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Erdbeermal und Göttergabe

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen

Die archetypische Symbolik der Mutter findet in allen Kulturen auch ihren sprachlichen Niederschlag. Streifzug durch eine opulente Metaphorik.


Mütterliches Schraubenset: Sechskantmutter, Vierkantmutter, Hutmutter, selbstsichernde Mutter, Flügelmutter (von oben).
© cc/wikipedia

Sie schillern in allen Farben, sie sind mächtig und zum Teil sehr alt: die Rede ist von den bildlichen Vorstellungskreisen, die sich mit der Mutter verbinden. Als Archetyp ist nach C. G. Jung ja bereits die Urmutter im kollektiven Unbewussten angelegt. Und die transzendierte archetypische Symbolik - die Große Mutter (oder Große Göttin) - begegnet in Mythologien rund um die Welt.

Ungezählt sind auch die künstlerischen Darstellungen der gebärenden, hegenden und nährenden Mutter in allen Weltkulturen. Diese zentrale Rolle inspiriert freilich zu vielschichtiger Ausdeutung - und findet auch ihren sprachlichen Niederschlag in einer opulenten Metaphorik. Die reicht von Mutter Kirche und Alma Mater bis zu Konzernmutter - oder Dura/Pia Mater: so nennt der Mediziner die harte/weiche Hirnhaut. Diese Begriffe wurden aus der Medizin des arabischen Mittelalters übernommen; die nahm an, dass alle Körpermembrane von den Hirnhäuten gebildet würden, und übertrug die Beziehungen zwischen den Gewebearten in Verwandtschaftsbezeichnungen.

Die Rolle der Mutter mag zwar in allen Kulturen eine grundlegend ähnliche sein - ihre verbalen Sinnbilder finden aber von Sprache zu Sprache keineswegs immer ihre metaphorische Entsprechung. Das wollen wir am Beispiel des Wortes Muttermal veranschaulichen.

Sinnlichkeit

Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. An alten Redensarten ist immer was dran, ein Gran Wahrheit jedenfalls. Auch das Wort Gran ist ziemlich alt: ursprünglich eine Gewichtseinheit für Arzneien und Edelmetalle, wurde es dem lateinischen "granum" (Korn, Körnchen) entlehnt. Und so ein Körnchen steckt auch im französischen Begriff für Muttermal, "grain de beauté" . Der Franzose verbindet dieses Hautmal also mit Schönheit, der Deutsche mit Muttern. Etymologisch lässt sich das durchaus erklären. Seit dem 16. Jahrhundert bezeichnet das deutsche Wort einen von Geburt an vorhandenen Fleck. Die englische Vokabel entspricht der Idee dann ganz genau: birth mark. Wer ein solches Mal trägt - das Interesse gilt dabei vornehmlich dem weiblichen Körper -, ist also gezeichnet, im guten wie im schlechten Sinn. Nach altem Volksglauben, diesem Schauderkessel, ist es ein "Hexenmal".

Das genetische Zeichen inspirierte auch zahlreiche Schriftsteller. Nathaniel Hawthorne etwa lässt in "The Birthmark" einen Wissenschafter Hand an das Muttermal auf der Wange seiner schönen Gemahlin legen; er entfernt den Makel (in Form einer winzigen, roten Hand) mit einem Wunderelixier, befördert damit aber leider gleichzeitig die Schöne ins Jenseits.

Ein "schwarzes Medaillon" in der Leistenbeuge wiederum trägt Clarisse in Musils "Mann ohne Eigenschaften". Sie nennt ihr Muttermal "Auge des Teufels", weil es die Männer in den Bann zieht. Der inzestuösen Annäherung von Clarissens Vaters aber gebietet es Einhalt. Weder Makel noch Schandmal, sondern soziales Identifikationszeichen ist das Muttermal u.a. in de la Motte Fouqués "Undine" oder in Kleists "Käthchen von Heilbronn".

Wie in der Literatur, ist das Muttermal eben auch in Sprachbildern oft erotisch konnotiert. Das französische "Schönheitskörnchen" wurde schon erwähnt; Ähnliches gilt für das englische strawberry mark. Das "Erdbeermal" meint das rote Muttermal. Doch Erdbeeren wecken nicht nur farbliche, sondern auch sinnliche Assoziationen. In dieser Hinsicht werden die Italiener noch deutlicher: voglia heißt hier das Muttermal. Und la voglia hat vor allem eine Bedeutung: Lust, Begierde.

