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Immer den Chor im Ohr

Von Manfred Rebhandl

Reflexionen
Chor und Solisten beim Jubiläumskonzert "150 Jahre Haus am Ring" im Jahr 2019.
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Seit 16 Jahren leitet Thomas Lang den Chor der Wiener Staatsoper, in dem auch Ukrainer neben Russen singen.


Es kommt Thomas Lang, Leiter des Wiener Staatsopernchors, zugute, dass er im 5. Bezirk wohnt und morgens durch die Margaretenstraße von zu Hause zur Oper und abends durch die Margaretenstraße von der Oper wieder nach Hause geht. Während alle immer noch aufgeregter werden, kann der 64-Jährige dabei planen, überlegen, vorausdenken. Und nachdenken, in diesen Tagen auch über Putins Krieg gegen die Ukraine, der an einem so international aufgestellten Chor wie seinem natürlich nicht spurlos vorübergehen kann.

92 fix angestellte Sänger aus 25 Nationen versammelt er um sich, "zwei von ihnen aus der Ukraine, zwei oder drei aus Russland". Nach den ersten russischen Angriffen in der Nacht auf den 24. Februar bat ihn einer seiner ukrainischen Sänger, ob er ein paar Worte an die Kollegen richten dürfte. Das durfte er, weil er gar nicht daran dachte, seine russischen Kollegen zu beleidigen. Er wolle sich nur - "Und das war dann schon sehr berührend!" - bei den vielen Kollegen bedanken, die ihn während der Nacht schon angerufen und sich nach dem Wohl seiner Familie erkundigt hätten.

So ein Chor: "Da hat jeder einen anderen Hintergrund, andere private Verhältnisse, eine andere Ausbildung. Da muss man einander akzeptieren und sich für den anderen interessieren. Man muss Menschen mögen." Aus diesen unterschiedlichen Individuen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen, sagt Lang, gälte es dann ein Ganzes zu formen, das am Abend als eine Stimme über die Rampe kommt. Was vor und nach den Proben, vor und nach den Vorstellungen in den Garderoben geredet werde, das wisse er natürlich nicht. "Jeder hat seine Meinung, aber die darf keinen Einfluss auf die tägliche Arbeit haben, denn sonst müsste ich etwas unternehmen."

Fordernde Proben

Bei den Leuten aus der Chorakademie, die oftmals noch gar nicht wüssten, wie der Betrieb in so einem riesigen Opernhaus funktioniert, wäre er nachsichtiger. "Da mag es Zeiten geben, da geht es denen nicht so gut, weil sie an der Uni oder mit Gesangslehrern ein Problem haben." Und auf die Extrachorsänger hätte er sowieso ganz wenig Einfluss, da müsse er schauen: Was kann man verlangen, wo sind die Grenzen? Aber von einem Staatsopernchorsänger müsse er erwarten dürfen, dass er seine Leistung, die er erbringen kann, bei jeder Probe und jedem Dienst auch tatsächlich erbringt.

Chorleiter Thomas Lang.
© Privat

Heute gleich um 11 Uhr wieder, wenn Lang die 20 Damen und 26 Herren des Chors, die er für den "Wozzeck" von Alban Berg, ausgewählt hat, zur Probe mit Orchester auf die Bühne bittet. "Der ,Wozzeck‘ ist eine sehr anspruchsvolle Sache", sagt er. "Die wenigen Takte, für die der Chor auf der Bühne ist, müssen sitzen." Daher absolviere sein Assistent vor jeder Vormittagsprobe, Abendprobe und Abendvorstellung auch noch sogenannte "Unstudiertenproben" für neue Chormitglieder, die das Repertoire noch nicht auswendig können.

Diese Proben, sagt Lang, wären sehr fordernd, sie dauerten drei Jahre und bedeuteten für die Kollegen viel Arbeit. "Da muss man als junger Sänger vorsichtig sein, dass man nicht nach drei Jahren zwar das Repertoire im Kopf hat, aber keine Stimme mehr im Hals." Auch daran muss er denken. Und dann auch schon wieder an ein nächstes Stück, das er sich, bevor er es mit dem Chor probiert, selbst auch noch einmal anschauen muss: den Klavierauszug, die Struktur. Und dann muss er schon wieder überlegen, wie viele von seinem Chor er im günstigsten Fall für das Stück besetzen wird. Ob er gleich alle zusammen oder zunächst nur die Damen und dann die Herren auf die Bühne stellt? Ob er Urlaube gewähren kann und auf Krankenstände vorbereitet sein wird? Und wer kommt demnächst zum Vorsingen?

