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Lieselott Beschorner: "Ich muss alles angreifen"

Von Stefan May

Reflexionen
Lieselott Beschorner vor einer mit ihren Kunstwerken übersäten Wand in der Veranda ihres Hauses.
© Birgit Snizek

Ein Besuch bei der 92-jährigen Wiener Künstlerin, die heuer in zwei Ausstellungen präsent ist.


"Ich bin ein Recycle-Mensch", sagt Lieselott Beschorner. Die 92-jährige Künstlerin sitzt in einem Korbsessel in der Veranda ihres Hauses in Wien-Gersthof und blickt auf eine Wand, eine Art In-stallation, die über und über mit alten Gerätschaften behängt ist: verrostete Schlüssel, Drahtmasken, Bilderrahmen, Brennscheren, mit denen einst Locken in die Haare gedreht wurden, Waffelformen und Sicheln.

Ihr Schaffen hat eine große Breite: Tonköpfe, Puppen, Collagen, Textilfiguren, Zeichnungen. "Alles entsteht aus Material, das ich kriege", sagt die kleine Frau mit Schirmmütze über dem kurzen weißen Haar und den dick gerahmten Brillen. Löschpapier etwa regte sie zu Schichtenbildern an. Bienenwachsobjekte entstanden, als sie in einer Kommode Stricknadeln fand und diese mit Wachskugeln verband. Ihre Tonfiguren ergaben sich aus der spielerischen Herstellung von Puppen, weil einer Kusine Wollstoffreste übrig geblieben waren. Ihr Leben lang hat Beschorner Dinge gesammelt, um sie zu bearbeiten: Werkzeuge bewahrte sie vor dem Mistplatz, altes Geschirr fischte sie bei Wanderungen aus Bächen. Einen großen Mustopf hat sie von der Koralm heimgeschleppt.

Das Lusthaus im Garten der Künstlerin in Wien-Gersthof.
© Birgit Snizek

Als eine der ersten Frauen wurde Lieselott Beschorner 1951 Mitglied der Wiener Secession. Vor einigen Wochen wurde die "Albertina modern", die zeitgenössische Abteilung der Albertina im Wiener Künstlerhaus, eröffnet. In deren erster Ausstellung mit dem Titel "The Beginning. Kunst in Österreich 1945 bis 1980" ist Beschorner eine von 400 Künstlern und Künstlerinnen, deren Werke dort gezeigt werden.

Gewehr statt Kasten

"Ich bin ein sehr haptischer Mensch, ich muss alles angreifen", sagt sie. "Ich muss Holz spüren, Papier spüren und was immer das ist. Erstens regt mich Material an zu meiner künstlerischen Tätigkeit." Wenn es sich um Wandgestaltung handelt, wie etwa am Lusthaus in ihrem Garten oder an der Verandawand, kommt noch zusätzliches Wissen hinzu: Diese Geräte hat ein Mensch in der Hand gehabt, hat damit gearbeitet, hat es vererbt. "Das hat Geschichte."

Lieselott Beschorner deutet auf eines der unzähligen Metallstücke an der Wand ihr gegenüber: "Dort hängt ein Gewehr, das ist was Historisches." Ein Vorderlader mit Ladestock. Als ein Bodenschleifer ins Haus kam und das Gewehr sah, wollte er es unbedingt haben: "Für dieses Gewehr könnte er zum Dieb werden, hat er gesagt. Er gibt mir dafür einen sehr wertvollen bemalten Bauernkasten. Und ich habe gesagt: Ich brauche keinen Kasten, ich will mein Gewehr behalten."

Hinter Beschorners Korbstuhl stehen auf einer Anrichte einige Tonköpfe: Nicht Mensch, nicht Tier, mit breiten Nasen und aufgerissenen Mündern und Augen. Im Treppenaufgang hängen Bilder der Künstlerin, im ersten Stock zieren Masken und Teppiche die Wände. Jede Technik ist Ausdruck einer bestimmten Schaffensperiode im mehr als 70-jährigen Tun der Künstlerin. "Ich habe für keine Galerie gearbeitet, die mich vermarktet." Sie musste sich keinen eigenen Stil zulegen, weshalb es auch keine "echte Beschorner" gibt. "Es hat sich durch die unterschiedlichen Lebensperioden ergeben."

