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Abschied vom ewigen Eis

Von Wolfgang Machreich

Reflexionen
Im Schnitt geht die Eisdicke der österreichischen Gletscher jährlich um einen Meter zurück, wie hier beim Marzellferner in den Ötztaler Alpen.
© Machreich

Der Klimawandel führt zum Abschmelzen der Gletscher. Nachruf auf das "wandelbarste aller starren Gebilde" und eine Würdigung seiner frühen Erforscher.


Prozessionen stapfen hinauf bis ans Ende der Eismeere, in Schwarz gekleidet, trauernd, klagend - damals wie heute. Wie sich die Bilder gleichen, obwohl sie für Gegensätzliches stehen. Was sie verbindet, ist die Sorge um das ewige Eis.

1652: Die Kirchenglocken der Gemeinde Fieschertal im Schweizer Kanton Wallis riefen die Gläubigen zu einer Gletscherprozes- sion, um dem vorstoßenden Fieschergletscher Einhalt zu gebieten. Zuvor hatten sie mit dem gleichen Ziel ein Gelübde zur Tugendhaftigkeit abgelegt.

In Trauerkleidung

Ein Jahr später wird eine gletscherbannende Prozession zum Großen Aletschgletscher pilgern. Gletscherkreuze zum Schutz vor einer "Verheerung des Thales" wurden errichtet, da wie dort und an anderen Eisabbrüchen entlang des Alpenbogens. Typische Schlachtaufstellung im jahrhundertelangen Stellungskrieg zwischen göttlichem Segen und Naturgewalt mit sich stark veränderndem Frontverlauf und Gebietsgewinnen für die nicht enden wollenden Gletscheroffensiven.

2019: "Trauerkleidung erwünscht", stand auf der Einladung zur Trauerfeier für den Pizol-Gletscher. Einen Monat nach der demonstrativen Abschiedszeremonie für den offiziell für tot erklärten Gletscher Okjökull in Island trauerten 250 Schweizer im September dieses Jahres bei einer Wanderung zu den letzten Resten des Gletschers im Kanton St. Gallen, der in den vergangenen Jahren so stark geschrumpft ist, dass er heuer zum letzten Mal vermessen wurde.

Bei der Trauerfeier sprachen ein Glaziologe und ein Pfarrer. Sie geißelten den am Eisschwund schuldigen Klimawandel und forderten radikale Schritte, um den Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase zu reduzieren. Bei der Totenfeier für den isländischen Okjökull war eine Tafel mit der Überschrift "Ein Brief an die Zukunft" enthüllt worden. Darauf stand zu lesen: "In den nächsten 200 Jahren ist zu erwarten, dass alle unsere wichtigsten Gletscher den gleichen Weg gehen. Diese Gedenktafel dient dazu, anzuerkennen, dass wir wissen, was vor sich geht und was zu tun ist."

Anselm de Mas, Porträt Friedrich Simony, 1890, Autotypie.
© Oberösterreichisches Landesmuseum

Einer der Ersten, der maßgeblich dazu beitrug, dass wir wissen, was in und mit den Gletschern vor sich geht, war Friedrich Simony. "Von wunderbarer Klarheit" heißt die laufende Ausstellung im Wiener Photoinstitut Bonartes, die Simonys Gletscherfotografien aus den Jahren 1875 bis 1891 zeigt. Allesamt alte Zeichnungen und Aufnahmen, die aufgrund des gegenwärtigen Gletschersterbens jedoch aktueller sind denn je und in "wunderbarer Klarheit" - ein Ausdruck, den Simony für die Gipfelaussicht des Hohen Dachsteins prägte - die seit 150 Jahren andauernde Eismeer-Ebbe zeigen.

1840 kam Simony mit 27 Jahren zum ersten Mal in die Dachsteinregion, vernarrte sich in diesen Gebirgsstock und machte ihn, abgesehen von ein paar intensiven Seitensprüngen mit dem Großvenediger, zu seinem lebenslangen alpinen und naturwissenschaftlichen Eldorado zugleich. Simonys akademisches Goldschürfen nach Wissen und Einsicht führte ihn tief nach unten und weit hinauf. Als ihn Adalbert Stifter 1846 in Hallstatt besuchte, waren am Boden seines Arbeitszimmers eine Winde und die dazugehörige Messschnur zum Trocknen ausgelegt, mit denen Simony die Tiefen des Hallstätter Sees auslotete.