Im Damenchor gehen nun viele Kolleginnen in Pension, die vor 25 Jahren engagiert wurden, die müssen nachbesetzt werden. Eine Jury, die sich aus vier Mitgliedern von der Arbeitnehmerseite und vier von der Arbeitgeberseite zusammensetze, wähle aus. Er selbst hat ein Vetorecht und also quasi zwei Stimmen. Beim Vorsingen erlebe man nicht nur die Stimme, sondern auch den Menschen mit seiner Nervosität. Da wäre es oft hilfreich, ein kurzes Gespräch zu führen, und dabei erfahre er schon viel über die Bewerber. Tenöre muss man suchen, wäre aber eine Sopranstelle zu besetzen, lägen sofort 200 Bewerbungen auf seinem Tisch, die er alle lesen müsse.

Sang jemand schon als Kind begeistert in einem Chor, gefällt ihm das. Schreibt hingegen jemand von seinen Solopartien im kleinen Stadttheater und nun wolle er plötzlich zum Chor, wird er hellhörig: Was ist schiefgegangen? Talent, Schwäche, Durchhänger zu erkennen, das lerne man nicht während der Ausbildung. Das wäre eine Sache der Erfahrung.

Der gebürtige Stuttgarter liebt das streng getaktete Arbeiten, den Dauerstress. Über sechs, sieben Jahre war er immer wieder auch bei Radio France in Paris eingeladen, die hatten dort alle Zeit der Welt, sodass ihm das viele Proben schon richtig fad wurde. Sowohl Vater als auch Großvater sangen in Vereinen und nahmen ihn mit, "als halbes Kind noch" begleitete er deren Singen mit dem Klavier, bis er mit 17 bereits die Chorleitung übernahm.

In sechs Sprachen

Während des Kapellmeisterstudiums entschied sich Lang für die Stimmen und gegen die Instrumente. Und das Dirigieren? "Kann man nicht lernen!", sagte ihm ein Lehrer. "Ich weiß nicht, was ich Dir da beibringen soll. Man hat es, oder man hat es eben nicht." Heute weiß er, dass jeder seine eigene Körpersprache und Mimik hat, und wenn beides ankommt bei den Kollektiven, ist es gut.

Die erste Stelle, die er annahm, war "großes Glück". Viele bekämen nämlich nie eine Stelle, er bekam gleich eine in Lübeck. "Die elf Jahre dort waren ein andauerndes Lernen, weil man in so einem kleinen Theater mit drei Sparten, mit Oper, Ballett und Schauspiel, alles machen muss: korrepetieren, den Chor dirigieren, Menschen begeistern und mitnehmen." Danach sagte man ihm, er solle größere Brötchen backen, und er bewarb sich in Wiesbaden. Er bekam auch diese Stelle und blieb sieben Jahre. "Da war die Probezeit mit 45 Chormitgliedern schon deutlich enger."

Seit 16 Jahren ist Lang nun in Wien, und immer hat er vier bis fünf Jahre Planung vor sich, "was gut ist, weil nur so dieses riesige Repertoire mit den wenigen musikalischen Proben bewältigt und das Niveau gehalten werden kann". Repertoire bedeutet bei ihm weit mehr als 150 Opern, wegen denen man ihn jederzeit anstupsen und "zu einer Probe der, sagen wir, ,Elektra‘" bitten könne, aus dem Stand.

"Die Fledermaus": Chor und Ensemble.
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Dass das Repertoire in sechs Sprachen beherrscht werden muss, wäre eine eigene Herausforderung, verbinde aber auch die Chormitglieder: "Slowaken tun sich leichter mit Tschechisch, Amerikaner mit Peter Grimes, einen Russen kann man fragen: geschlossenes oder offenes e? Da hilft man sich gegenseitig. Bleibt das offene e geschlossen, wird ein Sprachcoach engagiert." Unlust darüber verspüre er in seinem Chor nie. Auch, weil er alle gleich behandelt. Leute zu bevorzugen, das wäre der Anfang vom Ende. "Das musste auch ich erst lernen. In Lübeck und Wiesbaden, da saß man auch mal in der Kantine zusammen. Aber hier habe ich erstens keine Zeit dafür, und zweitens: Säße ich am einen Tisch und nicht am anderen, gäbe es Fragen nach dem Warum."

