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Ohren auf für die nahe Zukunft

Von Bruno Jaschke

Reflexionen
Zwischen schnellem Konsum und Liebhaberphänomen: Hörgewohnheiten variieren - und verändern sich.
© WZ-Illustration / ham

Experten versuchen zu ergründen, wie und auf welchen Kanälen wir im Jahr 2030 Musik konsumieren werden. - Viel, aber nicht alles wird sich ändern.


Musik wird nicht mehr über Tonträger und Geräte, sondern vielmehr per Signal direkt in das Ohr des Hörers übermittelt. Globale Datendienste stellen die Musik bereit; spezielle Systeme stimmen sie auf den individuellen Geschmack ab und organisieren ihren Einsatz für unterschiedliche Tätigkeiten - Workout, Kochen, Essen, Arbeit im Homeoffice etc. Die Datendienstleister wissen die Signale auch individuellen Beeinträchtigungen der Hörfähigkeit anzupassen. Ohne diese selbstverständliche Angleichung würde sich Musikhören für Menschen mit Gehördefiziten anfühlen wie für Fehlsichtige Sehen ohne Brille - verschwommen, unscharf, schemenhaft.

Soziale Tendenzen

Das sind, von einem Medienwissenschafter und einem Professor der Musikwissenschaft, im Jänner 2020 für die "FAZ" erstellt, drei ineinandergreifende von acht Szenarien, wie wir 2030 Musik hören werden. Dieselbe Frage stellt sich in Österreich eine Kooperation des IT-Dienstleisters PhonoNet, des Labels Sony Music Austria und der WU Wien.

Die Untersuchung stellt neben der technologischen Entwicklung auch mögliche soziale Tendenzen - in Richtung einer egalitären oder aber sehr ungleichen Gesellschaft - in Rechnung. "Die eher Technologieskeptischen", erläutert Albert Manzinger, Geschäftsführer von PhonoNet, "werden eher auf Live-Musik und herkömmliche Tonträger setzen, also bei Vinyl, CD und/oder Smartphone - das wir mittlerweile auch hier dazuzählen - bleiben. Diese Personengruppe hat meistens auch ein eingeschränktes Budget. Auf der anderen Seite sehen wir die ,Tekkies‘, die über hohe Einkommen verfügen, sich für technologischen Fortschritt begeistern und dessen Möglichkeiten nützen wollen und können. Sie werden verstärkt Virtual Reality, Voice Recognition oder neuronale Netze nutzen und zunehmend auf herkömmliche Geräte verzichten."

Eine Bruchlinie kann sich dabei, wie Manzinger zu bedenken gibt, durch den Datenschutz auftun: "Wir erleben auf der einen Seite Menschen, die gerne alles über sich preisgeben, damit sie von der Technik stark unterstützt oder entlastet werden, und auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich jene, die möglichst nichts von sich preisgeben wollen und deshalb die fortschreitende Technik - etwa künstliche Intelligenz - nicht entsprechend nutzen können oder wollen."

Musikhören hat sich immer der Möglichkeiten bedient, maximal viele Menschen zu erreichen. Bevor Musik aufgezeichnet und reproduziert werden konnte, war die effektivste Verbreitungsmethode, sie an Orten mit großem Zulauf aufzuführen: auf dem Dorfplatz, bei Volksfesten, in bürgerlichen Salons, in Konzerthäusern. Seit ihre technische Vervielfältigung möglich ist, ist entweder die Wiedergabequalität stetig verbessert oder aber die Praktikabilität für vielfältigere, vor allem mobile Einsatzmöglichkeiten durch geeignete Kanäle - vom Walkman über den MP3-Player bis zu den heute gängigen Streaming-Diensten - erweitert worden.

Eine gewisse Zäsur in dieser Geschichte stellt nur die CD dar, die ohne klanglichen oder praktischen Mehrwert in den späten 80er Jahren von der Musikindustrie mit dem Argument der ewigen Haltbarkeit eingeführt worden war und, obwohl billiger in den Herstellungskosten, teurer als die bis dahin marktbeherrschende Vinyl-LP verkauft wurde. Die CD dominierte das Musikbusiness in den 90er Jahren bis in die Nullerjahre, ehe sie mit dem Internet gegen illegales Filesharing, reguläre Downloads und Streaming Anteile verlor.

