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Chiffren der Entgrenzung

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen

Das Meer, die Wolken, der Turm: Drei mitreißende Bücher loten die philosophische Dimension und Symbolik von Natur und Technik aus.


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Gleißnerische Raubtierschönheit: Das Meer, bevorzugter Bildspender der Philosophie.
© Robert Bressani

"Wohlauf! Hier ist mein Vorgebirg und da das Meer: das wälzt sich zu mir heran, zottelig, schmeichlerisch, das getreue alte hundertköpfige Hunds-Ungethüm, das ich liebe." Also sprach Nietzsches Zarathustra. Faszinierend und zugleich furchtbar sei dem Menschen das Meer in seiner gleißnerischen Raubtierschönheit. Doch wie er es sehe, hänge von ihm allein ab, von seinen Deutungen und Projektionen. Das Meer selbst (die Natur) sei neutral, trete mit dem Menschen in keinen Dialog, sondern zeige ihm die kalte Schulter. Diese Erfahrung der Haltlosigkeit verunsichere, doch das eben sei der Preis des Aufbruchs, der Freiheit. So Nietzsche.<p>Das Meer erwies sich seit je "als ein von der Philosophie bevorzugter Bildspender", stellt der emeritierte Philosophieprofessor Gunter Scholtz in seinem schönen Buch "Die Philosophie des Meeres" fest. Darin unternimmt er eine packende Gedankenreise durch die Geschichte der Philosophie - und rückt gleich vorweg einen so banalen wie entscheidenden Aspekt ins Licht: "Alles, was der Mensch denkt, sagt und schreibt, geschieht aus der Perspektive des Landbewohners." Das Meer ist uns einerseits bedrohlich fremd, andererseits ein verführerischer Reiz.

Ikone des Fortschritts: der Eiffelturm
© Robert Bressani

<p>Scholtz zeichnet auf luftige, mit der Chronologie jonglierende Art nach, von welchem Geiste die Beziehung des denkenden Landwesens Mensch zum Meer über die Jahrhunderte geprägt war, welche konkreten Folgen dies für die Welt zeitigte, und welche "Meeresphilosophien" sich daraus entsponnen.<p>Als etwas Göttliches, als Ursprung allen Lebens und Prinzip aller Dinge galt das Meer den Naturphilosophen der Antike. Auch Thales von Milet glaubte noch an die Götter, und doch war sein Glaube bereits neu "basiert": Für ihn war das Wasser der alles tragende Grund, auf dem auch das Festland wie Treibholz schwamm. Ein technischer Forschergeist machte der Mythologie das Weltdeutungsmonopol strittig. Oder, mit Nietzsche gesprochen: "In Thales siegt zum ersten Male der wissenschaftliche Mensch über den mythischen und wieder der weise Mensch über den wissenschaftlichen."<p>