Ließe sich von solchen Metaphern gar auf Mentalitäten schließen? Wie meinte doch der Begründer der vergleichenden Sprachforschung, Wilhelm von Humboldt, über die Völker: "Ihre Sprache ist ihr Geist, und ihr Geist ist ihre Sprache - man kann sich beide nie identisch genug denken". Und rund ein Jahrhundert später stellte Paul Valéry fest: "Sprache unterliegt dem allgemeinen Wahlrecht, ein Wort ist ein gewählter Kandidat der Na-tion", um dann zu relativieren: "bisweilen wird er nicht wiedergewählt (. . . )" - Die meisten Kandidaten der Nation gewinnen allerdings jede Wiederwahl. Mitunter kann die ursprüngliche Bildhaftigkeit metaphorischer Wörter freilich etwas verblassen:

"Die Herstellung einer Mutter dauert nur wenige Sekunden", heißt es in einem sittenfesten Kompendium, der "Chronik der Technik", zum Jahr 1852. Damals nämlich erfand ein gewisser Wilhelm Funcke, Fabrikant aus Hagen, eine Presse zur Massenproduktion von Schraubenmuttern. Die Industrialisierung erfasste somit ein gängiges, bislang kleinhandwerklich gefertigtes Maschinenelement. Dieses existiert in verschiedensten Ausführungen - aber niemals für sich allein.

Die Mutter festigt die "Vaterschraube" (der Begriff existiert tatsächlich). Allerdings sind Schraubverbindungen auch wieder lösbar. Mag dieser Aspekt bei der (männlichen) Wortschöpfung Schraubenmutter - unterschwellig - eine Rolle gespielt haben? Wie es um die Loslösung der Söhne von ihren Müttern bestellt ist, kann in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden. C. G. Jung liefert allerdings eine interessante Deutung: Für ihn zählt die Schraubenmutter zu den zahlreichen, an die Gebärmutter erinnernden Hohlformen - und stellt somit eine weitere Ausprägung des Mutter-Archetpys dar.

Ideen & Wörter

All die Ideen hinter den Wörtern sind uns im Sprachalltag selten bewusst. Gerade die Sprache, die wir als Kind erlernten, gebrauchen wir meist unreflektiert: die Muttersprache. Sie bezieht ihren Namen zum einen aus dem Umstand, dass es traditionell die Mütter sind, die dem Kleinkind das Sprechen beibringen. Zum anderen wurde die ersterworbene Sprache auch mit der Sprache des Geburtslandes gleichgesetzt (was im lateinischen sermo patrius ebenso zum Ausdruck kommt wie in der alten deutschen Bezeichnunglantwort).

Ein wenig scheint es sich mit der Muttersprache zu verhalten wie mit der Gesundheit: solange sie da ist, denkt man darüber kaum nach. Erst das Erlebnis der Abwesenheit oder gar des Verlustes macht sie zur Kategorie, erhebt sie in den Rang eines Wertes. Außerhalb der gewohnten sprachlichen Kompetenz beginnt ein unsicheres, abenteuerliches Terrain. Für freiwillig wie für unfreiwillig Reisende, wobei die sprachliche Fremde vor allem für Exilanten zur schmerzlichen Erfahrung wird: "Mein Auftrag, mir von Anbeginn gegeben,/ im Mutterlaut, ist mir zur Zeit verhüllt", heißt es in einem Gedicht von Theodor Kramer. Er lebte von 1939 bis 1957 im Londoner Exil.

Emotionen und Assoziationen anderer Natur verbinden sich mit dem Begriff Mutterland. Dieses wird von der Gesellschaft für deutsche Sprache wie folgt definiert: "Mutterland (. . .) steht für ein Land, in dem etwas heimisch ist, seinen Ursprung hat und eine weite Verbreitung gefunden hat: England, das M. des Parlamentarismus (. . .). Als Mutterland wird auch das Land bezeichnet, zu dem eine Abhängigkeit oder Zugehörigkeit eines Gebiets bei räumlicher Trennung besteht." Damit sind koloniale Beziehungen gemeint. Als Vaterland hingegen bezeichnen die deutschen Sprachpfleger "das Land, aus dem man stammt, zu dessen Volk, Nation man gehört, dem man sich zugehörig fühlt".

