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Skikaiser aus der Wachsküche

Von Wolfgang Machreich

Reflexionen
Gerhard Sinnhuber ist Experte dafür, einen Ski optimal zu präparieren.
© Wolfgang Machreich

Die Samen Lapplands fingen damit an - seither tüfteln Ski-Enthusiasten am besten Skiwachs-Rezept für perfektes Gleiten.


Selbst wenn es das Drehbuch vorschreibt, fällt einem Skistar das Verlieren schwer: "Das ist wirklich allerhand, jetzt gewinnt man schon die Skirennen im Laboratorium", schimpfte Toni Sailer im Spielfilm "Der schwarze Blitz". Die Rolle verlangte von Sailer in seinem zweiten Film, dass ihm ein Konkurrent mit amerikanischem Wunderwachs auf den Skiern davonfährt. Eine Demütigung für den Neo-Schauspieler - erst ein paar Wochen vor dem Dreh im Frühling 1958 hatte Sailer bei der Weltmeisterschaft in Bad Gastein noch mit perfekt gewachsten Skiern drei Goldmedaillen gewonnen.

Am Filmende wird der "Blitz vom Kitz" wieder der Schnellste sein, am Siegerpodest ganz oben stehen und als Extrapreis eine Braut gewinnen. Davor muss er laut "Lexikon des Internationalen Films" aber ein "freundlich sauberes Unterhaltungsfilmchen mit gelackten Aufnahmen schöner Winterlandschaften" lang beweisen, das Spezial-Skiwachs nicht gestohlen zu haben. Der Verdacht fiel auf ihn wegen seiner Jammerei: "Meine Ski laufen einfach heute nicht bei dem Pappschnee."

Titelblatt von Johannes Scheffers Werk (1673).
© Public domain / via Wikimedia Commons

Das Problem kennen Menschen, seitdem sie mit Brettern über Schnee laufen. Insofern ist es keine Überraschung, dass das Volk, das diese Technik als Erstes perfektionierte, sowohl für pappigen Schnee wie auch andere Schneevarianten patente Gleit- und Steig-Lösungen fand. Im 1673 erschienenen Buch "Lapponia" des deutsch-schwedischen Humanisten Johannes Scheffer findet sich die wahrscheinlich erste verschriftlichte Anweisung zur Verwendung von Skiwachs. Scheffer beschreibt die Geschichte Lapplands und der samischen Völker. Dabei widmet er deren Wachs-Expertise einen Absatz, der vor allem von Kiefernpech und Kolophonium handelt.

Kalifornische Mixtur

Fünfzig Jahre später nimmt sich ein norwegischer Oberst des Themas an. Auch bei ihm spielen Teer und Harz eine wichtige Rolle. Talg von Wild oder Paarhufern taucht in der einen oder anderen Chronik als Tipp für Skibeläge auf.

Die erste kommerzielle Nutzung von Skiwachs wird mit dem kalifornischen Goldrausch zu Mitte des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht. Vorwiegend wohl jene Bergleute, die bei der Suche nach Nuggets weniger Glück hatten, suchten dieses bei Abfahrtsläufen in der Sierra Nevada zu finden. Um statt dem Gold- wenigstens dem Geschwindigkeitsrausch zu frönen, schmierten sie sich Mixturen aus Spermienöl von Pottwalen und anderen Ölen oder Paraffin und Kerzenwachs auf die Ski.

Mit dem Beginn des Skizirkusses vor gut hundert Jahren in den Alpen kamen im Gefolge der Skistars auch mehr oder weniger geheimnisumwitterte Ski-Alchimisten in mitteleuropäische Gefilde - und sind bis heute geblieben.

"Was Skiwachs betrifft, wird im Alpinbereich und noch mehr im Langlauf nach wie vor brutal viel herumgetüftelt", sagt Gerhard Sinnhuber. Weltweit gebe es zwischen 80 und 100 Wachsfirmen, "von großen Konzernen bis hin zu Familienunternehmen, die in Garagen produzieren", antwortet er auf die Frage nach der Marktlage. Zur Kundennachfrage meint er: "Die Vielfalt zeigt, es muss ein gutes Geschäft sein."

