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Literatur für den Liegestuhl

Von Andreas Wirthensohn

Reflexionen

Sind heutige Erzählformen zu sehr "populärem Realismus" verpflichtet? Über Ästhetik und Marketing aktueller Bücher.


Dieser Tage ist wieder einmal ein Bändchen mit Erzählungen von Hartmut Lange erschienen: "Am Osloer Fjord oder der Fremde". In schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht der 1937 in Berlin geborene Autor, der einst als Dramatiker seine literarische Laufbahn begann, seit gut vier Jahrzehnten seine schmalen Bücher, und er erweist sich dabei jedes Mal aufs Neue als Meister der existenzphilosophischen Novelle.

Von der Literaturkritik werden seine Texte nur noch sporadisch wahrgenommen, aber er scheint doch eine anhängliche Leserschaft zu haben. Immerhin hält ihm der renommierte Schweizer Diogenes-Verlag seit langem die Treue. Eines jedoch fällt auf: Diese Art von Literatur scheint im üppig blühenden Garten der Literaturpreise kaum Chancen zu haben. Die letzten Auszeichnungen für Lange jedenfalls sind zwanzig Jahre her: 2004 bekam er den Literatur-Nord-Preis, 2003 den Italo-Svevo-Preis, der bezeichnenderweise ein literarisches Werk für seinen "Eigensinn" ehrt.

Lesegenuss in der Waagrechten war schon immer populär. Illustration aus dem 19. Jahrhundert.
© Getty Images / clu

Lange selbst ist offenbar eher froh, nicht an diesem Preiszirkus teilnehmen zu müssen, wie er in einem poetologischen Essay bekundet: "Wie wenig man bereit ist, die Selbstachtung und psychologische Verfasstheit lebender Schriftsteller in Rechnung zu stellen, zeigt die neuerliche Praxis, Long- und Shortlists für öffentliche Ehrungen zu lancieren, in denen ein Selektionsverfahren herrscht, das an Viehmärkte erinnert."

Wenn kommende Woche zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse der Deutsche Buchpreis verliehen wird, geht es in der Tat nicht nur um literarischen Ruhm, sondern auch ums Geschäft. Denn der 2005 ins Leben gerufene Preis - der inzwischen ein österreichisches und ein Schweizer Pendant gefunden hat - soll mit seinem Long- und Shortlistgewese bewusst den Rummel ums Buch befördern und dem Literaturmarketing dienen.

Man darf konstatieren: Das ist ihm gelungen. Die Preisträger:innen landen regelmäßig weit vorne auf den Bestsellerlisten, und die anderen Titel sichern sich zumindest gut sichtbare Plätze in den Buchhandlungen. Das eigentlich Bemerkenswerte aber ist, dass seit dem ersten Preisträger - das war Arno Geiger mit seinem Roman "Es geht uns gut" - fast durchgängig auch ästhetisch wertvolle Romane als Sieger vom Platz gingen. Ob Uwe Tellkamps "Turm", Terézia Moras "Das Ungeheuer", "Kruso" von Lutz Seiler oder "Annette, ein Heldinnenepos" von Anne Weber - all diese Bücher widerlegen die gern geäußerten Vorwürfe, bei der Titelauswahl spielten vor allem außerliterarische Kriterien und die "Marktgängigkeit" eine Rolle. Das mag im Falle der Longlist durchaus zutreffen, aber am Ende hat sich bisher dann doch immer bemerkenswerte, durchaus auch eigenwillige, nie ganz leicht zu konsumierende Literatur durchgesetzt.

Ein Kritiker gängier Erzählformen: der Germanist Moritz Baßler.
© privat

Glaubt man dem in Münster lehrenden Germanisten Moritz Baßler, so dürften diese Romane (wenn überhaupt) hehre Ausnahmen im vorherrschenden Einheitsbrei der Gegenwartsliteratur sein. In seinen Augen hat sich ein "Populärer Realismus des Erzählens unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu einem globalen Erfolgsmodell entwickelt. Er prägt heute beinahe das gesamte Spektrum unserer narrativen Formen, von anspruchslosen Thrillern und Kriminalromanen über die Fantasy-Literatur und den Mainstream des gehobenen Buchmarktes bis hin zu international hochgeschätzten, mit Preisen versehenen Werken ‚mit Anspruch‘."

Höhenkammliteratur

Baßler nennt das den "Murakami-Franzen-Schlink-Knausgård-Ferrante-Kehlmann-Komplex": "liegestuhltaugliche" Literatur, die Erzählwelten schafft, in denen man sich sogleich wohl und zu Hause fühlt; Romane, die Bedeutsamkeit vorgaukeln, ohne sie in ihren literarischen Verfahren einzulösen; Lektüre für Fans und "Stilgemeinschaften", die am liebsten das lesen, was ohne Mühe zugänglich ist und das eigene Weltbild nicht durcheinanderbringt. Im Anschluss an Umberto Eco nennt Baßler das "Midcult" - ein Gestus, der dem Leser suggeriert, er habe es mit Höhenkammliteratur zu tun, während es sich um gut lesbare Unterhaltungsliteratur handelt, die weit hinter den poetischen Möglichkeiten heutigen Erzählens zurückbleibt (wobei zu fragen ist, ob nicht auch Ecos Romane selbst zu diesem Genre gehören).

