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Der letzte Mann auf dem Mond

Von Christian Pinter

Reflexionen
Apollo-17-Kommandant Eugene Cernan, staubbedeckt in der Mondlandefähre.
© NASA

Vor 50 Jahren endete die Ära der bemannten Mondflüge mit Eugene Cernan und Apollo 17. Ein Blick zurück in die Zukunft.


Mehr als eine halbe Million Menschen versammelt sich in der Nacht zum 7. Dezember 1972 nahe dem Kennedy Space Center in Florida, um den Beginn der Mondreise von Apollo 17 mitzuerleben. Es wird keine weitere derartige Gelegenheit geben, denn die Mondmissionen Apollo 18, 19 und 20 wurden aus Kostengründen gestrichen.

Anfangs ging es bei dem von John F. Kennedy initiierten Mondprojekt vor allem um das nationale Prestige. Nach der ersten bemannten Landung im Juli 1969 verschob sich der Schwerpunkt. Die Astronauten sollten ein zunehmend umfangreicheres Pensum an wissenschaftlichen Untersuchungen abarbeiten und länger auf dem Mond verweilen. Außerdem wählte man immer interessantere, aber auch schwierigere Landeplätze.

Am 16. April 1972 hob Apollo 16 ab. Kommandant John Young und Thomas Mattingly, der Pilot des Apollo-Raumschiffs, stammten von der Marine, der Weltraumneuling Charles Duke von der Luftwaffe. Young und Duke absolvierten zuvor Fahrübungen mit dem Mondrover in der gesperrten Nevada Test Site: Eine Unzahl von Kernwaffentests hatte das Gebiet in eine Kraterlandschaft verwandelt.

Der riesige Sudbury-Krater entstand anders, nämlich beim Impakt eines vielleicht 8 km großen Meteoriten vor 1,8 Milliarden Jahren. Der Einschlag traf das Gestein, dessen Trümmer wurden durch den enormen Druck zusammengebacken: Impaktbrekzien blieben zurück. Hier, in Kanada, schärften die Astronauten ihren Blick für einschlägige Gesteine. Denn auch die Krater auf dem Mond gehen auf das Konto von Impakten.

Einzige Chance

Ein Problem mit dem Apollo-Triebwerk sorgte dann im Mondorbit für stundenlanges Kopfzerbrechen. Ein Abbruch der Mission stand im Raum. Während Mattingly im Mutterschiff "Caspar" verblieb, erhielten seine beiden Kollegen am 21. April letztlich doch die Erlaubnis, nördlich des stark erodierten Mondkraters Descartes niederzugehen.

Im Schatten der Landefähre "Orion" stellten sie ein kurzbrennweitiges Teleskop mit 75 mm Öffnung auf. Young schoss damit 178 Bilder von Gasnebeln, Sternhaufen und der äußersten, aus Wasserstoff geformten Schicht der Erdatmosphäre - und zwar im fernen Ultraviolett. So wurde der Mond erstmals zum Standort eines astronomischen Observatoriums.

Eugene Cernan steuert den "fliegenden Teppich".
© NASA

Während ihrer drei Exkursionen nutzten Young und Duke wieder den "fliegenden Teppich", wie der Flugdirektor Gene Kranz den Mondrover scherzhaft nannte. Das vierrädrige Elektroauto half ihnen, Hänge mit bis zu 20 Grad Neigung zu überwinden. Bergab erreichte es ein Tempo von 18 km/h. An den schon vorher festgelegten Stationen hielten die Astronauten an, um 111 handverlesene Proben Mondgesteins einzusammeln. Das größte Beutestück, ebenfalls eine Impaktbrekzie, wog knapp 2 kg auf dem Mond - und somit 11,7 kg auf Erden. Nach dem Abschluss dieser Mondmission blieb den Wissenschaftern nur noch eine einzige Chance für Forschung vor Ort: der für Dezember angesetzte Flug von Apollo 17.

Eugene Cernan hatte sich im Mai 1969 mit Apollo 10 bis auf 14 km an die Mondoberfläche herangewagt. Als die Fähre bei dieser "Mondlandungsgeneralprobe" rasch zu rotieren begann, entfuhren ihm diverse Kraftausdrücke wie "Hurensohn!" - was etliche Zuhörer der Live-Übertragung verstimmte. Während eines Übungsflugs über dem Indian River in Florida touchierte eine Kufe von Cernans Helikopter außerdem die Wasseroberfläche. Ein Flammenmeer war die Folge.