Vor "drei, vier Jahren" gab es einmal Probleme im damals noch "Zusatzchor" genannten Extrachor, in dem - "das ist kein Geheimnis" - sich einige Leute schlecht behandelt fühlten und vor das Arbeits- und Sozialgericht zogen. "Die Gespräche mit den Anwälten waren sehr belastend, und als Zeuge aussagen zu müssen, das wünscht man sich auch nicht." Die Prozesse wurden gewonnen, und Lang wurde noch vorsichtiger. Im Ansprechen von - seltenen - Fehlern hat er trotzdem keine Scheu, jemanden verletzen dürfe man dabei aber nie, "denn die anderen sind viele", lacht er. "Und man selbst ist allein."

Vom Typ her sei er ohnehin eher wohlwollend, und Aggression erzeugt immer Aggression. So müsse er auch freundlich mit den Lästigen umgehen, die eine Absage nicht akzeptieren wollen und sich immer wieder bewerben. Und "G’scheiterl", gar Wunderkinder, die etwas besser wissen oder können als er: "Her mit ihnen! Die muss man nutzen, damit wir alle etwas davon haben."

Unter Beobachtung

Darf man einen wie ihn noch auf den Gefangenenchor in "Nabucco" ansprechen? Lang seufzt tief: "Es gibt natürlich Leute, die haben eine Affinität zu italienischen Opern, für die steht ,Nabucco‘ ganz oben." Und natürlich: "Beim Gefangenenchor applaudiert das Publikum immer." Eine Gänsehaut kriege er dabei aber nur noch, wenn der Gesang wirklich sehr, sehr gut wäre. Manche Stücke hat er schon so oft aufgeführt, dass er sich manchmal denkt: Oh Gott, nicht schon wieder! Wagner hingegen, ein "Tannhäuser": Das wäre für ihn die größere Freude und Herausforderung, "da ist viel zu tun!" Da freue er sich auf die Proben - "Und ich freue mich auf jede Probe!" - noch ein bisserl mehr als sonst.

"Carmen" in der Staatsoper: Herrenchor mit Erwin Schrott (Escamillo) und Peter Kellner (Zuniga).
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Für einen Chordirektor sind 16 Jahre am gleichen Haus eine lange Zeit. Einige seiner Vorgänger wurden krank (am Job). Man stehe heute unter ständiger Beobachtung, sagt er, der Erwartungsdruck bei den ganzen Streamings und Fernsehaufzeichnungen wäre extrem hoch. "Wenn da etwas schiefgeht, ist es auf ewig dokumentiert." Das freue die Neider, die es natürlich gäbe.

Wo kann man also noch hin als Chorleiter, wenn man einmal den Staatsopernchor in Wien geleitet hat? "New York", überlegt er nicht lange. Die würden ihn dort - so unbescheiden darf er sein - gewiss fragen, wenn die Stelle einmal frei werden würde, bewerben wie um den Job in Lübeck müsse er sich heute nicht mehr. Aber was sind das schon für Gedanken an eine Zukunft, wo die Gegenwart in Europa einen Krieg erlebt, in dem jederzeit auch ein Opernhaus von Raketen getroffen werden kann.

Diese Vorstellung, so Lang, wäre furchtbar, aber: "Die Kraft der Musik, bei allen Widrigkeiten, ist ewig. Ein Wagner wird bleiben, ein Mozart wird bleiben." Und auf Bachs "Matthäus-Passion", jetzt in den Wochen vor Ostern, auf die freut auch er sich schon wieder sehr.

Manfred Rebhandl, geboren 1966 im oberösterreichischen Roßleithen, lebt in Wien. Er schreibt Krimis um den Superschnüffler Rock Rockenschaub, die am Wiener Brunnenmarkt spielen, und Reportagen für Zeitungen.