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Ungebundenes Kulturgut

Von Hermann Schlösser

Reflexionen
Gestaltete Mythologie: Gian Lorenzo Berninis "Apoll und Daphne", Rom, Galleria Borghese.
© Foto: Int3gr4te/Wikipedia

Die Erzählungen, Figuren und Bilder der antiken Mythologie gehören zum Spielmaterial der europäischen Kultur. Es gibt keinen Grund, heute auf die Inspirationen zu verzichten, die dieser alten Tradition entstammen.


Apollo war ein guter Bogenschütze. Als jedoch Amor mit Pfeil und Bogen zu hantieren begann, verwarnte der reife Gott der Künste den puerilen Liebesgott: "Lass das sein", sagte er, "das ist keine Beschäftigung für Buben!" Aber Amor erwiderte frech: "Du magst zwar ein besserer Schütze sein als ich, aber ein Ziel gibt es, das ich treffen kann und Du nicht." Und prompt schoss er einen seiner Liebespfeile ins Herz des Apollo, sodass der in leidenschaftlicher Liebe zur schönen Nymphe Daphne entbrannte.

Amor, bekanntlich ein unübertroffener Meister des Verwirrspiels, tat aber noch mehr, um seinen Götterkollegen zu ärgern: Er platzierte im Herzen der Nymphe einen Abneigungspfeil. Tauchte der verliebte Apoll in ihrer Nähe auf, ergriff sie hastig die Flucht. Je dringlicher sie sich entzog, desto leidenschaftlicher begehrte er sie - das kennt man ja.

Nach vielen vergeblichen Annäherungsversuchen schien der Gott doch ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Wie schon oft, rannte er der Fliehenden nach, und dieses Mal kam er ihr tatsächlich nahe. Aber als er die schöne Nymphe endlich umarmen wollte, verwandelte sich der begehrte Leib unter dem Zugriff seiner Hände in einen Olivenbaum.

Versionen, Varianten

Diese Episode von der spröden Daphne und dem verliebten Apollo (der sein End-"o" im Lauf der Jahrhunderte verlieren wird) entstammt der griechisch-römischen Mythologie und irrlichtert in mannigfaltigen Versionen und Varianten durch die europäische Kulturgeschichte. Ihre berühmteste - aber keineswegs älteste - literarische Gestaltung findet sich im ersten Buch der "Metamorphosen" des Ovid. Dort endet das Ganze mit Apollos heiterer Entsagung: "Da du nicht meine Gemahlin sein kannst, wirst du wenigstens mein Baum sein" meint der Gott, und "der Lorbeer nickte mit den neu entstandenen Ästen und schien den Wipfel wie ein Haupt zu bewegen."

Publius Ovidius Naso, der von 43 v. Chr. bis 17. n. Chr. lebte, hat in seinem weltumspannenden Epos die Geschichte des Erdkreises vom ersten Tag bis zu den Zeiten der glanzvollen Herrschaft des Kaisers Augustus erzählt. Alle Götter, Halbgötter, Menschen und Tiere unterliegen hier der immerwährenden Verwandlung, die der lateinische Poet mit dem griechischen Fremdwort "Metamorphose" bezeichnet.

Ovids Credo, das bis heute allen Kennern und Liebhabern desMythos einleuchtet, heißt: ". . . die ewig schöpferische Natur lässt eine neue Gestalt aus der anderen hervorgehen". Weil Ovid aber ein Dichter war und kein Prediger, begnügte er sich nicht mit beherzigenswerten Sentenzen, sondern erzählte in großer Anschaulichkeit eine Verwandlungsgeschichte nach der anderen. Hier eine kleine Auswahl: Um die schöne Danae lieben zu können, die von ihrem Vater im Verborgenen gehalten wird, erscheint ihr Jupiter nicht als Mensch aus Fleisch und Blut, sondern in der flüchtigen Gestalt eines goldenen Regens, der die Prinzessin sanft umspielt.