Entsprechend glücklich schätzt sich der ehemalige Kampfpilot, das Kommando über Apollo 17 führen zu dürfen. Eine Prostatainfektion wird verschwiegen. Der Flugarzt verbietet Kaffee, Tee, Bier und Schnaps, empfiehlt ihm aber viel Sex und tägliche Prostatamassagen. Sechs Wochen vor dem Start zieht sich Cernan beim Baseballspielen auch noch eine Beinverletzung zu. Die Krücken legt er möglichst rasch beiseite, die höllischen Schmerzen lässt er sich nicht anmerken. Würde man ihn austauschen, käme er mit Sicherheit nie mehr zum Mond.

Die geologischen Feldstudien hatten die Astronauten unter anderem nach Grönland und in den texanischen Big-Bend-Nationalpark geführt. Mit dabei: der Geologe Harrison Schmitt, von den Kameraden "Dr. Rock" genannt. Er ist der erste Wissenschaftsastronaut der NASA und Pilot der Landefähre "Challenger" (engl., Herausforderer). Das Apollo-Mutterschiff mit dem Funkrufzeichen "America" wird vom Ingenieur Ronald Evans gesteuert. Er stammt wie Cernan von der Navy, wird die Mondoberfläche aber nur vom Mondorbit aus studieren können. Er nimmt ein Fernglas mit an Bord.

Das Münchner Olympia-Attentat vom September 1972 sorgt auch bei der NASA für Beunruhigung. Die Mannschaftsquartiere erhalten schusssichere Stahltüren. FBI-Agenten folgen dem Schulbus der Astronautenkinder. Richard Nixon wünscht der Crew von Apollo 17 telefonisch alles Gute für die Mondreise, um sich dann lange über die Ungerechtigkeit der Welt zu beklagen. "Nixon klang wie ein müder und einsamer alter Mann, der ein isoliertes und leeres Leben in seinem großen Weißen Haus führte, mehr Gefangener als Präsident", hält Cernan fest.

Magische Einsamkeit

Am 11. Dezember 1972, viereinhalb Tage nach ihrem Nachtstart, nähern sich Cernan und Schmitt der lunaren Oberfläche. Sie peilen das von hohen Bergen umstellte Taurus-Littrow-Tal an. Es liegt am Rand des Mare Serenitatis, des Meers der Heiterkeit. Der Danziger Astronom Johannes Hevelius hatte den Namen des türkischen Taurus-Gebirges 1647 erstmals auf den Mond verpflanzt, damit allerdings eine andere Formation gemeint. Das Tal erinnert außerdem an den 1781 geborenen böhmisch-österreichischen Astronomen Joseph Johann Littrow. Er wirkte als Direktor der ersten Wiener Universitätssternwarte. Sein Bemühen, diese vom Stadtzentrum weg an einen günstigeren Ort zu verlegen, trug Früchte - wenngleich erst 43 Jahre nach seinem Tod.

Im Taurus-Littrow-Tal möchte man klären, wie lange Vulkanismus die Geschichte des Mondes mitgeprägt hat. Am Landeplatz liegen aber metergroße Felsblöcke. Die "Challenger" setzt 200 Meter neben dem Zielpunkt und ein wenig schief auf. Im Licht der tiefstehenden Morgensonne klettert man aus der Fähre. Cernan und Schmitt sollen länger als jeder ihrer zehn Vorgänger unter dem luftlosen Mondhimmel arbeiten. Dessen vollkommene Schwärze spannt sich von Horizont zu Horizont. Über den Männern leuchtet die "kobaltblaue Erde, getaucht in unendliche Finsternis": Cernan ist überwältigt von der "stillen magischen Einsamkeit" dieses Ortes, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Kleine Bruchstücke von Impaktgläsern glitzern im grauen Boden wie "Millionen winziger Diamanten".

