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Unangenehme Zeitgenossen

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen
Der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz war ein intellektueller Störenfried par excellence.
© Ullstein Bild/Garthe

Der intellektuelle Störenfried mag seiner Umgebung unsympathisch sein, sein nonkonformes Verhalten trägt jedoch zur kritischen Belebung und Weiterentwicklung des Denkens bei.


Im Alltag sind Störenfriede nicht sehr erfreulich. Als entfesselte politische Extremisten oder Hooligans, die randalieren, Autos anzünden und wahllos Passanten attackieren, verbreiten sie Angst und Schrecken. Sie wüten in rituellen Zerstörungsorgien - etwa am 1. Mai in Berlin oder zu Silvester in Paris -, ohne begründen zu können, gegen wen sich ihre Aggressionen konkret richten.

Der Störenfried betritt aber auch die Bühne der politischen Philosophie. So hat der in St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä diesem Typus, dem "puer robustus", eine umfangreiche Studie gewidmet, in der er Störenfriede präsentiert, die aus unterschiedlichen Motiven die bestehende Herrschaftsform bekämpfen.

Egoistische Renitenz

Den Störenfried - "ein kräftiger Kerl mit kindischem Geist" - findet man zum ersten Mal bei dem englischen Philosophen Thomas Hobbes, der von 1588 bis 1679 gelebt hat. Für ihn stellte der Störenfried eine zentrale Gestalt der politischen Philosophie der Neuzeit dar, weil er durch seine Renitenz die herrschende Gesellschaftsordnung in Frage stellte. Hobbes argumentierte, dass eine gesellschaftliche Ordnung nur dann funktionieren kann, wenn sich das Individuum an die staatlich vorgegebenen Regeln hält, die ein reibungsloses Zusammenleben gewährleisten. Und dieses Zusammenleben sah Hobbes durch den Egoismus des Störenfrieds, der allein seine Weltsicht zum Maß aller Dinge macht, gefährdet. Dieter Thomä bezeichnet diesen Typus als "egozentrischen Störenfried", dessen Handlungsmaxime lautet: Tue nur das, was dem eigenen Wohl dient.

Hobbes stellte eine Liste von egozentrischen Störenfrieden zusammen; darunter befanden sich Narren, Epileptiker, Tollwütige, Arme und Reiche. Jeder von ihnen war von der Obsession besessen, seinen Egoismus rücksichtslos auszuleben. Eine besondere Gefährdung ging laut Hobbes von den Reichen aus, weil sie - abgesichert durch ihre finanziellen Ressourcen - hemmungslos die Vermehrung ihres Reichtums betrieben. Diese Einschätzung wurde später von Karl Marx übernommen. Für ihn war die Finanzaristokratie "eine Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft". Der hemmungslose Egozentrismus dieser Klasse zeige sich in "Orgien schwelgerischer Ausschweifung, überladenen Prunks, in einer schamlosen Plünderung von Staatsgeldern und durch ein gekünsteltes Leben voller Vorspiegelungen falscher Tatsachen".

Am unteren Ende der sozialen Stufenleiter ortete Marx noch andere bedrohliche Störenfriede, die sein Ideal einer klassenlosen, solidarischen Gesellschaft bedrohten: "Vagabunden, Gauner, Gaukler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker und Bettler", also jene Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten und die Marx als eigentliches "Lumpenproletariat" bezeichnete.