Stifters Begeisterung

Bergschuhe, Steigeisen, Geologenhammer lagen auf Tischen neben getrockneten Pflanzen, Schwersteinen und Schreibzeug; an den Wänden hingen Panoramen, Tiefenkarten, Landschaftsskizzen; Zeichenrequisiten, Bücher sowie ein Klavier füllten den Rest des Raumes und ließen Stifter freudig in die Hände klatschend ausrufen: "Das nenn’ ich mir eine Arbeitsstube, wo es unsereinen natürwüchsig anheimelt, da herrscht noch nicht die Tyrannei der ewig aufräumenden Hausfrau." Beeindruckt von derartiger Freiheit und Simonys Esprit, setzte ihm der Schriftsteller im Roman "Nachsommer" mit der Charakterisierung der Hauptfigur und dem im Text beschriebenen fiktiven "Simmigletscher" ein literarisches Denkmal.

Als Inspirationsquelle war Simony zweifellos auch wegen seiner Abenteuerlust, die ihn sogar im Winter und entgegen allen Warnungen der Einheimischen auf "seinen" Dachsteingipfel steigen ließ, und aufgrund seiner "exzentrischen Persönlichkeit" geeignet, wie Bonartes-Ausstellungskuratorin Magdalena Vuković, den Geografen und Glaziologen beschreibt.

Für die Arbeit der Fotohistorikerin entscheidend sind jedoch Simonys Qualitäten als Fotograf und "Apostel des Anschauungsunterrichts", die er als erster Professor für Geografie an der Universität Wien an seine Studierenden vermittelte und mit seinem 1889 bis 1895 erschienenen "geographischen Charakterbild" über das Dachsteingebirge zur Meisterschaft brachte: "Simonys jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Landschaftsdarstellungen für den wissenschaftlichen Gebrauch fand in diesen Hochgebirgsfotografien ihren Höhepunkt."

Glaziale Inschriften

Angetrieben wurde Simonys anfangs zeichnerische und später fotografische Spurensuche nach den Hinterlassenschaften der uralten und nach wie vor wirkenden Gletscherkräfte von seiner Überzeugung, "dass der Boden, welcher uns umgibt, seine Geschichte in seinem Antlitz verzeichnet enthält. Allerdings sind es Hieroglyphen, in welchen dieselbe geschrieben ist, aber sie können entziffert werden von Jedem, der sich Mühe gibt, sie zu studiren".

Friedrich Simony, "Das Carls-Eisfeld am 27. September 1890", Lichtdruck.
© Sammlung Andreas Aichinger

In den Jahrzehnten, bevor sich Simony an die Übersetzung der glazialen Inschriften der Dachsteingletscher machte, hatten sich bereits Forscher in den französischen Alpen auf die Suche nach dem alpinen "Stein von Rosette" gemacht, mit dessen Hilfe die Aufwölbung der Berge und Absenkung der Täler erklärt und die darin verzeichneten Gletscher-
Hieroglyphen entziffert werden konnten. Riesige Fossiliensammlungen entstanden, die nicht nur auf ausgestorbene Arten verwiesen, sondern auch als Beweis gedeutet werden konnten, dass der Planet enorme klimatische und topographische Umwälzungen durchgemacht hatte.

Die orthodoxe, nach wie vor auf wörtlich ausgelegten biblischen Erzählungen beruhende oder zumindest mit ihnen in Einklang stehende Wissenschaft wehrte sich gegen derartige neue Theorien: Fossilien seien die Überreste jener Geschöpfe, welche keinen Platz in der Arche Noah fanden, riesige im flachen Land verstreute erratische Blöcke seien von der Sintflut hinterlassene Gesteinstrümmer, und die seltsamen vertikalen Felsschichten in den Alpen und anderen Gebirgen verdankten sich wohl Gottes Mechanik bei der Schaffung der Welt.

Doch jeder Forscher, der mit seinem Hammer durch die Alpen zog und mit Gesteinsproben, Messergebnissen und vollgezeichneten Notizblöcken in die Hörsäle zurückkam, steigerte das Unbehagen und befeuerte die ketzerische Meinung, dass das orthodoxe Wissenschaftsdenken nicht der Wirklichkeit entsprach. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Stimmen immer lauter, die allein den Gletschern die zur Beförderung von erratischen Blöcken fähige Naturkraft zutrauten.

Einer dieser Zweifler war Louis Agassiz, ein Schweizer Pfarrerssohn und fünf Jahre älter als Simony. Bei einer Gletscheruntersuchung 1836 in Bex stürzte sein bis dato stabiles orthodoxes Wissensgebäude ein. Er verkündete nach diesem akademischen Damaskus-Erlebnis, Eis sei einst allgegenwärtig gewesen und die gesamte europäische Landschaft wäre von Gletschern als "die große Pflugschar Gottes" geformt. Ein radikaler Bruch mit allen bisher gedachten und gelehrten Theorien.

