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Euer Schweiß, unser Blut

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen

In Brasiliens tobt ein Kampf um das Land Ureinwohner. Es ist in der Hand von global produzierenden Sojabauern.


Landnahme als Form der Selbstjustiz: Indigene wie Solano Lopes ("Erleuchteter Thron", 3.v.l.) wollen mit ihrer Rückkehr aufs Land der Ahnen altes Besitzrecht wiederherstellen.
© Lichterbeck

Damiana Cavanha sitzt mit wirrem Haar vor ihrer Hütte und schlägt eine Gebetsrassel; neben ihr die erschrockene Tochter. Um die beiden herum tollen Kinder mit verrotzten Gesichtern. Gleich hinter ihnen donnern Lkw auf einer Überlandstraße vorbei.

Cavanha ist betrunken, sie hat sich mit Zuckerrohrschnaps abgefüllt. "Ich halte es nicht mehr aus", klagt die 70-Jährige. "Dieses Leben hier, es ergibt keinen Sinn mehr. Sie haben mir alles genommen. Ich habe keine Kraft mehr." Seit 25 Jahren versucht sie, auf ihr Tekohá zurückzukehren. So nennen brasilianische Ureinwohner vom Volk der Guarani Kaiowá das Land ihrer Vorfahren. Cavanhas Tekohá liegt nur wenige Meter entfernt, hinter einem Zaun auf der anderen Straßenseite. "Dort", sagt sie und deutet auf ein abgeerntetes Zuckerrohrfeld. Ganz nah und doch unerreichbar. Alle Versuche Cavanhas und ihres Familienclans, das Feld zu besetzen, scheiterten. Jedesmal rückte die Polizei an und zerstörte ihre improvisierten Behausungen. Wie lange will Cavanha das noch durchhalten? "Bis ich tot bin", sagt sie, "es gibt für mich keinen anderen Ort auf Erden."

Favelas für Indigene

47.000 Guarani Kaiowá leben in Mato Grosso do Sul, einem von der Landwirtschaft beherrschten, südwestlichen Bundesstaat im Grenzgebiet zu Paraguay. Die Guarani Kaiowá sind die zweitgrößte indigene Gruppe Brasiliens, 80 Prozent von ihnen hat man in Reservaten untergebracht. Dort aber herrschen Gewalt, Alkoholismus und Armut. Es sind Favelas für Ureinwohner. Deswegen wollen viele nun zurück auf das Land ihrer Ahnen. Es gibt nur ein Pro-blem: Die Tekohás liegen auf Land, das heute in der Hand von Großbauern ist, den Fazendeiros.

Derzeit gibt es etwa 120 Landnahmen in Mato Grosso do Sul. Meist gegen den erbitterten Widerstand der Bauern. Cavanhas winzige Siedlung liegt schutzlos zwischen einer Schnellstraße und dem Feldrand. Sie erhielt Morddrohungen, wurde verfolgt, ihre Hütte angezündet und beschossen, sie zeigt eine Kugel, die im Türrahmen steckte. Auf die Straße vor der Hütte hat jemand gepinselt: "Wir werden euch erledigen." Keine leere Drohung: Neun von Cavanhas Angehörigen sind getötet worden, acht von ihnen wurden auf dieser Straße überfahren. Für Cavanha waren es Morde im Auftrag der Großgrundbesitzer.

In Mato Grosso du Sul findet ein Drama seine Fortsetzung, das so alt ist wie Brasilien selbst: Weiße Siedler konkurrieren mit den Ureinwohnern um Land und Rohstoffe. Der Konflikt hat sich vielerorts verschärft, die Wirtschaft drängt auf Expansion. Nirgendwo aber wird er so brutal ausgetragen wie in Mato Grosso do Sul. Fast 400 Guarani Kaiowá sind hier seit 2004 getötet worden. Jedes Jahr wird eine ihrer Führungsfiguren ermordet, fast wöchentlich gibt es Zusammenstöße zwischen Indios und Bauern. Die Situation wird von den Vereinten Nationen als "dramatisch" bezeichnet, das EU-Parlament hat die Gewalt gegen die Ureinwohner "scharf verurteilt". Aktivisten fordern gar den Boykott von Produkten aus Mato Grosso do Sul. Aber die EU hat den Rindfleisch- und Soja-Import von hier zuletzt ausgeweitet.