Im Gegensatz zum egoistischen Störenfried, der genau weiß, was er will, existiert ein anderer Typus des Störenfrieds, der nicht genau weiß, was er will. Dieter Thomä nennt ihn den exzentrischen Störenfried, der keine fertige Persönlichkeit ist. Er weiß nur, dass er die Gesellschaftsordnung, so wie sie faktisch besteht, nicht erträgt. Der exzentrische Störenfried wendet sich gegen eine Mentalität, die darin besteht, die Routine des Alltagslebens zur höchsten Maxime zu erheben und sie als ewige Wiederkehr des Gleichen fortzusetzen. Als solch ein exzentrischer Störenfried verstand sich der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz, der von 1904 bis 1969 lebte. Seine Selbstcharakteristik lautete: "Ich bin Humorist, Hampelmann, Seiltänzer, Provokateur, ich bin Zirkus, Lyrik, Poesie, Grausen, Kampf und Vergnügen". Gombrowicz spielte gerne die Rolle des aufmüpfigen Störenfrieds, wie ihn bereits der französische Aufklärer Denis Diderot in seinem Roman "Rameaus Neffe" beschrieben hatte. Dort bezeichnete sich der Neffe des Komponisten Jean-Philippe Rameau als "einen armen Teufel im Harlekinsgewand, als einen Parasiten, einen Taugenichts und genialen Kindskopf".

Ähnlich wie Rameaus Neffe gefiel sich Gombrowicz darin, zynische und amoralische Bonmots zu verbreiten, er schlüpfte in verschiedene gesellschaftliche Rollen, um sie zu parodieren und zu destruieren. Er war ein Störenfried in der Gesellschaft, die er zutiefst verachtete, und fühlte sich als "Kriegsverlierer", der die Schlacht gegen die reibungslose, vernünftige Unfreiheit der fortgeschrittenen Zivilisation verloren hatte. Dieses Grundgefühl der tiefgreifenden Entfremdung war der Ausgangspunkt seiner radikalen Kritik der zeitgenössischen Intellektuellen, denen er ihr elitäres, snobistisches Verhalten vorwarf.

Vernichtende Urteile

Das vernichtende Urteil von Gombrowicz lautete: "Je klüger, desto dümmer!" - "Seht all die Orgien des Intellekts: diese Konzeptionen! Diese Entdeckungen! Per-spektiven! Subtilitäten! Publikationen! Kongresse! Diskussionen! Institute! Universitäten! Und trotzdem: dumm".

Störrisch verhielt sich Gombrowicz auch gegen den konventionellen Kunstbetrieb, speziell der Museen, die ihn durch die Fülle an Bildern zur schieren Verzweiflung trieben: "Gedränge an den Wänden, eins neben dem anderen. Das Schluckauf dieser Häufung. Leonardo prügelt sich mit Tizian. Ein allgegenwärtiges Schielen herrscht hier, denn schaust du auf das eine, fällt dir schon seitlich das andere ins Auge".

Dem selbst betriebenen Betrieb der Hochkultur stellte der exzentrische Störenfried Gombrowicz die Sphäre der Unreife, des Infantilen gegenüber. Er verstand die Thematisierung des Kindlichen, das den Menschen zeit seines Lebens begleitet, als seinen Beitrag zu Jean-Paul Sartres Konzeption des Existenzialismus. Ähnlich wie das Triebpotenzial bei Sigmund Freud ist das Infantile unberechenbar, chaotisch, kaum domestizierbar. Es konterkariert alle Bemühungen, die im Zivilisationsprozess erfolgen, aus "dem nicht festgestellten Tier" durch Dressur ein "animal rationale" zu formen. Die Hinwendung zum Kindlichen koinzidiert mit der Infantilisierung der Sprache, die die konventionelle Schreibweise parodiert oder gar zertrümmert. So heißt es in der fiktiven Autobiographie "Transatlantik": "Wamm, Wamm, da wiehern die Alten, dass sie Torkeln (. . .) und Wamm, Wumm dröhnt, prustet, birst vor lachen der Herr Pfarrer, und die Muszka mit der Tuska hüpfen schier, berotzen sich schier!" Diese ins Absurde abdriftende Schreibweise, die wenig Wert auf Verständlichkeit legte - verbunden mit seiner zynischen Attitüde, mit der er zahlreiche Autoren wie Michel Butor oder Uwe Johnson verstörte - machten Gombrowicz zu einem einsamen Außenseiter, der seine Rolle als ironischer Störenfried bis zu seinem Lebensende beibehielt. Als er in seinem letzten Interview gefragt wurde: "Was sind ihre Pläne für die Zukunft?", antwortete Gombrowicz: "Das Grab."

