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Soundschatten in der Steilkurve

Von Gerald Schmickl

Reflexionen

Überlebenstraining in einer Beton-Wüste - und eindringliche Konzerte, von The Cure bis Wild Beasts und Wilco: Eindrücke vom "Primavera Sound"-Festival in Barcelona.


Zentrum und Höhepunkt des Festivals: ein Dreistunden-Auftritt von The Cure.
© primavera/Erich Pamies

Romantik sieht anders aus. Ein Festival in Barcelona, direkt am Meer - das erweckt Vorstellungen, die sich - betritt man das Gelände des Parc del Fòrum im Südosten der Stadt - rasch als buchstäblich fehl am Platz erweisen. Es ist eine Beton-Wüste, auf unterschiedlichen Stufen angelegt, von einem gigantischen, schräg in den Himmel ragenden Sonnenkollektorendach überwölbt, mit Steilkurven, die an die Rennbahn von Indianapolis erinnern, und einem lediglich steppenartigen Grünstreifen, der mit grobem Kiessand durchsetzt ist.

Hier würde man eher ein Übungsgelände fürs Überlebenstraining in post-atomaren Zeiten vermuten als den Austragungsort von einem von Europas ambitioniertesten Popfestivals, dem "Primavera Sound", das seit 2005 hier stattfindet - so auch heuer, Anfang Juni.

Als Überlebenstraining empfindet man die vielen Stunden im euphemistisch Parc genannten Bunkergelände aber mitunter auch so. Denn die insgesamt acht Bühnen, die auf einer Fläche von fast 80.000 m² aufgestellt sind, erzeugen mit ihren teilweise synchron ablaufenden Programmen eine grelle Kakophonie. Oft wehen mitten in einem Konzert Klangfetzen von einer benachbarten Bühne herüber - oder es bricht sich ein Inferno, das eine Metal-Band (wie etwa Lisabö oder Godflesh) entfacht, an einer Betonwand und jagt als donnernder Querschläger in einen ruhigeren Set hinein.

270 Konzerte

Dazu hat man die Qual der Wahl, denn in den drei Tagen (und Nächten) fanden heuer - von 17 Uhr bis in die frühen Morgenstunden - exakt 201 Konzerte statt. (Und zusätzlich noch 69 an verschiedenen Orten und Clubs in der Stadt, mit einigen Free Concerts an den Tagen davor und danach mitten im Zentrum, beim schönen Triumphbogen, u.a. mit den treibenden Walkmen und dem mondänen Richard Hawley.)

Dabei wird ein mehr als buntes Potpourri des international mehr oder weniger avancierten Indie-Pop und -Rock geboten. Die Liste reichte heuer u.a. von Afghan Whigs, Atlas Sound, Beirut, Codeine, The Drums, The Field, Franz Ferdinand über Girls, Iceage, Josh T. Pearson, Justice, Laura Marling, M83, Marianne Faithful, Mazzy Star, Mudhoney bis zu The Rapture, SBTRKT, Shellac, Spiritualized, The Weeknd, The XX und Yo La Tengo. Und da habe ich jetzt nur die Prominenteren von jenen erwähnt, deren Auftritte ich versäumt habe - weil sie entweder parallel zu anderen interessanten Acts stattfanden oder zu absoluten Unzeiten. Man muss als Besucher solch prall besetzter Festivaltableaus ein erhöhtes Maß an Frustrationstoleranz und Verzichtdemut mitbringen, um mit der natürlichen Aufmerksamkeitsbegrenzung zurande zu kommen.

Dafür wird man dann - in einer Art Katharsis für all die Anstrengungen und Aufwendungen - mit Konzerten belohnt, wie man sie so eindringlich sonst kaum wo sieht und hört. Am ersten Tag war das - neben einem soliden, das Areal der zweiten Großbühne rasant füllenden Gig von Death Cab for Cutie - ein an konzentrierter Dichte und Spielfreude kaum zu überbietender Auftritt der US-Band Wilco. Jeff Tweedy, an sich kein Charmebolzen, sprühte vor Inspiration und Lob für die spezielle Atmosphäre dieses Festivals.

Diese hat weniger mit der bereits hinlänglich beschriebenen Beschaffenheit des Geländes zu tun als viel mehr mit der Aufnahmebereitschaft, Begeisterungsfähigkeit und Gelassenheit des Publikums. An den drei Tagen waren es wiederum rund 120.000 Besucher, die sich durch den Parc del Fòrum schoben. Und zu keiner Zeit, egal an welcher Stelle, sah man - wie bei Festivals in unseren Breiten üblich - Alkoholleichen herumliegen (wobei das Erreichen dieses Zustands mit dem Wasserbier des Festivalhauptsponsors, San Miguel, auch zugegeben schwierig ist) oder irgendwelche Aggressionsakte.