Aufbruch

<p>Alle großen Fragen aus der götterbeseelten Natur erklären zu wollen, genügte den Philosophen nicht mehr. Platon rückte zum Meer gar auf Distanz: Für ihn war es eine Sphäre getrübter Erkenntnis und ein Einfallstor für das Böse: Handelshäfen würden das Gemeinwesen gefährden, Sitten und Seelen verderben. So plädierte er etwa in der Frage von Stadtgründungen auf Meeresferne. Als Staatsphilosoph inszenierte er das Meer gar als Strafgericht: es verschlingt das hegemoniale, sittlich verkommene Atlantis. Bei Platon ist die Hölle nass, das Meer mit der Unterwelt verbunden.<p>Die Neuzeit rollt Platons Geschichte von Atlantis frisch auf; Francis Bacons Staatsutopie "Nova Atlantis" überwindet sinnbildlich die "Säulen des Herkules", an denen die antike Welt endet.<p>Mit diesem Aufbruch in die Weiten der Ozeane beginnt aber auch der Kampf um die Hoheit über die Seewege. Spanier und Portugiesen, Holländer und Briten wetteifern um die Herrschaft über die strategisch und ökonomisch so wichtigen Routen. Doch solch nationale Besitzansprüche blieben nicht unwidersprochen: Einer der bedeutendsten Kritiker war der holländische Naturrechtler Hugo Grotius. Er erklärte in seiner Schrift "Mare librum" alle maritimen Claims für unzulässig. Der Mensch brauche Meer: als freien Handelsweg, als Nahrungsquelle. Die freilich sei endlich, was nun wiederum doch ein gewisses Maß an nationalem Meereseigentum erfordere, nämlich gesicherte Fangzonen. Dem konnte auch Kant zustimmen - als Übergangslösung zum Völkerrecht: ". . . innerhalb der Weite, wohin die Kanonen reichen, darf niemand an der Küste eines Landes, das schon einem gewissen Staat zugehört, fischen, Bernstein aus dem Grunde der See holen", formulierte er in seiner "Metaphysik der Sitten".<p>Das Meer rückte nun in eine rechtliche wie auch humanistische Perspektive: als Völker verbindendes, den Kosmopolitismus begünstigendes Medium. Das unterschrieb auch Hegel: Meere förderten den Austausch von Ideen und Wissen, mithin die Bildung. Der idealistische Geschichtsphilosoph zählte auch auf die ökonomische Klugheit der Nationen, was die rechtliche Regelung des Seehandels betraf, räumte aber ein, dass dieser die Dynamik der Industrialisierung antreibe - und damit den Ressourcenabbau. Womit Gunter Scholtz auf heutige, bio- und umweltethische Aspekte einschwenkt: Raubfischfang, Müllentsorgung, Atomtests, Ölbohrungen höhlten das moderne Seerecht aus.<p>Das Meer als leergefischte Kloake: Welch krasses Gegenbild zur Ästhetik des Erhabenen, die den "Meerblick" ab dem 18. Jahrhundert prägte - und eine neue Brücke zur Metaphysik schlug. Epochengeist hin, Weltbild her: Das Meer war und ist immer auch unser Spiegel: "du schaust deine Seele", heißt es in Baudelaires Poem "Der Mensch und das Meer".<p>Wasser als Projektionsfläche unserer Sehnsüchte, das gibt es auch in ephemerer Gestalt. Die Rede ist von feinen Tröpfchen und Eiskristallen in luftiger Höhe, - der analogen Cloud. Ihr widmet Klaus Reichert sein faszinierendes Buch "Wolkendienst". Lustvoll schwingt sich der Literaturwissenschafter und Autor von seinen persönlichen Wolkenguckereien zu mythologischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Himmelserkundung. Und wieder zurück. Heraus kommt eine sinnliche Revue, ein sphärischer Reigen. Essay und lyrisch-gelehrte Prosa sind die Form, in der Reichert seine gesammelten Wolken-Texte, -Bilder und -Erinnerungen präsentiert.<p>Friedliche Heerscharen, göttliche Botschaften, Fabelwesen und diverse Viecher: all das und vieles mehr liest der Mensch aus den thermischen Formationen. Für Arnold Schönberg zeichneten sich in den Himmelsgebilden gar Schlachten und Siege ab; er führte ein Kriegs-Wolkentagebuch. Nun, ein Wolken-Journal führt auch Klaus Reichert. Und stellt die Einträge (etwa über unsere Vergleichsmanie) in seinen "Wolkendienst".<p>Eine erste Typologie der Wolken erstellte Luke Howard 1803 mit seiner "Theory of Clouds". Die stieß beim geheimrätlichen Wolkenleser Goethe auf großes Interesse - und fand in dessen Gedicht "Howards Ehrengedächtnis" seinen Widerhall. Exzellent ließen sich Wolken offenbar auf Hampstead Heath bei London studieren: Über Jahre betrieb da der Maler Constable sein (selbst so genanntes) "skying". Er malte das Gesehene "plein air". Und mit "der genauest möglichen Wetterkundigkeit", so Reichert, während ein anderer Wolkenspezialist, William Turner, in die Erscheinungen hineinging "wie ein Ballonfahrer" und die Tumulte, "das thermische Geschiebe der atmosphärischen Schichten im wechselnden Licht" malte. Zum Entzücken des Schriftstellers John Ruskin: der nannte Turners Kunst "Service of Clouds" - Wolkendienst.<p>Wolken kann man sogar hören: Liszts "Nuages gris" und Chopins "Nuages" (Teil der "Nocturnes") zum Beispiel. Oder Ligetis "Clocks and Clouds", zu dem der Komponist meinte: "In meinem Stück sind die Uhren bzw. Wolken poetische Assoziationsgebilde. Periodische, polyrhythmische Klangkomplexe verschmelzen zu diffusen, flüssigen Zuständen und umgekehrt."<p>In Reicherts Wolkenreigen reihen sich natürlich auch die Dichter: etwa Samuel Beckett mit dem Stück ". . . but the clouds . . .", in dem ein nächtens heimkehrender Mann die Erscheinung des Gesichts einer Frau herbeisehnt; diese Frau hat keine eigene Stimme mehr, nur ihre Lippen wiederholen unhörbar: "clouds . . . but the clouds . . . of the sky". Es sind dies die Schlussverse aus William Butler Yeats’ Gedicht "Der Turm".<p>