Die Siedlung Pyelito Kue erreicht man über endlose Schlammpisten. Es gibt hier weder Strom noch fließendes Wasser oder ein Handynetz. Nur windschiefe Hütten, sandigen Boden und einen weiten Himmel. Für Lider Solano Lopes trotzdem der einzige Ort, an dem er leben möchte. In seiner Muttersprache Guarani nennt er sich Apykaa Rendy, "Erleuchteter Thron". Der 49-Jährige führt zweihundert Indios an, die seit acht Jahren ein Tekohá besetzt halten, allen Vertreibungsversuchen zum Trotz. Inmitten einer Eukalyptusplantage haben sie Hütten aus Holz und Plastikplanen errichtet und verlangen, dass die Regierung die Siedlung zum indigenen Territorium erklärt. In dem Fall müsste sie Infrastruktur schaffen. Da Pyeltio Kue nachweislich ein traditioneller Wohnort der Indios ist, hätten diese laut Verfassung ein Anrecht darauf, doch die brasilianische Regierung handelt nicht. Demarkationsprozesse ziehen sich oft jahrzehntelang hin. Das schafft Unruhe und Unsicherheit.

Erleuchteter Thron trägt Flipflops, ein blaues Hemd aus der Altkleidersammlung und seinen Federschmuck. "Die Bauern haben Waffen und schießen auf uns", ruft er. "Sie haben Geld, um Politiker zu kaufen. Aber es ist unser Land. Wir waren vor den Weißen hier!"

Pyelito Kue liegt auf Land, das mehreren Großbauern gehört. Vor einiger Zeit schickten sie fast täglich Pistoleiros, die auf die Hütten der Indios schossen. Bei Pyelito Kue überfielen im Vorjahr 200 bewaffnete Weiße ein Tekohá und töteten einen Indio. Fünf Fazendeiros sitzen dafür in Haft. Nach dem Mord stoppten die Guarani Kaiowá einen Lkw mit Sojabohnen und vernichteten die Ladung.

Wegen solcher Aktionen sehen viele Bauern sich als die wahren Opfer des Konflikts. Lúcio Damália spricht für 450 von ihnen. Der Nachfahre italienischer Einwanderer ist Präsident der Bauernvereinigung von Dourados, dem Zen-trum der Agrarwirtschaft in Mato Grosso do Sul. Er lädt zum Gespräch in den Verbandssitz: ein Bürogebäude auf einem weiten Gelände, wo Viehauktionen und
Agrar-Messen stattfinden. "Die Invasionen der Indios sind illegal", erklärt Damália kategorisch. "Wir Bauern haben nichts wiedergutzumachen. Ich sehe keine historische Schuld der Weißen an den Indios." Mit den meisten Indios gebe es eine friedliche Koexistenz: "Die Mehrheit will doch so leben wie wir, mit Kühlschrank, warmer Dusche und Fernseher."

Recht auf Eigentum

Natürlich sei er, Damália, dagegen, dass einige Bauern ihre Pistoleiros losschickten. Aber wenn die Indios das Recht auf Eigentum nicht respektierten, seien sie selbst Schuld. Damália verwehrt sich dagegen, dass die Bauern pauschal als Waldvernichter und Feinde der Ureinwohner dargestellt werden. "Unser Schweiß steckt in dieser Erde", sagt er. "Wir machen das Land urbar, schaffen Jobs und ernähren die Bevölkerung. Was will denn die Menschheit in Zukunft essen?" Eine typische Haltung unter Brasiliens Großbauern. Sie glauben, dass ohne sie nichts mehr liefe, "wir sind der Motor der Nation", sagt Damália stolz.

Wenn man Dourados verlässt und auf schnurgeraden Straßen durch die sanft gewellte Landschaft fährt, sieht man oft nichts als Sojafelder und Weiden, auf denen weiße Zebu-Rinder grasen. Mato Grosso do Sul ist fast exakt so groß wie Deutschland, hat aber nur 2,7 Millionen Einwohner, die meisten leben in einem Dutzend Städte. 85 Prozent der Fläche ist hingegen in der Hand von Großbauern wie Lúcio Damália. Das hat auch Konsequenzen für die Umwelt. Zu Deutsch heißt Mato Grosso do Sul: dichter Wald des Südens. Aber Wald wächst hier kaum noch. Der Dschungel musste Sojabohnen und 23 Millionen Rindern weichen. Und mit ihm die Guarani Kaiowá.

