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Marcel Proust: Ein Quantum reiner Zeit

Von Otto A. Böhmer

Reflexionen
Porträt von Marcel Proust von Jacques Emile Blanche, 1892 (Ausschnitt).
© Christophel Fine Art / Universal Images Group via getty images

Der vor 150 Jahren geborene Schriftsteller entdeckte eine besondere Form der Erinnerung.


Marcel Proust, dessen Hauptwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" längst zur Programmschrift geworden ist, wusste bereits als Bub, dass er Schriftsteller werden wollte: "So nun, völlig außerhalb von jeder literarischen Absicht und ohne einen Gedanken daran, fühlte ich meine Aufmerksamkeit gefangen von einem Dach, einem Sonnenreflex auf einem Stein, dem Geruch eines Weges, und zwar gewährten sie mir dabei ein spezielles Vergnügen, das wohl daher kam, dass sie aussahen, als hielten sie hinter dem, was ich sah, noch etwas verborgen, das sie mich zu suchen aufforderten..."

Mit geschlossenen Augen sehen, um zum Kern der Dinge vorzudringen: Dieser Erkenntnisschulung unterzieht sich der junge Proust mit einer Leidenschaft, die seine Altersgenossen eher in die üblichen Zerstreuungen investieren. Trotzdem oder gerade deswegen hat er daran seinen Spaß; seine Erkundung der Welt, das ahnt er früh, ist eine Wahrheitssuche, die keinen Anfang und kein Ende kennt.

Empfindsame Mutter

Marcel Proust wird am 10. Juli 1871 in Paris geboren. Der Vater ist Professor für Hygiene und als Generalinspekteur der Sanitätsdienste ein anerkannter und wohl auch gefürchteter Fachmann; die literarischen Ambitionen seines Sohnes, der seiner Meinung nach lieber Jurist oder Bankier werden soll, verfolgt er, seiner Profession gemäß, mit gesundem Misstrauen. Den vollkommenen Gegenpart zum strengen und ernüchternden Vater verkörpert die Mutter: Jeanne Proust wird als zartes, hochempfindsames Geschöpf geschildert, in deren Liebe sich der kleine Marcel so dauerhaft einhaust, dass er davon auch als Erwachsener nicht lassen mag. Er ist ein kränkelndes Kind; mit acht Jahren erleidet er erste heftige Asthmaanfälle, die ihn ein Leben lang begleiten; seine Krankheit macht er gern zum Thema.

Tatsächlich gewöhnt sich Proust an die Krankheit, so wie sich auch die anderen daran gewöhnen, die seine Klagen nicht recht ernst nehmen. Der zarte Junge aus wohlhabendem Elternhaus wird geschont und erlebt eine behütete Kindheit, deren Hüterin vor allem die Mutter ist; der Vater geht mit freudloser Miene seinen Amtsgeschäften nach. In Paris besucht Proust das renommierte Lycée Condorcet; er interessiert sich für Literatur und, mehr noch, für Philosophie. Auch die Sprache der Naturwissenschaften, die damals beginnen, ihren bis heute immer höher aufgetürmten Erkenntnisanspruch zu errichten, färbt auf ihn ab, was allerdings ein eher unmerklicher Prozess ist, der sich erst später, in den Beschreibungskünsten seines Hauptwerks, zu erkennen gibt.

Die Ferien verbringen die Prousts meist in Illiers in der Nähe von Chartres, wo die Familie seines Vaters ihre Wurzeln hat. Beauce und Perche heißen die historischen Landschaften, die hier ineinander übergehen und sich, auf anmutige Hügel verteilt, zu einem Ensemble von Wäldern und Wiesen, von Städtchen und beschaulichen Herrensitzen formieren, das Proust später zur literarischen Landschaft von Combray veredelt, einer Region, die sich dem Blick anschmiegt und tiefere Spuren hinterlässt als das Original, dem sie nachempfunden wurde.

Marcel Prousts Grab auf dem Cimetière du Père-Lachaise in Paris.
© Paul Louis, CC BY-SA 3.0

Besonders angetan haben es ihm die Kirchtürme von Martinville; an ihnen erprobt der angehende Dichter, in behutsamen Annäherungen, die Möglichkeiten seiner Sprache: "An einer Wegbiegung hatte ich auf einmal jenes besondere Lustgefühl, das keinem anderen glich, beim Anblick der beiden Kirchtürme von Martinville, auf denen der Widerschein der sinkenden Sonne lag und die infolge der Wagenbewegung und der Windung der Straße den Platz zu wechseln schienen (...) Beim Feststellen und Einprägen der Form ihrer Spitze, der Verschiebung ihrer Linien, der Oberflächen, auf denen die Sonne lag, fühlte ich, dass ich noch nicht am Ende meiner Eindrücke war, dass etwas sich noch hinter dieser Bewegung, dieser Helligkeit befand, etwas, das sie zu enthalten und zugleich zu verbergen schienen."

Erstes Buch mit 25

Marcel Proust gehört dem begüterten Bildungsbürgertum an, er hat eine Vorliebe für die Welt der Salons und des müden Adels, der sich mehr mit der Vergangenheit als mit der Zukunft beschäftigt. Seine Herkunft hat indes den Vorteil, dass er sich kaum je Geldsorgen machen muss und auch bei der Berufswahl Gelassenheit an den Tag legen kann. Er studiert an der Sorbonne, dient ein Jahr als Freiwilliger in der Infanterie, wird Assistent an der Mazarin-Bibliothek in Paris; er veröffentlicht Aufsätze und kleinere Prosastücke, all das ohne Leistungsdruck und begleitet von seiner Krankheit, die er, auch weil sie ihm viel Zeit zum Nachdenken lässt, zu seiner eigentlichen Lebensgefährtin erklärt.