Als Baßler diese These im vorigen Jahr in einem bewusst polemischen Essay präsentierte, entspann sich eine matte Feuilletondebatte, die recht schnell wieder in sich zusammenfiel. Nun hat er sie zu einem respektablen Buch ausgebaut - "Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens" (C.H. Beck, 407 Seiten, 24,70 Euro) -, und es ist vor allem deshalb lesenswert, weil man sich wunderbar daran reiben und darüber ärgern kann.

© C.H. Beck

Denn natürlich kann man Baßlers Haltung arrogant nennen: Da werden Autoren, die Jahr für Jahr als Nobelpreisanwärter gehandelt werden, die bei Leserschaft und Kritik hochgeschätzt sind, als "unterkomplexe" Erzähler abgetan. Sie "nehmen die breite und bequeme Straße, wollen aber dennoch am Ende bei der tugendhaften Hochkultur herauskommen", sie schreiben "serielle" Literatur - man denke an die üppigen Mehrbänder von Elena Ferrante und Karl Ove Knausgård -, und frönen einem Realismus, der auf Identifikation setzt und letztlich der "Herzensbildung" dient.

Mit Unbehagen sieht der Philologe zudem, dass auch die Literaturkritik solchem "Populären Realismus" auf den Leim geht und literarische Texte in erster Linie inhaltlich und nicht mehr nach "Form und Kontext" beurteilt. Und wenn sie es denn doch tut, wie das 2019 bei Takis Würgers Roman "Stella" fast durchgängig der Fall war (einem Buch, das sich mit fast kolportagehafter Schreibe dem "schweren" Thema der NS-Judenverfolgung widmet und in seiner erzählerischen Unbedarftheit Bernhard Schlinks "Vorleser" in nichts nachsteht), zeigt sich, dass sie ihre klassische Gatekeeper- und Orientierungsfunktion längst verloren hat: Ein offener Brief aus dem Buchhandel wandte sich gegen solcherlei "Brandrodungskritiken" und verbat sich im Grunde jegliche Einmischung des "elitären" Feuilletons in die Geschmacksbildung von Buchhändlern und Buchkäufern. Sollte wohl heißen: Gute Literatur ist, was die Leute lesen wollen.

Baßlers mehrfaches Unbehagen - gegenüber Lesern, Kritik und Buchbranche - ist in erster Linie Ausdruck einer in der Tat veränderten literarischen Öffentlichkeit: Zum Kritiker kann dank sozialer Medien und Rezensionsforen heute jeder und jede werden, und man darf durchaus vermuten, dass so manche Amazon-Rezension ("Dieses Buch hat mich total begeistert, ich konnte es nicht mehr aus der Hand legen") mehr kauffördernde Wirkung zeitigt als die Besprechung im Feuilleton einer Tageszeitung.

Und, ja, es bilden sich neue Lesecommunities heraus, fanartige Lesezirkel im Internet, die mit Freuden jedem neuen Murakami- oder Ferrante-Roman entgegenblicken. Und natürlich spielt die Empfehlung des Buchhändlers meines Vertrauens weiter eine Rolle, aber für viele tut es inzwischen auch der Algorithmus: "Wer Titel A gekauft hat, hat auch Titel B, C, D ... gekauft". Auf wirklich Überraschendes, Ungewohntes, Unvertrautes wird man dabei selten (ge)stoßen.

Doch auch die Literaturkritik hat Identitätsprobleme: Soll sie weiter den ästhetischen Lehrmeister spielen, wenn keiner mehr auf sie hört? Oder soll sie sich - à la Elke Heidenreich oder Christine Westermann - als positiv gestimmte Empfehlungsinstanz für (vor allem) Vielleserinnen präsentieren, die mit ihrer Begeisterung zum Lesen animiert und nicht ihre Zeit darauf verschwendet, an schlechten Büchern herumzunörgeln?

Heute hat es in der Tat oft fast den Anschein, als hätten Buchhandel, Kritik und Verlage einen Pakt zur gemeinsamen Leseförderung geschlossen - durchaus verständlich angesichts der wachsenden Zahl derer, die inzwischen kein einziges Buch mehr zur Hand nehmen. Und die Verlage sind in der Tat immer stärker darauf angewiesen, mit gutverkäuflichen "populärrealistischen" Romanen anspruchsvollere Texte zu finanzieren. Dass dabei die Grenzen zwischen E- und U-Literatur, zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur fließender geworden sind, kommt ihnen dabei durchaus zugute. Dass ein literarisch eher unbedeutendes, vielleicht sogar unbedarftes Werk wie "Der Gesang der Flusskrebse" von Delia Owens zum meistverkauften belletristischen Buch des Jahres 2021 werden konnte, hat auch mit solchen Veränderungen zu tun.