"Wenn man Agassiz einmal zugesteht, daß seine tiefsten Schweizer Täler (. . .) einst mit Schnee und Eis gefüllt waren, dann sehe ich keinen Halt mehr", brüllte Sir Roderick Murchison von derRoyal Geographical Society. Und selbst der Agassiz wohlgesinnte Forscherkollege Alexander von Humboldt, unorthodoxem Denken ansonsten nicht fremdstehend, riet dem Sturm-und-Drang-Eiszeitverfechter, die Gletscher sein zu lassen und zu seinem Kernthema, den Fossilfischen, zurückzukehren.

"Wiener Zeitung"-Artikel

Aber der "faule Zauber", wie Agassiz’ Thesen verurteilt wurden, zeigte zur Bestürzung der organisierten Wissenschaft Wirkung und fand überall in Europa Anhänger, die sich auf Recherchetouren ins Hochgebirge machten. Und so wie Agassiz 1840 ein Forscherlager unter einem überhängenden Felsen auf halber Strecke der Mittelmoräne des Unteraar-Gletschers im Berner Oberland aufschlug, so bezog Friedrich Simony die "Jodlerhütte" in der Wiesalpe oberhalb von Hallstatt als Ausgangspunkt für seine Gletschermessungen und Untersuchungen der vielfältigen Erosionsformen.

Waren ihre Unterkünfte auch bescheiden, ihre wissenschaftliche Inventarliste stand mit Barometer, Thermometer, Hygrometer, Hypsometer, Mikroskop und - nicht zu vergessen - einer Vorrichtung zum Bohren von Löchern ins Gletschereis auf der Höhe ihrer Zeit. Der höchste Ausrüstungsstandard war auch notwendig, galt es doch nichts Geringeres zu beweisen als "Die Spuren der vorgeschichtlichen Eiszeit im Salzkammergute", wie Simony seinen in zwei Teilen in der "Wiener Zeitung" vom 3. und 17. Mai 1846 erschienenen Aufsatz betitelte.

"Noch immer findet die Hypothese, daß einst Europa, oder doch ein großer Theil desselben, vorzüglich das Alpenland, unter großen Gletschermeeren begraben lag, trotz der mannigfaltigsten Thatsachen, auf welche bereits die Geologen Charpentier, Venetz, Agassitz, Forbes, Hugi u. a. ihre Ansichten begründet haben, zahlreiche Widersacher", erklärte Simony zu Beginn des Artikels den Grund für seine Ausführungen.

Um dann nach einer detaillierten Auflistung zahlreicher Gletscher-Hieroglyphen und ihrer Übersetzung festzuhalten: "Ueberschauen wir nun noch einmahl alle bisher beschriebenen Thatsachen und fassen wir die Erklärungen, die wir für sie bereits teilweise aufgesucht haben, zusammen, so ergibt sich, daß wir aus den verschiedenen Karrengebilden und aus dem erratischen Schütte, welche beyde in bestimmter Ausdehnung vorzugsweise auf dem Dachsteinstocke, dann aber auch auf den übrigen bedeutenderen Gebirgen des Salzkammergutes gefunden werden, mit Evidenz das einstige Vorhandenseyn weit ausgedehnter Gletscher, die sich, mindestens stellenweise, bis an den Fuß der genannten Alpen erstreckt hatten, nachweisen können."

Heute dienen Simonys Studien und Fotografien zur Dokumentation des Gletscherrückgangs und als "Symbol des anthropogenen Klimawandels", schreibt Andrea Fischer, die Leiterin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck, im Katalog zur Bonartes-Ausstellung. Simonys Darstellungen von Gletschern und glazialen Landschaftsformen haben wesentlich zur modernen Klimaforschung beigetragen, attestiert sie einem der Begründer ihrer Wissenschaft. Durch Simonys "akribische Dokumentation der Veränderungen des Karleisfeldes (heute: Hallstätter Gletscher) am Dachstein stellt dieser Gletscher heute einen der am besten dokumentierten dar. Im Jahr 2006 wurde aus diesem Grund das Monitoring der Änderungen des Hallstätter Gletschers wieder aufgenommen.

Radikale Prognosen

Die dabei angewandten wissenschaftlichen Methoden "unterscheiden sich im Prinzip nicht substanziell vom Ansatz Simonys", erklärt Fischer. Und auch im Ergebnis gibt es Parallelen. Nach wenigen Jahren, in denen Simony noch ein Vorrücken der Dachstein-Gletscher messen konnte, musste er von 1856 an einen kontinuierlichen Rückgang feststellen - der bis heute nicht nur anhält, sondern in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen hat.