Aber nicht nur im Stil ist Lieselott Beschorners Werk besonders vielfältig. Auch ihre Materialien und Techniken sind unterschiedlich und zahlreich. "Was ich gerade mache, mache ich besonders gerne", sagt sie. Davon zeugt ihr Wohnhaus. Kein Quadratmeter, der lediglich die Tapete zeigt. Überall stehen, hängen oder lehnen ihre Objekte. Die Künstlerin lebt in ihrem eigenen Museum.

Auf dem Klavier, auf dem sie einst als Kind das Spielen gelernt hat, liegt eine alte Spieluhr neben weißen Skulpturen. Ein bewusst gewählter Standort: "Als ich mit der Akademie angefangen habe, habe ich freudig gesagt: jetzt habe ich keine Zeit mehr zum Üben. Jetzt muss ich malen." Deshalb wurde das Klavier ab da nur noch als Postament verwendet. "Heute könnte ich nicht einmal ,Kuckuck‘ spielen mit einem Finger. Total verlernt."

Gezeichnete Viren

Für sich hat Lieselott Beschorner bei weitem noch nicht abgeschlossen. "Ich bin körperlich eine Ruine, aber die Vitalität ist nicht weg", sagt sie. Abgeschlossen ist lediglich ihre letzte Periode, die der Impulszeichnungen. Diese beginnen mit ein paar Zeichen auf dem Papier und entwickeln sich, sagt sie. Ein paar hundert sind es in der Zwischenzeit geworden, vielleicht sogar noch mehr, die Künstlerin weiß es nicht zu sagen.

"Ich bin körperlich eine Ruine, aber die Vitalität ist nicht weg": Lieselott Beschorner
© Birgit Snizek

In ihrem Arbeitszimmer liegt ein Stapel mit Zeichenblöcken. Schwarze, abstrakte Zeichnungen mit schwarzer Wachsölkreide. Kräftige Striche, mitunter bedrohliche geometrische Figuren und Muster. Es ist ihre künstlerische Antwort auf die Corona-Krise. Die Zeichnungen der Viren, ihre aktuelle Periode. "Die Viren haben mich wahnsinnig zerrüttet", sagt Beschorner. "Für mich ist eine Welt eingebrochen, und ich bin überzeugt, es wird nie mehr so, wie es war. Und wir haben, wie ich immer sage, die Unschuld verloren, die Natürlichkeit."

Inzwischen spürt die 92-Jährige, dass auch die kurze Periode der Viren - zumindest künstlerisch - schon wieder zu Ende geht und etwas Neues kommen muss. Und so arbeitet sie unermüdlich weiter. "Ich habe den ganzen lieben Tag sonst nichts zu tun. Ich kann nicht zusammenräumen, nicht abstauben, nicht stehen, nicht gehen - nichts. Ich kann nicht lesen, weil ich überhaupt keine Schrift mehr sehe, aber ich kann noch mit der schwarzen Kreide auf diesem weißen Blatt arbeiten, und wie ich glaube, nicht einmal schlecht."

Somit ist sie also wieder beim Zeichnen gelandet, wie in ihren Anfängen. Dazwischen hatte sie sogar mit dem Stricken begonnen. "Material ist die Anregung. Ich habe vorher keine Idee, es springt mich an." Das mag mit ihrer Vergangenheit zusammenhängen. Denn sie begann ihre künstlerische Tätigkeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. "Material war immer etwas Kostbares", sagt sie. "Nach der Kriegszeit haben wir mit allem gearbeitet, was wir bekommen haben. Das war anders als heute, wo man alles umsonst bekommt." Mit Glück habe man da und dort Packpapier zum Zeichnen ergattert.

Brotberuf Lehrerin

Gleich nach dem Krieg begann Lieselott Beschorner an der Akademie der bildenden Künste zu studieren, "mit geringen Mitteln und viel Freude", wie sie sagt. Sie erzählt davon, dass man damals noch den halben Tag Schutt schaufeln musste, weil die Akademie am Wiener Schillerplatz Bombenschäden hatte, erzählt von der dünnen Grießsuppe, die sie als Tagesration von daheim mitgenommen hatte, erzählt von den unterbrochenen Straßenbahnlinien und der winterlichen Kälte im Zeichensaal, trotz eines großen Ofens in der Mitte.

