Lewis Hines Bild von 1910, eine Ikone der Industrialisierung. - © ullstein bild - United Archives/World History Archive
Lewis Hines Bild von 1910, eine Ikone der Industrialisierung. - © ullstein bild - United Archives/World History Archive

Zeit ist Geld. Dieser Satz gilt als Mantra des Kapitalismus. Gemeint ist damit vor allem, dass die Geschwindigkeit in allen Lebenslagen so hoch wie möglich sein soll. Die Devise lautet: Je schneller, umso besser, und wer dies verinnerlicht hat, für den ist der Zweite bereits der erste Verlierer. In den letzten Jahren hat diese Maxime aber noch eine andere Bedeutung bekommen: Die Zeit und unser Umgang mit ihr sind zu einem Wirtschaftsfaktor geworden.

Unzählige Bücher zu diesem Thema werden uns angeboten, in Seminaren können wir den Umgang mit Zeit lernen, und vor jedem Jahreswechsel liegen in den Geschäften Stöße von Kalendern auf, die uns helfen sollen, die uns zur Verfügung stehende Zeit so effizient wie möglich zu gestalten.

Erhöhtes Tempo

Unser Umgang mit der Zeit hat viele verschiedene und oft auch gegensätzliche Aspekte. Fest steht, dass unser Leben im Vergleich zu früher schneller geworden ist. Aber ist dem wirklich so? In seinem Buch "Beschleunigung - die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne" hat sich der deutsche Soziologe Hartmut Rosa mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Für ihn ist klar: Die von uns empfundene Beschleunigung unserer Gesellschaft ist keine neue Entwicklung, sondern kann schon seit langer Zeit beobachtet werden.

Spätestens mit dem Beginn der Industriellen Revolution und den damit verbundenen technischen Innovationen hatten die Menschen das Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht. Durch die ersten Fabriken wurde die Geschwindigkeit bei der Produktion von Gütern massiv erhöht, und die aufkommende Eisenbahn machte den Transport von Menschen und Waren in einer noch nie gekannten Schnelligkeit möglich.

Heinrich Heine bejubelte etwa 1843 die Eröffnung einer Bahn-
linie als den Beginn eines neuen Abschnitts in der Weltgeschichte und war sich sicher, dass dies tiefgreifende Auswirkungen auf die Menschheit haben werde: "Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen!"

Die hohe Geschwindigkeit konnte schon damals Angst machen: Der menschliche Körper sei für das schnelle Reisen nicht gemacht, meinten die Ärzte und warnten, die Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde könnte bei Reisenden zu körperlichen wie geistigen Schäden führen.

In jener Zeit, in der alles schneller wurde, veröffentlichte Adalbert Stifter den Bildungsroman "Nachsommer", und einer der Protagonisten stellt sich darin die Frage: "Wie wird es erst sein, wenn wir mit der Geschwindigkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können?" Eineinhalb Jahrhunderte später wissen wir die Antwort darauf, denn seit der digitalen Revolution rasen die Informationen tatsächlich mit blitzartiger Geschwindigkeit um die Welt.

Effizienz

Auch die Güter werden heute schneller produziert denn je zuvor. Die Methode des "just-in-time" treibt dies auf die Spitze, denn in ihr werden die für die Fertigung notwendigen Materialien so knapp wie möglich geliefert. Zwar entfallen dabei die Lagerkosten, dafür kann schon eine geringe Verspätung nur eines Bestandteiles das fein abgestimmte Räderwerk ins Stocken bringen. Auch der Mensch soll das Seine zur schnellstmöglichen Produktion beitragen. Um Zeit zu sparen, werden Aufgaben am besten nicht mehr hintereinander, sondern zugleich erledigt. Multitasking lautet das aus Amerika importierte Zauberwort, die Produktivität und Effizienz sollen dadurch steigen.

Doch bald wurde Kritik an dieser Methode laut, und es dauerte nicht lange, bis auch wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass das gleichzeitige Arbeiten an unterschiedlichen Aufgaben uns bestenfalls unkonzentriert, in keinem Fall aber schneller macht.

Wir haben einen ambivalenten Zugang zur Geschwindigkeit. In manchen Dingen begrüßen wir sie (wer will schon auf einem Amt oder an einer Bushaltestelle lange warten?), in anderen wiederum wünschen wir uns weniger davon (etwa, wenn wir unter terminlichem Druck stehen). Die allgemeine Beschleunigung brachte jedenfalls auch einen sozialen Wandel mit sich. Man denke nur da-ran, wie das Mobiltelefon den Umgang mit anderen Menschen verändert hat oder welche Berufe innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte, also in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne, verschwunden oder entstanden sind.

Althergebrachtes Wissen ist auf einmal überholt, zugleich drängen neue Technologien auf uns ein. Dadurch nehmen wir den Zeitraum, den wir als Gegenwart empfinden, als immer kürzer wahr. Diese "Gegenwartsschrumpfung" führt, so der Soziologe Rosa, dazu, dass sich unser Lebenstempo gesteigert hat. Obwohl wir viel mehr Freizeit als die Generationen vor uns haben, fühlen wir uns unter Druck und haben kaum mehr Muße für all jenes, das viel Zeitaufwand erfordert.

Teufelskreis Technik

Technische Innovationen sollen uns helfen, die verloren geglaubte Zeit wieder zurückzugewinnen. Welch ein Fortschritt war etwa die Einführung der Waschmaschine, die uns (oder besser: den Frauen) das mühselige und lange dauernde Waschen abgenommen hat! Rosa sieht darin aber einen Teufelskreis, denn die scheinbaren Erleichterungen für das Individuum sind eine treibende Kraft für weitere Beschleunigung.