Als Repräsentant für Westösterreich des norwegischen Weltmarktführers bei der Herstellung von Skiwachsen, "Swix", kennt der Salzburger die Wachslabore aus beruflicher Perspektive. Früher selbst bei Wettkämpfen im alpinen und nordischen Bereich aktiv, ist ihm auch dieser Blick in die Wachsküche geläufig.

Die Kunst des Wachselns...
© Wolfgang Machreich

Sechs frisch gewachste Paar Langlaufski stehen neben Sinnhubers Wachstisch und beweisen, dass hier einer seinen Beruf nicht nur versteht, sondern selber lebt: "Ein Skibelag ist wie ein Fernsehbildschirm statisch geladen, zieht Staub und Schmutz an", erklärt er, warum auch Hobbysportler ihre Ski nicht unbehandelt wegräumen sollen: "Am besten die Ski nach dem Trocknen gleich wieder wachsen, das schützt die Beläge, bis man vorm nächsten Einsatz das Wachs wieder abzieht." Klingt nach viel Aufwand, der sich für Sinnhuber aber lohnt: "Spätestens, wenn dir bei einer Abfahrt auf der Langlaufloipe eine 30 Kilogramm leichtere Frau davonfährt, weißt du, was fehlt."

Eine das Wachsen betreffende Sein-oder-nicht-sein-Frage in Shakespeare’scher Dramatik stellte sich für das Schweizer Skiteam beim Abfahrtslauf der Weltmeisterschaft in Gröden am 15. Februar 1970. Ähnlich dem Sailer-Trauma im Film zeichnete sich für die Schweizer ein schwarzer Tag in ihrer Rennlauf-Geschichte ab: falscher Schnee auf der Saslong-Piste, falsches Wachs auf den Skiern und - am schlimmsten - ein falscher, weil österreichischer Fahrer auf Siegeskurs. Da griff der Schweizer Trainer zur Klinge und kratzte das Wachs von den Skiern seines letzten Top-Läufers. Das Abzieh-Experiment gelang, Bernhard Russi gewann vor dem Österreicher Karl Cordin und dem Australier Malcolm Milne die Abfahrts-Goldmedaille.

"Die Skifirmen können nicht sagen: ‚Jetzt mache ich einen schnellen Ski!‘", beschreibt Experte Sinnhuber die Herausforderung, vor der die Serviceteams der Siegläufer stehen. Sowohl die Spannung des Skis sei extrem wichtig als auch die Zusammensetzung des Belags, der wiederum von der Qualität des verwendeten Kunststoffs abhänge, und dann mache auch der jeweilige Strukturschliff einen entscheidenden Unterschied, erklärt er einige entscheidende Parameter. Deshalb sei es auch nötig, aus hundert und mehr Paar Rennski in Gleitversuchen eine Handvoll Siegerski "herauszutesten".

Für jede Art Schnee

Im Rennsport kommt dann noch das Wachs ins Spiel um den Sieg, sagt Sinnhuber, nicht ohne gleichzeitig die Grenzen seines Metiers zu betonen: "Mit Wachs kannst du aus einem schlechten Ski nie einen guten machen, aber aus einem guten Ski kann das perfekte Wachs einen super Ski machen."

Dass Wachskunst viel mit Können zu tun hat, liegt am Variantenreichtum des Schnees. Ob trockener Pulverschnee oder nasser Neuschnee, ob fein- oder grobkörniger Altschnee, ob Bruchharsch oder Firn: Die Schneearten verändert sich ständig, hängen ab von Temperatur, Luftfeuchtigkeit, seinem Alter und seiner kristallinen Struktur. Und mit jeder Schneekombination verändert sich die Wachsauswahl.

Ist der Schnee sehr feucht, besteht aber aus scharfen, harten Kristallen, braucht es beispielsweise ein Wachs, das abriebfest und wasserabweisend gleichzeitig ist. Der in Klimawandel-Zeiten sowohl auf Pisten wie Loipen unerlässlich gewordene Kunstschnee mischt die Wachs-Karten wiederum völlig neu, denn er "gleitet nicht so gut und macht mehr Zusatzstoffe nötig", sagt Sinnhuber.

Auf der Wachs-Höhe seiner Zeit präsentiert sich Toni Sailers Konkurrent in "Der schwarze Blitz". Lässig zieht er ein Thermometer aus dem Anorak und misst die Schneetemperatur, bevor er sein Wunderwachs auf die Ski reibt. Ein Bub schaut ihm dabei zu und fragt in altkluger Manier, wie er es bei den Ski-Altvorderen gehört hat: "Ist da auch Graphit drin?" Der Wunderwachsler findet das gar nicht lustig: "Schau, dass du weiterkommst, oder hat dich vielleicht jemand hergeschickt zum Spionieren?"