Mit 25 veröffentlicht er sein erstes Buch, "Tage der Freuden", das, beschwert durch eine opulente Ausstattung, zu einem beachtlichen Misserfolg wird. Proust lässt sich jedoch nicht beirren, seine Kunst steht in ihrer wesentlichen Wachstums- und Reifephase. Wie man sich das Porträt des Dichters als junger Mann vorzustellen hat, zeigt die Beschreibung eines Freundes: "Er hatte große schwarze Augen, die voller Glanz waren, einen Blick von ungewöhnlicher Sanftmut, eine noch sanftere, etwas atemlose Stimme. Er kleidete sich sehr wählerisch, trug breite Aufschläge aus Seide, eine Rose oder Orchidee im Knopfloch seines Gehrocks, einen Zylinder mit flachem Rand, den man bei Besuchen neben dem Fauteuil ablegte. Mit zunehmender Krankheit und ermutigt durch das Gefühl hinreichender Vertrautheit, das ihm erlaubte, sich nach Belieben anzuziehen, erschien er in den Salons und sogar des Abends nur noch in seinem Pelzmantel, den er im Sommer wie im Winter anbehielt, weil ihn beständig fror."

1903 stirbt Prousts Vater, zwei Jahre später die Mutter. Sie, die immer an ihren Sohn geglaubt hat, kann nicht mehr miterleben, was sich nun doch noch abzuzeichnen beginnt: der literarische Erfolg ihres Sohnes, der so ungewöhnlich ist wie sein gesamtes, auf Nachtrag und Anverwandlung beruhendes Werk.

Andere Wirklichkeit

Von 1909 an schreibt er an seinem Opus magnum, und er entwickelt dafür, notgedrungen, eine Existenzform, die seinem nicht gerade volkstümlichen Erkenntnisinteresse entspricht: Abgeschirmt von der Außenwelt, haust er in einem mit Kork tapezierten Zimmer, in das keine Geräusche und keine profanen Neuigkeiten dringen sollen; die Fenster bleiben geschlossen, aber über "die Arbeit des Bewusstseins", so nennt er sein ausschwärmend feststellendes Schreiben, gewinnen sie Durchlässigkeit zu einer Zeit hin, die nicht mehr ihr gewöhnliches Abschnurren zu erkennen gibt, sondern das Beharrende in Formgebung und Bedeutungsgehalt.

Noch immer stehen die Kirchtürme von Martinville am Horizont, und je mehr die Ansichten, die sie bieten, nachgezeichnet werden können, scheint eine andere Wirklichkeit in ihnen auf: "Ich wusste nicht, weshalb es mich glücklich gemacht hatte, sie zu erblicken (...) Bald darauf war es, als ob die Umrisslinien und besonnten Flächen (...) sich öffneten und etwas, was mir in ihnen verborgen geblieben war, nunmehr erkennen ließen; es kam mir ein Gedanke, der einen Augenblick zuvor noch nicht in meinem Bewusstsein war und der sich zu Worten gestaltete."

Prousts eigentliche Entdeckung ist eine besondere Form der Erinnerung, die sich dort auftut, wo das intellektuelle Gedächtnis nichts mehr aus sich herauszuholen vermag. Das andere, das poetische Gedächtnis entfaltet sich, wenn ein gegenwärtiger Sinneseindruck mit einer Erinnerung verschmilzt, die anscheinend nur darauf wartet, aufgerufen zu werden und sich in ganzer Fülle zu zeigen. Ein neues Wesen im Wissen entsteht, das der Zeit enthoben wird und glückhafte Hellsichtigkeit gewährt.

Berühmte Madeleine

Das berühmteste Beispiel, das Proust für sein kunstvolles Erinnern angibt, benennt einen profanen Vorgang: Der Erzähler kostet ein Stück Madeleine, einen kleinen Kuchen, den er zuvor in Tee aufgeweicht hat: "In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. (...) Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, dass sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie?"

Die Beantwortung dieser Fragen bedeutet, auch die Zeit wiedergefunden zu haben, nach der Proust zuvor so lange schon gesucht hat. Es zeigt sich nämlich, dass die Zeit angehalten werden kann, wenn sie sich der unwillkürlichen Erinnerung ergibt; dann leuchtet das Vergangene wieder auf, klarer als je zuvor, und das Gegenwärtige spricht ihm Gewissheit zu.

Proust setzt eine Grundüberzeugung der platonischen Philosophie in Poesie um; sie besagt, dass es bleibende Urbilder gibt, auf die sich unsere Erkenntnisse in wehmütiger Wiedererinnerung richten. Aus ihr fällt für uns "ein kleines Quantum reiner Zeit" ab, das die Heimkehr in ein geläutertes Ich verspricht: "(...) Eine aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Minute hat in uns, damit er sie erlebe, den von der Ordnung der Zeit freigewordenen Menschen wieder neu erschaffen..."

Proust stirbt am 18. November 1922. Für die Zukunft muss er tatsächlich nichts mehr fürchten: "Alle diese Verpflichtungen, die im gegenwärtigen Dasein nicht hinlänglich begründet sind, scheinen einer anderen, auf Güte, auf Gewissenhaftigkeit, auf Opferbereitschaft basierenden Welt anzugehören, einer Welt, die vollkommen anders als unsere hiesige ist, aus der wir aber gekommen sind, um auf dieser Erde geboren zu werden, bevor wir vielleicht in jene zurückkehren."

Otto A. Böhmer, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main. Zuletzt u.a. von ihm erschienen: "Brüder im Geiste - Heidegger trifft Hölderlin" (Verlag Karl Alber, 2019).