Im Schatten der Sonnenkollektoren: eine mittlere Bühne beim Primavera-Festival.
© © Schmickl

Es herrschte eine erstaunlich entspannte Disziplin unter den immens vielen Brillen- und Bartträgern. (Solche Festivals sind ja auch immer kleine Trendlaufstege.) Mag sein, dass auch das nirgendwo zu überriechende Gras, in welchem man zwar nicht sitzen, das man aber - in Spanien legal - rauchen darf, für friedliche Stimmung sorgte. Und klänge es nicht zynisch und paradox, fragte man sich ja, ob nicht auch die spanische Jugendarbeitslosigkeit zu solch gepflegt müßiggängerischen Tugenden beiträgt. (Für den Besuch von Konzerten um 3 Uhr morgens ist sie jedenfalls nicht von Nachteil...)

Diszipliniert verläuft beim Primavera auch der Zeitplan. Mit schweizerischer Präzision beginnt fast jedes Konzerte auf die Minute genau. Außer, wie am zweiten Tag, eine Gruppe überzieht ihren Auftritt. Aber wer wollte es The Cure verdenken, wenn die - nach vielen Jahren wieder auf der Bühne stehend und vor Spiellaune glühend - einen monströsen Dreistunden-Auftritt hinlegen. Und so erwuchs dieses Marathonkonzert zum Zentrum und Höhepunkt des gesamten Festivals. Zu Beginn sah der fahrig und mehr als üblich zerrupfte Robert Smith ganz so aus, als verschwände er gleich wieder in der Gruft, aus welcher er geholt schien.

Doch mit Fortdauer des alle Phasen der kolossal überlebenswilligen Band durchschreitenden Abends - vom zackigen Post-Punk über gothischen Darkwave bis hin zu hellen Pophymnen - gewann der Sänger und Gitarrist zunehmend an Lebensgeistern. Als Smith und seine vier Mitstreiter (mit dem nach wie vor grandiosen Simon Gallup am in Kniehöhe baumelnden Bass) nach zwei Stunden und einer kurzen Pause nochmals auf die Bühne traten, und alle eine lediglich kurze Zugabe erwarteten, hängten die Fünf frohgemut noch eine weitere Stunde an. Und erschienen danach - im Gegensatz zum erschöpften Publikum (mehr als 20.000 in dicht gedrängter Phalanx) - frischer als zu Beginn. Auch eine Art von Überlebenstraining, das in diesem Sommer noch auf mehreren Festivals zu bestaunen sein wird, u.a. beim Frequency in St. Pölten, wo The Cure Mitte August auftreten.

Unterhielten zu zweit die Massen - und erinnerten an Simon & Garfunkel: die beiden Norweger von Kings Of Convenience.
© © Erich Pamies

Kürzer, aber nicht weniger intensiv geriet der Gig der englischen Wild Beasts, deren Sänger Hayden Thorpe scheinbar um Oktaven höher singt als etwa Victoria Legrand von Beach House, deren verführerischer "Dream Pop" seine ideellen wie akustisch-optischen Grenzen auf einer der Hauptbühnen relativ rasch offenbarte. (Wobei von der französisch-amerikanischen Sängerin generell wenig zu sehen war, sodass jemand im Publikum schon mutmaßte, ob es sich dabei nicht doch um einen Mann handelte. . .)

Central-Park-Feeling

Fast schon rührend waren die beiden blässlichen Norweger der Kings Of Convenience, die mit ihrem lieblichem Gesumm und Geschrumm im milden Abendlicht ein Simon&Garfunkel-im-Central-Park-Feeling aufkommen ließen - und damit eine erkleckliche Masse von der Hauptbühne herunter unterhielten, was den britischen Disco-Pop-Veteranen Saint Etienne am späteren Abend nicht annähernd gelang. Genauso wenig wie - auf bescheidenerer stage - der "Witch Pop"-Newcomerin Grimes (Can), die mit technischen Problemen und eigener Unerheblichkeit zu kämpfen hatte. Auch der virtuos verschachtelte Kunstpop von Field Music (GB) kam aufgrund fehlender Bühnenpräsenz seiner Protagonisten nur schwer zur Geltung - und die Schüchtis von Lower Dens (US) wirkten überhaupt so ängstlich und verkrochen, dass man sie am liebsten an der Hand genommen und zu ihren Eltern zurückgebracht hätte.

Forscher und mutiger gingen da schon die Österreicher von GinGa zu Werke - allerdings als Allererste am allerersten Tag, auf der kleinsten aller Bühnen, im Rahmen eines "Showcase"-Auftritts, einer Art internationaler Popentwicklungshilfe. Später - zeitgleich mit The Cure!- durfte auch noch Bernhard Fleischmann einer handverlesenen Schar zeigen, was er kann (eh viel).

Nein, Österreichern kann man wahrlich nicht raten, beim Primavera aufzutreten - das macht, im Schatten all der überwältigenden Konkurrenz, keinen Spaß (und Sinn). Besser, man ist nur als Besucher dabei - entweder in Barcelona oder, wie an diesem Wochenende, in Porto, wo erstmals ein Primavera-Ableger stattfindet. In einem echten Park. Mit echtem Gras . . .