Samen-Historiker Scheffer erwähnt in seiner vor 350 Jahren erschienenen Darstellung Lapplands noch nichts von Wachs-Rivalitäten. Aber welches Volk zeigt auch einem Zugereisten gleich die eigenen Konfliktlinien auf? Bei den Abfahrten der Goldgräber hat die Rivalität in jedem Fall schon eine Rolle gespielt. Der Rennbericht im "Mountain Messenger" vom 22. Februar 1863 über einen Lauf im Onion Valley betont die Leistung des Siegers, der mit seinen über drei Meter langen Skiern für den einen Kilometer langen Steilhang nur 25 Sekunden gebraucht haben soll. Das wären 40 Meter Skiabfahrt pro Sekunde mit einer Geschwindigkeit von 144 Kilometer pro Stunde. Wenn das stimmt, dürfte die Wachsmischung aus Pottwal-Körpersäften ein echter Renner gewesen sein.

Utensilien der Wachsler-Werkstatt.
© Wolfgang Machreich

Sinnhuber verweist auf die doppelstöckigen Wachs-Trucks der Skiverbände, die bei Großveranstaltungen neben den Langlaufstadien stehen, um den Riesenaufwand beim Wachsen anschaulich zu machen. "Ohne anzuklopfen und zu fragen, betritt man keinen Wachsraum eines anderen Teams", lautet ein ungeschriebener Verhaltenskodex zwischen den Serviceleuten.

Gefragt nach seiner Einschätzung zum Ausmaß der Wachs-Spionage im Skirennsport, antwortet Sinnhuber: "Jedes Team hat so seine Geheimnisse, natürlich wird da und dort getrickst und mit Verschleierungstaktiken gespielt." Am wichtigsten für die Athleten sei jedoch, dass sie ihren Serviceleuten vertrauen können. Denn Materialschlachten können auch danebengehen. Das hätten beispielsweise die Winterspiele 2018 in Pyeongchang gezeigt: "Die haben die Norweger aufgrund von zu viel Auswahl total verhaut."

Sache der Erfahrung

Bei Olympia in Peking im Winter des Vorjahrs wurden die erfolgreichen deutschen Langläuferinnen mit Betrugsvorwürfen konfrontiert. Ein anonymer Insider berichtete einer finnischen Zeitung, die Deutschen hätten ein verbotenes Wachs mit C8-Fluorid als Turbo genützt. Fehlanzeige, sagten die Experten: Solche Fluorprodukte nützen auf nassem und knirschendem Neuschnee bei milden Temperaturen, in China war es jedoch bitterkalt.

Der Vorwurf spiegelt die Umwälzung wider, vor der die Skiwachsbranche seit dem EU-Verbot giftiger Fluorketten aus Umwelt- und Gesundheitsschutzgründen steht. In Skandinavien wird die Wachsdiskussion mit großer Vehemenz geführt, sagt Sinnhuber. Wachshersteller, die noch Fluor verwendeten, wurden in Langlaufstadien mit Plakaten voller Totenköpfe an den Pranger gestellt.

Vergleichbar mit den Dopingkontrollen, tut sich der Internationale Skiverband FIS mit der Umsetzung des Verbots jedoch noch schwer. Generell sei im Rennsport der Umstieg bei den Wachsherstellern aber gut gelungen, sagt Sinnhuber, schwieriger sei der Hobbybereich. "Fluorwachse waren über Jahrzehnte das Allerbeste. Bei meinen Wachsseminaren merke ich, die Leute hängen dran. Alternativen sind da oft schwierig zu erklären, denn Wachsen ist viel Erfahrungssache."

Darauf einigt man sich auch im Finale von "Der Schwarze Blitz": "Gut wachsen gehört halt auch zu einem Rennen", verteidigt sich die Wachs-Fraktion, und die Toni-Sailer-Fans beruhigen: "Regt’s euch nicht auf. Bei der steilen Abfahrtsstrecke nützt das beste Wachs nichts, wenn einer keinen Stand hat."

Wolfgang Machreich lebt als freier Autor und Journalist in Wien.