain zu einem positiven Beispiel für urbanen Wandel zu machen. "Es gibt so viele ungenutzte Flächen in der Stadt, auf denen Lebensmittel angebaut werden könnten", erklärt der Agronom Júlio César Barros, der im Rathaus seit 2006 für das Programm "Hortas Cariocas" zuständig ist. Man könne durch urbane Gärten gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen, sagt er: verloren geglaubte Stadträume zurückgewinnen, Jobs schaffen, gesunde Lebensmittel produzieren und außerdem Erziehungsarbeit leisten.

Die Hälfte der rund 50 Gemüsegärten Rios wurde in Schulen angelegt, wo sie Lebensmittel für die Schüler hervorbringen und dem Unterricht dienen. Insgesamt produzieren die in dem Programm zusammengeschlossenen Gemeinschaftsgärten jeden Monat 82 Tonnen Bio-Lebensmittel. In der Corona-Krise wurde alles an Bedürftige gespendet.

Rund 350 Beete

Brasilien hat wie viele Schwellenländer zwei große Ernährungsprobleme: Auf der einen Seite können viele Menschen sich wegen den Folgen der Pandemie nicht mehr ausreichend ernähren. Auf der anderen Seite essen gerade die Armen oft ungesund: zu viel Fett, Zucker, Salz. Die Folgen sind Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck. "Die Menschen haben verlernt, zu kochen", sagt Rose Rodriques, während sie einige Kohlblätter verteilt. "Unsere häufigsten Abnehmer sind daher ältere Frauen, die noch wissen, wie das geht." Als die Scheibtruhe leer ist, kehren die 52-jährige Rodrigues und der 65-jährige Nascimento zurück zum Gemeinschaftsgarten. Rund 350 rechteckige Beete wurden hier angelegt, in denen alles wächst, was das subtropische Klima hergibt: Zucchini, Chicorée, Kohl, Maniok, Rote Rüben, Kürbisse, Bohnen, Erbsen, Tomaten, Bananen, Guaven, Papayas und Acerolakirschen.

Rose Rodrigues bei der Gartenarbeit.
© Ian Cheibub

Insgesamt 22 Menschen arbeiten im Garten von Manguinhos, 14 Frauen und acht Männer, die meisten sind schon etwas älter. "Es wurden Leute eingestellt, die wieder nach einer Aufgabe suchten", sagt Eviraldo Lira von der Einwohnervereinigung. Nach ihrer Anstellung wurden alle im Öko-Anbau geschult, denn es wird keine Agrarchemie verwendet - allein schon, weil es zu teuer wäre. "Wir setzen voll auf natürliche Mittel", sagt Marcos Dos Santos, der einen der beiden Gartenabschnitte leitet. So kompostiere man organische Abfälle und bekämpfe Schädlinge mit einer Mischung aus Seife und Kokos.

Jeder der 220 Gärtner, die insgesamt in Rio in dem Projekt arbeiten, erhält 500 Reais im Monat von der Stadt. Es sind weniger als 100 Euro, aber in Rio de Janeiro kein geringer Betrag. Außerdem dürfen sich alle Mitarbeiter mit so viel Gemüse und Früchten eindecken, wie sie wollen, es herrscht kein Mangel. Was übrig bleibt - es sind in Manguinhos im Durchschnitt zwei Tonnen Lebensmittel pro Monat -, wird in der Favela verteilt.

"Mein Leben hat sich durch den Garten komplett verändert", erzählt die 72-jährige Dione da Silva und legt ihre Hacke zur Seite. Ihre Familie war einst aus dem armen Nordosten Brasiliens nach Rio gekommen, sie arbeitete 20 Jahre lang als Putzfrau. "Mir tut die Arbeit mit den Pflanzen gut. Es ist wie eine Therapie", sagt sie. "Ich kehre damit zu meinen Wurzeln zurück, meine Familie stammt von einem Bauernhof."

Zurückgekehrte Fauna

Das Leben von Leonardo Ferreira hat der Garten wahrscheinlich gerettet. "Ich arbeitete für die Firma", sagt der 22-Jährige. Er meint das Rote Kommando, die Drogengang, der er sich mit 13 Jahren anschloss. "Aber ich habe den Absprung geschafft." Statt einer Pistole schwingt Ferreira heute den Gartenschlauch. Er sagt: "Ich hätte damals nie gedacht, dass ich mal als Gärtner tauge. Es macht mich glücklich, etwas zu pflanzen, es wachsen zu sehen und schließlich zu ernten."

Die Ernte als Lebensmittelspende für die Ärmsten.
© Ian Cheibub

Für Júlio César Barros von der Stadtverwaltung zählt die soziale Veränderung zu den größten Errungenschaften von "Hortas Cariocas". Das Programm ist so erfolgreich, dass es 2019 von der Konferenz des "Mailänder Vertrags für Urbane Ernährungspolitik" mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. 2020 wurde "Hortas Cariocas" dann in die UN-Liste mit Projekten aufgenommen, die helfen sollen, die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung bis 2030 zu erreichen.

Tatsächlich könnten die Gemeinschaftsgärten von Rio ein Vorbild für zahlreiche Städte sein. Schlecht genutzte Flächen bekämen einen Zweck, man schafft Arbeit, Nahrung, verkürzt die Wege zwischen Produzenten und Konsumenten und verändert das Sozialgefüge prekärer Viertel. Auch die Fauna findet in die Stadt zurück. Im Garten von Manguinhos hört man Vogelgezwitscher aus den Bäumen und Sträuchern und sieht Bienen zwischen den Beeten umherschwirren. Wie viel Potential in der Idee steckt, bewies 2020 eine Studie der Technischen Universität Wien mit dem brasilianischen Institut Pereira Passos (IPP). Sie kam zu dem Ergebnis, dass sich in Rio allein durch die Bepflanzung von Flachdächern fast 40 Prozent der Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgen ließen. Die Umsetzung scheitert am fehlenden politischen Willen, an Geld und mangelhafter Bildung.

Erivaldo Lira, der "Bürgermeister", sagt, dass der Garten Manguinhos von einem Ort der Dritten Welt zu einem Ort der Zweiten Welt gemacht habe. "Wir waren eine der schlimmsten Favelas von Rio, aber heute kommen Abgesandte aus anderen Städten, um sich über den Wandel zu informieren."

Philipp Lichterbeck, geboren 1972, lebt in Rio de Janeiro und arbeitet als Journalist für verschiedene Printmedien.