Tempelspitzen

<p>Womit wir bei unserer dritten Chiffre der Entgrenzung angelangt sind, dem Turm. Und bei Rüdiger Görners Motivgeschichte "Höher hinaus". Der Turm ist ein Sinnbild für Macht - und für den Ehrgeiz, an den Wolken zu kratzen, den Verständnishorizont buchstäblich auf die Spitze zu treiben. Er ist eine Ikone des Fortschritts, des zivilisatorischen Strebens - und verführt zu religiöser Metaphorik. So nennt ein Werbetext den New Yorker Mega-Wolkenkratzer "One 57" "das Äquivalent von Bank-Safes im Himmel". Ähnlich tönt der Immobilienmakler "Babbitt" in Sinclair Lewis’ gleichnamigem Roman, wenn er ein Hochhaus zur "Tempelspitze der Geschäftsreligion" erhebt. Wem käme da nicht der Trump-Tower in den Sinn?!<p>Nicht bloß der Bau, auch die Zerstörung solcher Himmelsstürmereien ziehen uns in den Bann. So sieht Görner das Attentat "9/11" als "die terroristisch-tragisch verschärfte Entsprechung zum Turmbau zu Babel".<p>Türme waren stets auch ein Bollwerk für Künstler: Montaigne, Hölderlin, W. B. Yeats, Rilke, sie alle waren Turmbewohner. Oder auch C. G. Jung, der seinen Turm als archetypische Figur erlebte, als Annäherungsmedium an das "Uralte". Die Dichtkunst selbst lädt das vertikale Bauwerk mit vielfältigsten Projektionen und Symboliken auf: Goethe entwarf die freimaurerisch-humanistische "Turmgesellschaft" ("Wilhelm Meisters Lehrjahre") und schuf den tragisch-scharfsichtigen Türmer Lynkeus (Faut II); Ibsens "Baumeister Solness" wird dessen eigene Turmkonstruktion zum Verhängnis; Virginia Woolfs "Lighthouse" bleibt außer Reichweite, und Uwe Tellkamp versteht seinen Roman "Turm" als Sammelsymbol: für ein Dresdner Villenviertel, ein Babel der DDR und eine neue Turmgesellschaft.<p>Im Turm materialisiert sich der Wunsch nach Aufstieg, souveränem Überblick und Entgrenzung - bei gleichzeitiger Bodenhaftung. Welch schöner Selbstbetrug!

Gunter Scholtz: Philosophie des Meeres. mare, Hamburg 2016.
Klaus Reichert: Wolkendienst. S. Fischer, Frankfurt/M. 2016.
Rüdiger Görner: Höher hinaus. Berlin University Press 2016.
Ingeborg Waldinger, Romanistin, Germanistin, literarische Übersetzerin, ist Redakteurin des "extra".