© Machreich

Im Schnitt geht die Eisdicke der österreichischen Gletscher jährlich um einen Meter zurück. In den nächsten 20, 30 Jahren wird somit viel an Eisdicke verloren gehen - und weniger an Gletscherfläche, sagen die Experten voraus, da vor allem die großen Gletscher, wie etwa die Pasterze am Großglockner, noch über relativ dicke Eiszungen verfügen. Danach aber werde, sollten sich die klimatischen Rahmenbedingungen nicht ändern, der Verlust an Fläche umso schneller erfolgen. Andrea Fischers Szenario lautet: "In 150 Jahren ist alles weg - aus derzeitiger Sicht spricht nichts gegen diese Prognose. Selbst unter derzeitigen Klimabedingungen ist ein Großteil der Alpengletscher nicht haltbar. Auch wenn der Klimawandel nicht fortschreitet, gibt es eine massive Gletscherreduktion."

1885 trat Simony in den Ruhestand, fünf Jahre später bestieg er ein letztes Mal den Dachstein, 1896 starb er. Seither ist die Temperatur in den Alpen kontinuierlich gestiegen, seit 1880 um zwei Grad. Das heißt, die bei diversen Klimagipfeln als Mindestziel angestrebte Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius ist in den Alpen jetzt schon erreicht.

Für den Züricher Glaziologen Wilfried Haeberli geht mit dem Gletscherschwund auch ein Verlust an Heimatgefühl einher: "Die Leute lieben die Gletscher und trauern, wenn sie nicht mehr da sind", sagte er vor einigen Jahren bei einem Treffen von Gletscherforschern und Journalisten im Rauriser Tal: "Und die Leute fangen an zu realisieren, dass wir vielleicht nicht unschuldig an dieser Entwicklung sind. Die entgletscherten Alpen werden für die kommenden Generationen ein Beweis dafür sein, was letztlich unsere Generation verursacht hat."

"Heißzeitgedanken"

Wobei sich dieser Beziehungszusammenhang zwischen Mensch und Gletscher schon in den uralten Sagen findet, die das Vordringen der Gletscher als Reak-
tion auf das in Saus und Braus lebende, selbstsüchtige und arme Bittsteller abweisende Alm- und Bauernvolk erklärt. Werner Slupetzky, Pinzgauer Gletschermesser mit Wiener Wurzeln, zieht in einem Artikel mit dem Titel "Heißzeitgedanken" im Alpenvereins-Magazin "Bergauf" auch für die heutige Zeit eine Parallele zwischen menschlichem Verhalten und Gletscher-Reaktion:

"Man könnte auf den Gedanken kommen, die Überhitzung der Gemüter, die Hektik, Stress, der seelische Druck und Überdruck der Menschen führt zu einer Überhitzung der Erde. Die Außenweltüberhitzung ist abhängig von unserer Innenweltüberhitzung." Der deutsche Volkskundler Martin Scharfe kommt zum gleichen Resümee, wenn er die Alpen den empfindlichsten Seismographen für die Wirkungen der menschlichen Zivilisation nennt: "Es grinst uns also heute aus den Alpen die Fratze unserer eigenen kulturellen Bedürfnisse und Lüste entgegen."

© Machreich

Die schmelzenden Gletscher werden somit zum Demonstra-
tionsphänomen für den Klimawandel schlechthin. Für Friedrich Simony keine Überraschung, waren die Gletscher für ihn doch immer schon das "wandelbarste aller starren Gebilde der Erdoberfläche". Würde er heute noch leben, am Rande seiner Dachsteingletscher stehen und eine Trauerprozession die Moränenkegel heraufmarschieren sehen, würde er sich ihr wohl anschließen, aber nicht ohne Geologenhammer und Fotoapparat in den Händen - und mit einem "von wunderbarer Klarheit" geprägten Blick für "die Natur, auf der wir leben, in der es kein Verharren geben kann".

Hinweis:
Die Ausstellung "Von wunderbarer Klarheit. Friedrich Simonys Gletscherfotografien 1875 -1891" ist noch bis 20. Dezember im Photoinstitut Bonartes, Seilerstätte 22, 1010 Wien, zu sehen. www.bonartes.org

Wolfgang Machreich, freier Autor und Journalist, zuletzt erschienen: "EU-Gipfel – 28 Höhepunkte Europas, auf die man stehen muss" (traveldiary Reiseliteraturverlag).