LP vor CD in den USA

Noch im Jahr 2010 wurden in Österreich mit CDs 125 Millionen Euro umgesetzt. 2020 waren es gerade noch 30 Millionen. Dagegen feiert die Vinyl-Langspielplatte ein nun schon länger andauerndes Comeback: Immerhin haben sich hierzulande im abgelaufenen Jahr die LP-Umsätze von 7,8 Millionen Euro auf 9 Millionen Euro gesteigert. In den USA haben die großen, (meist) schwarzen Scheiben erstmals seit Menschengedenken wieder mehr umgesetzt als die kleinen Silberlinge. Mehr als ein Nischen- und Liebhaberphänomen sind Vinylplatten trotzdem nicht, und ihre im großen Maßstab bescheidenen Zuwächse können nicht verhindern, dass die Marktanteile und Umsätze der physischen Tonträger insgesamt weltweit kontinuierlich schwinden. Die Dystopie von Traditionalisten, dass es in einer absehbaren Zukunft überhaupt keine physischen Tonträger mehr geben werde, teilt unter Experten trotzdem niemand.

Walter Gröbchen, Labelchef (Monkey), Journalist und "Wiener Zeitung"-Kolumnist: "Die LP wird ohne Zweifel als Nischenprodukt überleben - wie auch, zumindest die nächsten 20 Jahre, die CD. Dafür werden allein Sammler und Jäger sorgen. Playlists und Streaming funktionieren generell anders, sie fühlen sich vor allem anders - weit digitaler als haptische Tonträger - an."

Album vs. Häppchen

Walter Gröbchen: "Die LP wird ohne Zweifel als Nischenprodukt überleben - wie auch, zumindest die nächsten 20 Jahre, die CD."

Gröbchen ist auch davon überzeugt, dass HiFi-Anlagen und gute Kopfhörer weiterhin ihre Käufer finden werden. Grosso modo aber werde Musik künftig hauptsächlich über Smartphones gehört werden: "Einfach weil es die flexibelste und praktikabelste, (künstlich) intelligente, immer und überall verfügbare Schnittstelle zum Internet und zu Streaming Services ist. Die Quelle können - und werden - selbstverständlich auch Hi-Bit-Streams sein, z.B. Tidal, demnächst wohl auch Spotify & Co. Audioqualität ist längst kein technisches oder Bandbreiten-Problem mehr. Um die Musik als Kunstform, aber auch als kommerziellen Content mache ich mir überhaupt keine Sorgen."

Auch Albert Manzinger geht davon aus, dass weiterhin physische Tonträger produziert werden. "Allerdings in reduzierter Menge. In welchem Volumen produziert wird, hängt vom Vertriebsweg ab. Der Handel setzt momentan eher auf die Reduzierung der Verkaufsfläche von physischen Tonträgern. Unserer Meinung nach fehlen hier die innovativen Konzepte, um die Käufer am Point of Sale zu begeistern."

Einstige Kernkompetenzen des stationären Handels, die Beratung und Sortimentsbildung, sind ins Internet abgewandert. Übrig geblieben sind ein paar wenige engagierte Geschäfte mit distinguiertem Angebot. Das "Rave Up" in der Wiener Hofmühlgasse etwa bedient selbst entlegenste Nischen in der sogenannten Independent-Szene. Man kommt hierher, um Musik nicht nur zu hören und zu kaufen, sondern auch rege zu diskutieren. "Wir sind ein sozialer Ort", sagt Rainer Reutner, der seit 23 Jahren hier verkauft und Kunden berät. Der seit 1987 bestehende Laden hat sich auch während der Blütezeit der CD auf Vinyl-LPs kapriziert. Dennoch profitiert er von ihrem aktuellen Aufschwung nur bedingt. "Ja, Leute sind umgestiegen, aber: Die Industrie hat das schnell erkannt, sich zunutze gemacht und die Preise hinaufgeschnalzt", so Reutner. Die Folge: Die Preise für Vinyl sind in den letzten Jahren empfindlich gestiegen.