Freilich bleibt diese angenehme Ergießung nicht ohne Folgen: Danae wird schwanger und gebiert ihren Sohn Perseus, der als Erwachsener stolze Heldentaten vollbringen wird. Während der göttliche Verführer Jupiter seine jeweilige Erscheinungsform selbst zu wählen pflegt, wird etwa der Prinz Actäon durch Zwangsverwandlung bestraft. Er hat die keusche Göttin Diana und ihr jungfräuliches Gefolge heimlich beim Baden beobachtet, und wird für diesen Frevel in einen Hirsch verwandelt und von den eigenen Jagdgefährten, die ihren Freund in der neuen Gestalt nicht mehr erkennen, zu Tode gehetzt. Hier zeigt sich also, dass es in der antiken Mythologie durchaus nicht immer sanft, heiter und wohltuend zugeht.

Schönheiten im Plural

Ovids "Metamorphosen"-Buch gehört zu den wunderbarsten Geschichtensammlungen der Weltliteratur. Und doch muss man nicht unbedingt dieses Epos lesen, um die Geschichten kennenzulernen, die dort erzählt werden. Im Unterschied zur christlichen Tradition kennt die antike Mythologie keine Bibel. Zwar spielt die Religion auch hier die entscheidende Rolle - ohne Götter geht gar nichts - aber wie die göttlichen Mächte im Plural auftreten, so auch die Quellen, in denen ihre Geschichten tradiert werden. Auch Ovid hat seine "Metamorphosen" nicht erfunden, sondern in diversen schriftlichen und mündlichen Überlieferungen gefunden.

Pluralistisch, wie es in der Antike begann, ging es später auch weiter: Jahrtausende lang wurden die alten Wundertaten, Abenteuer und Romanzen in unterschiedlichen Sprachen und Kunstformen weitergegeben, und dabei umgedeutet und umformuliert. Die antike, polytheistische Gläubigkeit konnte sich zwar gegenüber den monotheistischen Religionen nicht behaupten. Ihre Mythen aber emanzipierten sich vom religiösen Zusammenhang und wurden zu einem wesentlichen Bestandteil der gesamteuropäischen Kultur- und Seelengeschichte.

Weil diese alten Mythen in immer neuen Zusammenhängen auftauchen, lassen sie sich auch immer wieder anders anschauen. Dabei ist man durchaus nicht nur auf das (gesprochene oder geschriebene) Wort angewiesen. Mythologische Szenen gehören - neben den biblischen Geschichten, und nicht selten als Widerspruch gegen sie - zu den Lieblingsmotiven der europäischen Malerei und Bildhauerei.

Zwei Meisterwerke

Um bei "Apoll und Daphne" zu bleiben: Wer Rom kennt, kennt wahrscheinlich auch Gian Lorenzo Berninis schöne Figurengruppe, die zwischen 1622 und 1625 entstand und in der Galleria Borghese zu bewundern ist. (Natürlich findet man sie auch im allwissenden Internet abgebildet, das durchaus keine mythenfreie Zone ist. Von dort ist ihr Bild auch hierher gewandert.)

Aber warum ist diese Skulptur schön? Weil der barocke Bildhauer genau jenen kurzen Moment einfängt, in dem Apoll Daphne zum ersten und zugleich letzten Mal berührt. Just in dem Augenblick, den Bernini zeigt, verwandelt sich die Fliehende: halb ist sie noch Frau, halb schon Baum. Und weil Bernini diese wundersame Verwandlung ins Zentrum seiner Darstellung rückt, wirken seine steinernen Figuren nicht statuarisch, sondern lebendig und temperamentvoll.

Ganz anders (aber ebenso schön) stellt sich die alte Geschichte auf einem Gemälde aus dem 20. Jahrhundert dar. Die Surrealistin Meret Oppenheim, deren vielgestaltiges Werk unlängst im Wiener Bank Austria Kunstforum zu sehen war, hat 1943 ihre Sicht auf Daphne und Apoll gestaltet: Sie zeigt zwei Wesen, die zwar als Mann und Frau kenntlich sind, aber nicht eigentlich als Menschenwesen. Apoll hat sich hier in eine kartoffelartige Pflanze verwandelt - doch kommt er dadurch seiner karottenähnlichen Angebeteten nicht näher. Die Arme (oder Stängel), die er nach dem schlanken Daphne-Gewächs in der anderen Bildhälfte ausstreckt, greifen wie eh und je ins Leere.