Der Geologe Harrison Schmitt im verstaubten Raumanzug.
© NASA

Beim Aufstellen der wissenschaftlichen Instrumente fühlen sich die Handschuhe der Druckanzüge steif an wie ein Gipsverband. Die Knöchel reiben sich darin blutig. Die Arme sind schwer wie Blei, die Raumanzüge nassgeschwitzt. Am Rover bricht der rechte hintere "Kotflügel" ab. Deshalb wirbelt dieses Rad eifrig Mondstaub auf. Der streut das Sonnenlicht, stiehlt Cernan beim Steuern zeitweilig die Sicht. Das feine, scharfkantige Material haftet an allem: auch an den weißen Raumanzügen, den Helmen und den Handschuhen.

Damit (und mit dem aufgelesenen Mondgestein) tragen die Männer den Staub auch in die Landefähre. Er sammelt sich wie Dreck unter den Fingernägeln, riecht wie Schießpulver und reizt die Nase. Die Mondfahrer reparieren den "Kotflügel" notdürftig, mit Hilfe von vier zusammengefalteten Geologiekarten, eines Klebebands und Klemmen der Notbeleuchtung.

Orangefarbene Tupfer im Grau des Mondbodens.
© NASA

Das Fehlen jeglicher Farben auf dem Mond irritiert. Doch am Rand des Kraters Shorty legen Schmitts Stiefel etwas höchst Unerwartetes frei. "Es ist überall! Orange!", ruft er seinem Kameraden aufgeregt über Funk zu. Die Färbung stammt von kleinen Glaskügelchen, die mit Basaltfragmenten aus dem Meer der Heiterkeit vermischt sind. Wie sich herausstellen wird, sind sie tatsächlich vulkanischen Ursprungs - aber schon weit über drei Milliarden Jahre alt. Apollo 15 hatte grüne Glaströpfchen vom Mond mitgebracht.

Mehrere Rekorde

Die Männer legen in Summe 36 km im Rover zurück, entfernen sich einmal sogar fast 8 km von der "Challenger". Mehr ist nicht gestattet: Denn bei einem Schaden am "fliegenden Teppich" müssten sie die Landefähre zu Fuß erreichen können. Im Rahmen der drei Ausstiege - sie dauern jeweils gut sieben Stunden - tragen die Männer 115 kg Mondgestein zusammen. Ein Teil wird vakuumverpackt: Diese Behältnisse sind künftigen Forschergenerationen mit besseren Untersuchungsverfahren vorbehalten. Die Mitbringsel vom Mond verraten, wie der Erdbegleiter vor viereinhalb Milliarden geboren wurde - und welchen Entwicklungsweg er einschlug.

Harrison Schmitt nimmt Proben von "Tracy’s Rock".
© NASA

Während der Ausbildung hatte Cernan seine Familie vernachlässigt. Jetzt tauft er einen riesigen Felsbrocken nach seiner Tochter "Tracy’s Rock" und schenkt einem kleinen Krater ihren Spitznamen. Schmitt hat seinen Geologenhammer in weitem Bogen fortgeschleudert und ist in die "Challenger" eingestiegen. Somit steht Commander Cernan als letzter Mensch auf der Mondoberfläche. Er kniet nieder, schreibt Tracys Initialen in den Staub.

Im Naturhistorischen Museum Wien wird ein Stück Apollo-17-Mondgestein aufbewahrt
© Pinter

Apollo 17 bricht mehrere Rekorde. Mit der Wasserung am 19. Dezember 1972 im Pazifik ist die kurze Ära der bemannten Mondlandungen auch schon wieder Geschichte. Nach nicht einmal dreieinhalb Jahren! Selbst dem hartgesottenen Flugdirektor Gene Kranz schießen Tränen in die Augen. Er weiß: Fehler hätte der Mondflug nicht verziehen; Unachtsamkeit, Nachlässigkeit oder Ignoranz rächen sich rasch im All. "Im Rückblick verwundert es mich noch immer, dass wir oft derart viel riskierten und doch immer wieder unbeschadet davonkamen", resümiert er.

Seit damals ist kein Mensch mehr über die Erdumlaufbahn hinaus gelangt. "Manchmal scheint es, dass Apollo vor seiner Zeit gekommen ist", meinte Cernan. Für ihn nahm John F. Kennedy die Zukunft vorweg - und holte etwas in die Sechziger- und Siebzigerjahre, das eigentlich ins 21. Jahrhundert gehört hätte.

Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 1991 über Astrononie im "extra" der "Wiener Zeitung".