Lesen in der jeweiligen "Blase": Man wählt die Lektüre aufgrund der eigenen Welt- und Lebensanschauungen aus...
© Getty Images/EyeEm

Literatur, so Baßlers Eindruck, soll heute nicht mehr irritieren, den eigenen Blick auf die Welt verändern oder in Frage stellen, sondern "agreeable" sein: Man wählt die Lektüre aufgrund der eigenen Welt- und Lebensanschauungen aus und möchte diese darin bestätigt sehen. Für Baßler ist das vor allem ein Merkmal des "neuen Midcult", wo es vornehmlich um Identität geht und darum, wer überhaupt worüber schreiben darf: Als Leser will ich mich mit dem Gelesenen und der darin präsentierten Weltsicht identifizieren, und das geht am besten, wenn die Authentizität des Erzählten verbürgt ist.

Das Lesen wird damit zur Komfortzone oder zur Blase, ein Buch ist nicht die "Axt für das gefrorene Meer in uns", wie Franz Kafka das einst nannte, sondern Mittel zur Selbstverständigung (gerne auch als Gemeinschaft von Gleichgesinnten).

Kulturverfallsklage

Mitunter klingt Baßlers Analyse ein wenig nach Kulturverfallsklage, und in der Tat gab es schon mal bessere Zeiten für schwierige, avantgardistische Literatur: Man denke an die 1960er Jahre, als die "experimentelle" Literatur von Oswald Wiener ("die verbesserung von mitteleuropa"), Gert Jonke ("Geometrischer Heimatroman") oder Jürgen Becker ("Ränder") um keinen Preis im klassischen Sinne "erzählen" wollte - und damit durchaus erfolgreich war. Man glaubt es heute kaum, aber 1970 konnte sich ein Verlag wie Suhrkamp sogar mit einem Band mit Hörspielen (!) von Peter Handke über fünfstellige Verkaufszahlen freuen.

Ja, Baßler hat recht, das realistische Schreiben hat sich als maßgebliches Erzählverfahren durchgesetzt, aber wie er selbst zeigt, gibt es durchaus auch realistische Schreibweisen, die komplexer, weniger leicht konsumierbar und zeitgemäßer sind als der beklagte "International Style": von Autoren wie Leif Randt, Joshua Groß oder Angelika Meier oder von Größen des deutschsprachigen Popromans wie Christian Kracht oder Wolf Haas. Er spricht von "Kalkülromanen": "Sie reproduzieren eben nicht einfach das Erwartete und geben es als ihre Bedeutung aus. Sie behaupten auch nicht, die Welt wesentlicher zu verstehen und richtiger darzustellen als andere." Vor allem schaffen sie es laut Baßler - anders als die alten Avantgarden -, das Gutlesen (also die Lektüre guter Literatur) mit dem Gernelesen zu versöhnen.

Nur: Das identifikatorische, emotionale Lesen, das Baßler - als Philologe sei es ihm erlaubt - hier etwas scheel anblickt, war vermutlich schon immer die häufigste Art literarischer Rezeption. Hätten die Menschen Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" vor allem mit kühlem Blick auf das literarische Verfahren gelesen, hätte es vermutlich keine "Werthermanie" (inklusive der vielen Nachahmungssuizide) gegeben. Literatur ist bei allem Realismus immer Möglichkeitsraum, und wer Schlinks "Vorleser" liebt, kann mit den Romanen Jonathan Franzens und den ausufernden Selbstbeobachtungen eines Karl Ove Knausgård vermutlich wenig anfangen.

Die Welt der Literatur ist - trotz allen Geredes von einer Krise des Lesens - vielfältiger denn je, und vielleicht ist eher diese unüberschaubare Vielfalt das Problem: Um nicht unterzugehen in der Unmenge an literarischen Neuerscheinungen, orientieren sich viele Leser an dem, was andere lesen: Die Vielen können nicht irren! Das dürfte auch im Falle des Deutschen Buchpreises gelten. Egal, welches Buch in diesem Jahr das Rennen macht: Viele werden es genau deshalb lesen, und ganz leicht wird es ihnen keiner der sechs nominierten Titel machen, Viehmarkt hin oder her. Denn wie sagte schon Peter Handke: "Der Nachteil bei großer Literatur ist, dass jedes Arschloch sich damit identifizieren kann."

Andreas Wirthensohn, geboren 1967, lebt als freier Lektor, Übersetzer und Literaturkritiker in München. Er ist ständiger Rezensent und Glossist im "extra".