Vom Mutterland lässt sich allerdings nicht auf das Mutterrecht schließen. Denn dieser Terminus bezieht sich auf ein frühes Entwicklungsstadium menschlicher Gesellschaft. J.J. Bachofen hat ihn geprägt, heute wird er vielfach als Synonym für das Matriarchat verwendet.

Eine Mutter versorgt ihr Kind und begleitet es durch die Jahre. - Ein Mutterschiff versorgt kleinere Schiffe und begleitet sie durch die stürmische See. Einst galt derlei Assistenz den Torpedobooten und U-Booten von Kriegsflotten. Heute kommt dem Mutterschiff vor allem in der Fischerei besondere Bedeutung zu. Es übernimmt den Fang einer Flottille zur fabriksmäßigen Verarbeitung und wird daher auch Fabrikmutterschiff genannt. Dieses kann gewaltige Ausmaße haben, etwa wenn es der Schlachtung und Verarbeitung von Walen dient.

Leben & Verderben

Mutter Natur ist fruchtbar - und furchtbar. Ihre Gaben spenden Leben und Wachstum, sie bringen aber auch Verderben. Mutter Natur ist eine chthonische Macht, die auf nährendem Getreide einen gefährlichen Schmarotzer gedeihen lässt: das Mutterkorn. Und selbst dieses ist von ambivalenter Natur: Seine heilende Wirkung ist seit dem Mittelalter bekannt. Die volkstümliche Gynäkologie setzt es gegen Gebärmutterschmerzen, als Wehenmittel und Geburtsbeschleuniger ein. Daher auch sein Name. Heute gelangt Mutterkorn in der Homöopathie als krampflösendes und schmerzlinderndes Mittel zum Einsatz.

Es enthält aber auch toxische und halluzinogene Wirkstoffe. Diverse Synonyme spielen auf vom Mutterkorn hervorgerufene Effekte an: Brandkorn, Tollkorn, Ergot, Kindesmord (als Abtreibungsmittel). Die psychoaktiven Substanzen dienten seit alters her auch zu magischen Zwecken, ob als Initiationsdroge oder Orakel-Räucherwerk. Und schon kommen die Hexen wieder ins Spiel: Sie sollen Mutterkorn in ihre Salben gemischt haben, um zum psychedelischen Flug abzuheben.

Perlmutt: ein magisch schönes Geschenk der Mutter Natur.
© Wikimedia

Genug des Dunkel-Mystischen. Ein wahrhaft glanzvolles Mutterbild liefert ein Geschöpf des Meeres: die Perlmuschel. Ihr Inneres schillert in den schönsten Regenbogenfarben - dank des Perlmutt. Mater perlarum, madre perla, mère perle, mother of pearle: in vielen Sprachen dasselbe Bild: die Muschel gebiert, gleich einer Mutter, die Perle. Perlmutt ist das Material, welches das Muschelfleisch an der Innenseite der Schale ablagert. Und es ist das Material, aus dem die Perle besteht, doch diese Erkenntnis reift erst langsam. Ganz wie die Perlenzucht. Denn noch bis ins 16. Jahrhundert wirken übermächtige mythische Bilder. Die sublimen Prachtstücke, so der Glaube, entstehen aus Tautropfen, die in die geöffnete Muschel fallen und durch göttliche Kraft zu Perlen mutieren. In der reinen Naturschönheit der Perle sieht man ein Geschenk der Götter. Bald freilich gilt das kostbare Juwel auch als Zeichen der Macht.

Die Zeit der großen Erzählungen ist zu Ende, hat der französische Philosoph François Lyotard verkündet. Und die der alten Mutterbilder? Die einen verblassen, andere beugen sich dem Geist der Ära 4.0. Die Matrix (lat. Muttertier, Gebärmutter) mutiert im gleichnamigen Film zur schikanösen virtuellen Realität; die Große Mutter entpuppt sich als Tracking App zur Überwachung des Nachwuchses: Big Mother is watching You!

Ingeborg Waldinger ist Redakteurin im "extra" der "Wiener Zeitung" und literarische Übersetzerin.