Die von Dieter Thomä entworfene Typologie der Störenfriede weist noch den "nomozentrischen Störenfried" auf, wobei Thomä sich auf das griechische Wort "nomos" bezieht, also auf das Gesetz; im übertragenen Sinn auf die gültigen Werte einer Gesellschaftsordnung. Dem nomozentrischen Störenfried geht es darum, eine Umwertung der herrschenden Werte vorzunehmen, um eine alternative Lebensform zu ermöglichen. Ein Beispiel dafür ist der Philosoph Diogenes, der von 400 bis 325 vor Christus lebte und als die zentrale Gestalt des sogenannten Kynismus angesehen wird. Diese Bezeichnung bezieht sich auf das griechische Wort "kyon" und bedeutet "Hund". Gemeint ist damit die Lebensweise von Diogenes, der das natürliche, animalische Leben zum Vorbild nahm. Diogenes ging von der Gesamtheit des menschlichen Leibes aus, also auch von jenem Bereich, den der russische Literaturwissenschafter Michail Bachtin als "grotesken Leib" bezeichnete und der "die Akte des Körper-Dramas, Essen, Trinken, Ausscheidungen, Begattung, Schwangerschaft, Altern, Krankheiten und Tod" umfasst.

Im Gegensatz zu dem zeitgenössischen Meisterdenker Platon, der den Leib als etwas Minderes, Niedriges betrachtete, betonte Diogenes den Vorrang der körperlichen Bedürfnisse. Für ihn waren die metaphysischen Spekulationen von Platon ein intellektueller Luxus, dem er die Natürlichkeit des Leibes gegenüberstellte. Was natürlich sei, könne nicht schlecht sein, so lautete die Argumentation von Diogenes, dafür brauche man sich nicht zu schämen. Diese Maxime befolgte er ohne moralische Skrupel. Der Kyniker bediente sich aktionistischer Mittel und scheute sich nicht, gesellschaftliche Tabus zu brechen. "Diogenes pflegte alles in voller Öffentlichkeit zu tun, sowohl, was die Demeter betrifft als auch die Aphrodite", schrieb der Philosophiehistoriker Diogenes Laertius in seiner Schrift "Leben und Meinungen berühmter Philosophen".

Freche Reden

Bewusst inszenierte Diogenes sein Leben als Störenfried und Außenseiter der Gesellschaft, der sich sämtlichen Konventionen widersetzte. Er nahm keine Rücksicht auf gesellschaftliche Normen und pflegte die "Parrhesie" - die freche, freimütige Rede, mit der er versuchte, die angepassten Athener Bürger aus ihrer Reserve zu locken. Auch den herrschenden Zeitgeist-Philosophen, die seiner Meinung nach mit ihren dogmatischen Lehrgebäuden das konkrete Leben des Einzelnen einengen wollten, begegnete Diogenes mit einem ironischen Aktionismus. "Als Platon die Definition aufstellte, der Mensch sei ein zweifüßiges, federloses Tier und damit Beifall fand" - so Diogenes Laertius -, "rupfte Diogenes einen Hahn und brachte ihn in Platons Schule mit den Worten: Das ist Platons Mensch".

Die intellektuellen Störenfriede in ihren verschiedenen Ausprägungen waren keineswegs angenehme Zeitgenossen. In unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen störten sie lautstark den behaglichen Common sense und revoltierten gegen den herrschenden Kanon von Kunst, Literatur und Philosophie. Sie übten, wie es der Philosoph Hans Sluga formulierte, "die Tätigkeit einer Pferdefliege aus, die dem Pferd in den Hintern sticht, sodass das Pferd Sprünge macht."

Literatur: Dieter Thomä: Puer robustus - Eine Philosophie des Störenfrieds.Suhrkamp Verlag, Berlin, 2016, 715 Seiten, 36,- Euro.

Nikolaus Halmer,geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.