Während die LP als technisches Format sich immerhin erstaunlich robust zeigt, herrscht in nicht unerheblichen Teilen der sogenannten Expertise Sorge um das Album als Einheit und künstlerisches Statement: Streamingdienste wie Spotify, Deezer oder Apple Music forcierten, so wird häufig gewarnt, mit ihren Playlists flüchtiges, beiläufiges Hören und Häppchenkultur (und entlohnen notabene die Musiker miserabel).

Die französische Philosophin und Musikerin Agnès Gayraud, Autorin des Buches "Dialectique de la pop" (2018), sagt in einem Interview mit dem Berliner "Tagesspiegel" im Dezember 2020: "Viele Künstler konzipieren ihre Musik immer noch als Album. Wir aber hören ihre Lieder unzusammenhängend, wie sie nicht gedacht waren. Streaming ist zudem eine permanente Einladung zum Multitasking."

Vinyl lebt in der Nische, doch das Album als Einheit ist in Gefahr.
© getty images / Ranjitsinh Rathod

Der Musiker und Journalist Robert Rotifer, der nie in die apokalyptischen Chöre vom Verfall der Popkultur eingestimmt hat, differenziert: "Vielleicht sollten wir uns zuerst einmal fragen, wann die Krise der Langspielplatte wirklich begonnen hat", holt er aus, "und das geschah wohl eigentlich schon an der Wende zu den Neunzigern mit dem temporären Siegeszug der CD, der die zwei-aktige Dramaturgie der LP ruiniert und erst einmal eine Verlängerung, ja man könnte sagen eine Ausdünnung des Albumformats mit sich gebracht hat. Plötzlich waren 40 Minuten nicht mehr genug, es musste eine Stunde sein. Dadurch wurden natürlich auch jene Songs, die früher Auswurf oder B-Seiten gewesen wären, zum Teil des Albums und damit auch zum Faktor im Niedergang des Formats. Mit dem ersten Retro-Vinyl-Boom zur Jahrtausendwende wurden dann die Alben tendenziell wieder kürzer, aber da war Filesharing einzelner Tracks bereits da, und auch wenn es die Musikindustrie erst später bemerkt hat, konnte sich das Album in den Hörgewohnheiten der damaligen Teenager nicht mehr so etablieren wie in meiner Generation. Ich sehe die Dominanz des Streaming-Konsums also nur als konsequente Vollendung einer schon dreißig Jahre alten Entwicklung."

Nicht wenige Jugendliche schätzten das Album als Artefakt, auch wenn sie es nicht als Hörmedium konsumieren - diese Beobachtung hat Rotifer nicht zuletzt bei seinen eigenen Kindern (18 und 21) gemacht. "Und ein Fetisch ist im Pop ja grundsätzlich nicht ohne Bedeutung, im Gegenteil. Gerade wenn Streaming als Medium so ephemer ist, wird der berührbare Fetisch zum legitimen Selbstzweck."

EP als Zwischenschritt

Für ein Stück Zukunftsoptimismus lohnt es sich, Rotifer auf einem historischen Schlenker zu folgen: 1966, so argumentiert der Wahl-Engländer wienerischer Abstammung, war das Album - damals wegen seines hohen Preises - noch ein Minderheitenprodukt gegenüber dem marktbeherrschenden Format Single. Diese Tatsache unterminiere aber in keiner Weise den Rang von Werken wie "Revolver" (Beatles), "Pet Sounds" (Beach Boys) oder "Face To Face" (Kinks).

"Das Lustige ist ja, dass junge Acts heute genau wie damals wieder stark zur EP als Zwischenschritt tendieren. Das ist ein Aufzeigen: Ich will eigentlich mehr erzählen, als nur ein Song verrät. Man könnte sogar behaupten, es weist darauf hin, dass das Album von einem automatischen Teil des Karrierezyklus erstmals überhaupt zu einem ganz bewussten, vom Markt gar nicht mehr verlangten, künstlerischen Statement wird. Das heißt, es wird in Zukunft weniger Alben geben, sie werden weniger verkaufen, aber sie werden wirklich durchdachte Werke sein. Das ist meine optimistische Auslegung."

Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in
Wien und ist ständiger Mitarbeiter der "extra"-"music"-Seite.