Meret Oppenheim hat also den Kern der Überlieferung nicht angetastet, so frei sie auch mit der Vorlage umgegangen ist. Und genau dies ist der Umgang, der die mythischen Modelle und Muster über die Jahrhunderte am Leben gehalten hat: spielerisch frei in der Behandlung der Einzelheiten, aber doch gebunden an die alten Grundmuster. So konnte sich Bernini im 17. Jahrhundert die Geschichte aneignen und Meret Oppenheim im 20.

Und wie sieht die Zukunft aus? Werden Künstler und Künstlerinnen des 21. (oder gar 22.) Jahrhunderts auf die Beschäftigung mit den alten Geschichten und Bildern verzichten? Wahrscheinlich nicht. Denn was Jahrtausende lang möglich gewesen ist, wird nicht schon dadurch undenkbar, dass ein kurzlebiger Zeitgeist an dem alten Zeug kein Interesse mehr hat. Die mythologische Überlieferung ist schon mehr als einmal für tot erklärt worden. Fundamentalistische Christen scheuten vor ihr zurück, weil sie keine anderen Götter neben ihrem wahren Gott anerkennen wollten. Die aufklärerische Rationalität nahm Anstoß an den krassen Unwahrscheinlichkeiten und unglaublich-übersinnlichen Erscheinungen; und die praktische Vernunft störte sich seit eh und je an der Nutzlosigkeit dieser Erzählungen.

Freiheit des Umgangs

All diese Kritikpunkte sind bedenkenswert und haben gute Gründe auf ihrer Seite. Vor allem ist der Vorwurf der Nutzlosigkeit nicht eigentlich zu entkräften. Zur Bewältigung der Euro-Krise ist der Rückgriff auf altgriechische Mythen ebenso wenig hilfreich wie bei der Klärung praktischer Alltagsfragen. Wer wissen will, ob ein Mozilla Firefox leistungsfähiger ist als ein Windows Explorer, wird von Ovid hoffnungslos im Stich gelassen.

Aber zuweilen stellen sich im Leben doch Fragen anderer Art. Wie kann das sein, dass ein Mensch einen anderen liebt, aber nicht wiedergeliebt wird? Das wäre zum Beispiel eine solche Frage, und eine mögliche Antwort darauf ist die Geschichte von Apoll und Daphne. Freilich ist diese Antwort nicht eindeutig und schon gar nicht rational durchsichtig, sondern vielfach schillernd. Amor hat eben zwei einander widersprechende Pfeile abgeschossen. Oder: Vielleicht war Apoll zu besitzergreifend, sodass Daphne unter seinem Zugriff einfach erstarren musste. Oder vielleicht war es auch ganz anders. Wir müssen das nicht klären, es genügt, dass wir - mithilfe einer alten Geschichte - darüber nachdenken.

Sobald es um solche Schwebezustände des Psychischen geht, erweist sich die antike Mythologie bis zum heutigen Tag als lebensfähig. Und diese Dauerhaftigkeit ist paradoxerweise gerade der Beweglichkeit der Überlieferung zu verdanken. Die griechisch-römische Mythologie ist ein Musterfall für ein ungebundenes Kulturgut, das einerseits weit verbreitet, andererseits herrenlos ist. Wer auch immer Lust dazu verspürt, kann sich in diesem unerschöpflichen Fundus an Geschichten, Bildern und Gedanken bedienen und das Gefundene für sich, im eigenen Sinne nutzen.

Hermann Schlösser, geboren 1953, Germanist und Anglist, ist als Redakteur der "extra"-Beilage bei der "Wiener Zeitung" angestellt.

Literaturhinweis:Publius Ovidius Naso: Metamorphosen in fünfzehn Büchern. Zweisprachige Ausgabe, Reclam Verlag, Stuttgart 1994. (Der Urtext ist in Hexametern verfasst, die auf Deutsch sehr viel schwerfälliger einherschreiten als im eleganten Original. Deshalb sei allen Interessenten diese schöne, wortgenaue Prosaübertragung von Michael von Albrecht ans Herz gelegt.)