Die meisten der Ureinwohner wurden in den 1920ern von der brasilianischen Regierung in acht Reservate vertrieben und ihr Stammesland an weiße Siedler verteilt. Eines der Reservate, Sassoró, liegt inmitten von ödem Gras- und Buschland. Paulo Fiel ist hier der Vorsteher. Zwei Mal haben die 3800 Reservat-Bewohner ihn schon zum Vorsteher gewählt. Aber auch der zupackende Fiel kann nicht verhindern, dass Sassoró für einen traurigen Rekord bekannt ist. Es hat eine der höchsten Suizidraten der Welt (118 pro 100.000 Menschen im Jahr 2015 - 21 Mal höher als im Rest Brasiliens). Und es sind vor allem junge Menschen, die sich das Leben nehmen. "Manche glauben, es hat mit Drogen zu tun", sagt Paulo Fiel. Andere sagen, die Jugendlichen seien unglücklich, weil sie die Dinge aus dem Fernsehen nicht kaufen könnten. Die Schamanen wiederum mahnen: die Jugend hätte die Kultur der Guarani Kaiowá verloren, weil sie nicht mehr bete. Und der Indigene Missionsrat der katholischen Kirche (Cimi) macht Überbevölkerung und Perspektivlosigkeit verantwortlich.

Dass es keine Jobs gebe und kaum Ackerland, beschreibt Fiel die Misere. "Die Rinder da draußen haben mehr Platz." Zwar bekomme jede Familie von der Regierung monatlich einen Sack mit Lebensmitteln. "Aber meistens ist es nicht genug und es bricht Streit aus." Außerdem mangelt es an sauberem Wasser. Die Menschen in Sassoró trinken aus einem pestizidverseuchten Fluss. Fiel glaubt, das viele Kinder wegen des Wassers schon krank zur Welt kämen.

Vorurteile

Jenseits des Flusses liegt Pyelito Kue, das Tekohá von Erleuchteter Thron. Auch seine Familie lebte in Sassoró, ehe sie das Land der Ahnen besetzte. Für Erleuchteter Thron steht fest: "In dem Reservat wurden unsere Seelen krank." Er und seine Leute wollen nun auch ein angrenzendes Sojafeld besetzen: In der tiefen, roten, fruchtbaren Erde könne man Maniok pflanzen, um sich zu ernähren.

Befragt man die lokale weiße Bevölkerung zu den Indios, stößt man vor allem auf Vorurteile. Sie gelten als faul und versoffen, doch Arbeit will man ihnen nicht geben. An manchen Tankstellen bekommen Indios nicht einmal Benzin, weil man meint, sie wollten damit das nächste Feld abfackeln.

Der Staat lässt die Indios alleine. Beispiel Nhanderú Marangatú: Die Landnahme an der Grenze zu Paraguay wurde von der Regierung zu einem indigenen Territorium erklärt. Der Oberste Gerichtshof hob die Entscheidung wieder auf und ließ das Land räumen. Die Ureinwohner wurden an den Straßenrand gesetzt - und kehrten alsbald zurück, diesmal noch entschlossener. Rund 3000 von ihnen leben seitdem in Nhanderú Marangatú, in weit verstreuten Hütten mit kleinen Feldern davor.

Seit der ersten Besetzung wurden vier Indio-Führer getötet, der letzte 2015: per Kopfschuss, auf der Fazenda von Roseli Ruiz. Die Viehzüchterin steht der hiesigen Bauernvereinigung vor. Als man versucht, mit der 60-Jährigen zu sprechen, lässt sie einen filmen. Den Mord schiebt sie auf Streit unter den Indios. Sie habe nicht ihr Leben lang geschuftet, um den Indios ihre Fazenda zu überlassen.

Als die Abenddämmerung über Nhanderú Marangatú hereinbricht, sitzen einige Guarani Kaiowá unter einem Mangobaum beisammen. Eine Frau meint: "Die Bauern behaupten ja gerne, dass ihr Schweiß in dieser Erde steckt. Aber sie ist mit unserem Blut getränkt."

Wenige Tage nach dem Besuch des Reporters wurde eine Mitstreiterin von Damiana Cavanha unweit der Siedlung tot am Straßenrand aufgefunden. Die Umstände ihres Todes sind bisher unklar.

Philipp Lichterbeck, geboren 1972, lebt in Rio de Janeiro und arbeitet für verschiedene Printmedien.

Die Recherche wurde mit einem Stipendium des Right Livelihood Award und dem Rat von Survival International unterstützt.