Überall in Beschorners Wohnung stehen und hängen ihre Kunstobjekte.
© Stefan May

"Am Vormittag war immer Aktzeichnen. Das Aktmodell ist arm gewesen. Das war rot und blau gefroren - und wir haben angehabt, was man nach dem Krieg an alten Wintermänteln so gehabt hat. Und wir haben heimlich, still und leise, hie und da, ein Malstockerl verheizt, damit es ein bissel warm wurde." Einige Studienkollegen der Künstlerin sind später berühmt geworden: Arnulf Rainer, Friedensreich Hundertwasser, Arik Brauer. Lieselott Beschorner hingegen ergriff bald nach dem Studium einen Brotberuf und arbeitete jahrzehntelang als Zeichenlehrerin an einer Wiener Berufsschule. Ihre Frustration über das Leben als Angestellte, in der Unselbständigkeit, reagierte sie daheim in Zeichnungen ab. Sie nennt das ihre "groteske Periode". Als Mitglied der Wiener Secession konnte sie ihre Werke bei deren Ausstellungen in aller Welt präsentieren. Irgendwann wurde sie nicht mehr dazu eingeladen.

Nun aber erfährt sie späte Anerkennung. "Man erweckt mich jetzt sozusagen von den Toten wieder ein bissel zum Leben", sagt sie in ihrer trocken-verschmitzten Art. "Das ist natürlich schon meiner Natur zuzuschreiben, dass ich es nicht zu mehr gebracht habe, denn ich war ein viel zu schüchterner und zurückgezogener Mensch. Ich habe mich nie irgendwo vorgestellt, und das ist sicher mein Verschulden." Die "Ausstellerei", wie sie es nennt, habe sie außerdem zu viel Nerven gekostet, und so beschloss sie irgendwann, nur mehr für sich selbst zu malen.

Zwei Ausstellungen

In diesem Jahr ist sie allerdings sogar in zwei Ausstellungen vertreten. In jener in der Albertina Modern sind von ihr zwei Puppen und ein Strumpfobjekt zu sehen. Bei diesem handelt es sich um Herrensocken, die sie geschenkt bekommen hatte. Als Füllmaterial verwendete sie Nylonstrümpfe, da diese mottenabweisend sind. "Und die habe ich schön verknotet und verknüpft. Die Enden haben alle historische Damen- und Herrenschuhe gekriegt, sodass das Ganze dann sehr pikant aussah." Weshalb die Künstlerin ihr Objekt für sich "Gruppensex" nennt.

Die zweite Ausstellung beginnt am 7. November in der Landesgalerie Niederösterreich in Krems und ist allein ihrem Werk gewidmet. Doch war Lieselott Beschorner mit dem Ausstellungsraum nicht zufrieden. Ein Saal mit Glaswänden, an denen sich nichts aufhängen lässt, ohne zu vergilben. Also beschloss sie, einen Raum im Raum zu installieren: "Eine Bedürfnisanstalt, wo man dann die Sachen, die vergilben könnten, hineinhängt. Von oben schauen collagierte Köpfe, die aus Werbematerial für meine Ausstellungen gemacht sind, als Voyeure in diese Bedürfnisanstalt."

Diese Idee gefiel den Kuratoren so gut, dass sie gleich die ganze Ausstellung unter den Titel "Kunstbedürfnisanstalt" stellten. Ausgerichtet wird die Schau von der Landesgalerie Niederösterreich gemeinsam mit dem Wien Museum. Nicht von ungefähr, denn irgendwann hatte Lieselott Beschorner begonnen, sich Gedanken zu machen, was mit den tausenden Werken, ihren "Kindern", wie sie sie nennt, wohl einst geschehen werde. Also schenkte die Künstlerin 260 Werke dem Land Niederösterreich - und zehnmal so viele dem Wien Museum.

"Somit habe ich das bittere Gefühl, dass ich zwar nirgends gezeigt worden bin oder dass man mich mit dem Gesamtwerk herausgebracht hätte", sagt die Künstlerin ironisch. "Aber ich habe auch das angenehme Gefühl, es komme nicht auf den Müll, sondern in irgendwelche Container von Kunsttrans hinter dem Zentralfriedhof. Und dann ist es halt hinter dem Zentralfriedhof begraben, lebt aber als Toter noch weiter."

Stefan May, geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien.