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"Wir sind mehr als unser Gehirn"

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen

"Wiener Zeitung": Herr Frazzetto, Neurowissenschafter verbringen angeblich sehr viel Zeit im Labor mit der Beobachtung von Mäusen. Das klingt nach einer einsamen und zugleich fast ein wenig absurden Tätigkeit.

Giovanni Frazzetto: Für Außenstehende mag Mäusebeobachtung durchaus absurd klingen - und offen gestanden ist es auch nicht immer ein Vergnügen. Zum Teil habe ich wochenlang mehrere Stunden täglich im Dunkeln damit zugebracht, das zärtliche Verhalten von Mäusemüttern auf Notizblöcken zu dokumentieren. Aber das Spannende ist: Man kann tatsächlich sehen, ob sich eine Mäusemutter gut oder schlecht um ihren Nachwuchs kümmert.

Neurowissenschaften sind sehr "hip". Werden Sie mit Fragen bestürmt, wenn Sie abends den Laborkittel ausziehen?

Es stimmt, dass mein Beruf regelmäßig großes Interesse weckt. Wenn ich außerdem hinzufüge, dass ich Emotionen erforsche, gibt es für meine Gesprächspartner oft überhaupt kein Halten mehr.

Inwiefern?

Ich soll ihnen erklären, wie sie negativen Gefühlen entkommen können, ein glücklicheres Leben führen und vieles andere mehr. Dabei fallen mir häufig zwei Dinge auf: Zum einen unterscheiden Menschen oft zwischen guten und schlechten Gefühlen, was ich für bedauerlich halte. Ich persönlich glaube, dass wir eine Emotion wie etwa Schuld brauchen, um unsere Fehler zu verstehen, und Wut dazu, um uns zu verteidigen. Zum anderen ist das Erstaunen oft groß, dass ich nicht immer mit einer Antwort auf die vielen Fragen aufwarten kann, obwohl ich doch das Gehirn studiere.

Erwarten wir zu viel von der Hirnforschung?

Es gibt seit einigen Jahren ein Phänomen, das ich als neue Kultur des Glaubens bezeichne - eine Art Neurokultur, die sich in den Medien, in der Literatur, selbst in Theaterstücken wiederfindet und inzwischen bereits Gegenstand mehrerer soziologischer Studien war. Wir sind davon überzeugt, dass das Gehirn uns alles über unser Leben, über unsere Identität erklären kann - kurz gesagt: Wir sind unser Gehirn. Dieser Glaube stört mich ungemein und war für mich sogar der Auslöser, mein Buch zu schreiben ("Der Gefühlscode. Die Entschlüsselung unserer Emotionen", Anm.). Wir müssen nicht aufhören, das Gehirn zu begreifen, doch zugleich gibt es so viele andere Wege, uns selbst zu verstehen.

Im Kapitel über die Angst hat mich ein wunderschöner Satz sofort von Ihrem ganzheitlichen Ansatz überzeugt.

Aha, welcher?

Sie schreiben einerseits, dass kein Gefühl so gut erforscht sei wie die Angst, andererseits aber die gelebte Erfahrung der Angst letztlich unerforscht bleibt.

So ist es. Denn was ich als Mensch, als Sohn, als Freund, als Liebhaber erlebe, kann mir die Neurowissenschaft nicht erklären. Wissen Sie, was die häufigste Google-Anfrage der letzten Jahre war?

Keine Ahnung!

"Was ist Liebe?" Den Erfolg dieser möglicherweise komplexesten aller Gefühlsregungen kann uns die Neurowissenschaft aber nicht vorhersagen. Und doch gibt es in den USA inzwischen eine sehr populäre Form der Partnervermittlung, das sogenannte Neuro-Online-Dating. Millionen von Nutzern wird dabei suggeriert, dass die Gehirnchemie sie vor dem Scheitern in Herzensangelegenheiten bewahren kann.

Wie soll das funktionieren?

Es gibt beispielsweise ein Partnervermittlungssystem namens Chemistry.com, bei dem vier Hauptpersönlichkeitstypen anhand von Neurotransmittern wie Dopamin und Serotonin sowie den Sexhormonen Testosteron und Östrogen unterschieden werden. Da ich sehr neugierig war, habe ich mich bei dieser Partnerbörse angemeldet, um das System zu testen. Bei einer der Fragen wird man beispielsweise dazu aufgefordert, die Länge von Zeige- und Ringfinger der rechten Hand zu vergleichen und zu messen.

Mit welchem Ergebnis?

Zwischen den Flirttypen, die auf der Webseite beschrieben werden, und meinen Eigenschaften ließen sich durchaus Übereinstimmungen feststellen - etwa dabei, wie wichtig es mir ist, mich jemandem nahe zu fühlen; und dennoch möchte ich ungern in meinem Wesen auf ein paar wenige Eigenschaften reduziert werden. Ich halte es für fraglich, ob Online-Partner-Börsen mittels neurowissenschaftlicher Methoden wirklich effektiver sind als die traditionellen Verfahren. Ich persönlich glaube nicht, dass diese Methoden die Liebe vorhersagen können - oder zumindest nicht besser als andere Verfahren.

"Wenn ich erwähne, dass ich Emotionen erforsche, gibt es für meine Gesprächspartner oft überhaupt kein Halten mehr. . .": Giovanni Frazzetto im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Mitarbeiterin Sonja Panthöfer.
© Foto: Panthöfer

Offenbar haben wir einen funktionalen Blick auf das Gehirn. Welche Eigenschaft unseres Denkorgans schätzen Sie besonders?

Das Gehirn und seine Neuronen bestehen aus unglaublich vielen weitverzweigten Wegen - und jede gezielte, selbst noch so kleine Aktion führt zum Entstehen neuer neuraler Pfade und damit neuer Verhaltensmuster. Diese wunderbare Eigenschaft des Hirns, variabel und lernfähig zu sein, nennt sich Plastizität. Weil wir Menschen aber Gewohnheitstiere sind, nehmen wir häufig immer dieselben und vertrauten Wege.

Sie sprechen von der positiven Macht der Gewohnheit. Was bedeutet das im Hinblick auf negative Gefühle, die wir überwinden wollen?

Wenn wir die Plastizität des Hirns nutzen wollen, müssen wir eine andere Route einzuschlagen, um unser Ziel zu erreichen. Im Hinblick auf Ängste bedeutet dies beispielsweise, sich selbst im positiven Sinne zu konditionieren und Verhalten schrittweise so zu verändern, dass die Ängste den Menschen nicht mehr überwältigen. Das Gehirn gewöhnt sich daran, anders zu funktionieren - es ist wie ein mentales Training. Aus diesem Grund sage ich immer: Schlag’ einen alternativen Weg ein! Ich weiß, das klingt fast zu einfach . . .

. . . in der Tat. Wie soll das in der Praxis funktionieren?

Giovanni Frazzetto.
© Foto: Esra Rotthoff

Manche Menschen glauben, dass es ihnen hilft, sich zu sorgen, weil es ihnen Sicherheit vermittelt. Das Gehirn kann jedoch lernen, die Aufmerksamkeit von Sorgen und Ängsten abzulenken. Studien vor und nach Therapien haben gezeigt, dass sich das Gehirn während der Therapie - sei es eine Psychoanalyse oder eine andere Therapie - neu organisiert, es entsteht eine neue mentale Realität. Die hauptsächlich beteiligte Gehirnregion beim Thema Angst ist die sogenannte Amygdala, eine Art Nervenkern, die wegen ihrer Form nach dem griechischen Wort Mandel benannt ist. Ohne sie wüssten wir vermutlich gar nicht, was Angst bedeutet! Dieser Mandelkern jedenfalls verändert sich nach einer bestimmten Anzahl therapeutischer Sitzungen. Da gibt es einen ganz klar messbaren Effekt auf unseren Körper und unser Gehirn. Ein erfahrener Therapeut greift also tief in unser Gehirn ein, wie ein Neurochirurg. Wie beeinflusst dieses Wissen Ihren Alltag? Wachen Sie bereits morgens mit dem Gedanken an die Lernfähigkeit Ihres Hirns auf?

(lacht) Ehrlich gesagt ja! Es ist mir sehr bewusst, dass alles, was ich tue, eine Wirkung auf mich ausübt: Mein Gehirn trägt sozusagen die Signatur der Vergangenheit. Und diesen Kontrast zwischen dem, was sich bereits ausgewirkt hat, und dem, was ich noch verändern kann, empfinde ich manchmal sogar als Obses- sion. Auch ich bin oft in meinen Gewohnheiten eingesperrt und weiß daher, wie schwierig Veränderung sein kann, andererseits jedoch auch, dass es machbar ist.

Für eine wachsende Zahl von Menschen sind leistungssteigernde Medikamente oder "Happy-Pillen" eine verführerische Alternative, nicht zuletzt für Wissenschafter selbst.

(lacht) Schauen Sie mich nicht so vielsagend an! Natürlich gibt es Wissenschafter, die sich irgendwelcher leistungssteigernder Drogen bedienen, aber ich bin nicht anfällig dafür. Ich hatte auch noch nie das Bedürfnis nach Antidepressiva, möglicherweise auch, weil es mir dafür noch nicht schlecht genug ging.

Wir sollen ja nicht nur leistungsfähig sein, sondern auch kreativ. Was beflügelt unsere Inspiration?

Das fand ich vor Jahren heraus, als ich damit beschäftigt war, ein Gedicht zu vollenden und keinen passenden Schluss dafür fand. Genau in dieser Phase flog ich nach New York, in eine Stadt, die ich schon immer als aufregend empfunden habe. Die neue Umgebung, das schöne Gefühl, dort zu sein, die nächtlichen Sterne - all das beflügelte mich so, dass die letzten Zeilen meines Sonetts schnell gefunden waren. Was ich dadurch gelernt habe, ist Folgendes: Allein wenn sich die Laune nur kurz aufhellt, verbessert dies die Fähigkeit zu denken - und damit auch unsere Kreativität. Verantwortlich dafür ist ein Zentrum im Gehirn, das als Belohnungssystem bezeichnet wird und an dem auch der Neurotransmitter Dopamin beteiligt ist. Dieses Belohnungsneuron macht uns aktiv, motiviert, schärft den Geist und die Willenskraft.

Das heißt aber auch, dass es gar nicht wichtig genug sein kann, sich schöne Dinge vorzunehmen.

Stimmt. Das Gehirn unterscheidet nämlich zwischen der Erwartung von Lust und der Lust selbst. Die Ausschüttung von Dopamin erfolgt also nicht im Moment der Belohnung, vielmehr geschieht sie bereits in den Momenten, in denen wir etwas freudig erwarten, wie beispielsweise die Essenseinladung bei guten Freunden oder den nächsten Urlaub. Man sagt ja auch auf Deutsch: "Vorfreude ist die schönste Freude!"

Sie sind weit mehr als ein reiner Naturwissenschafter und sehen die Welt auch durch die Augen der Kunst, der Dichtung und der Philosophie. Sind Sie so eine Art Neurophilosoph?

Nein, Neurophilosoph wäre mir zu spezifisch. Ich selbst würde mich als Lebenswissenschafter und Schriftsteller bezeichnen. All diese unterschiedlichen Perspektiven, die Welt zu betrachten, lassen sich meiner Ansicht nach schlecht voneinander trennen. Letztlich gibt es viele Wege, die uns in die Lage versetzen, zumindest Teile des alten Diktums "Erkenne dich selbst" einzulösen.

Sie klingen leidenschaftlich, wenn Sie von diesem Nebeneinander von Sichtweisen erzählen. Ist das eine Mission?

Die Vermittlung dieser Herangehensweise liegt mir in der Tat sehr am Herzen. Während meines Studiums hat mir niemand die Geschichte meiner Fächer Biologie oder Neurowissenschaft vermittelt. Ebenso habe ich in dieser Zeit nichts darüber gelernt, wie unterschiedlich sich ein- und dieselbe Frage etwa in der Neuro- und der Geisteswissenschaft stellt.

Ich finde es aber sehr bedauerlich, wenn ein junger Wissenschafter, der etwa die genetischen Ursachen von Schizophrenie erforscht, keinerlei Kenntnisse von grundlegenden Begriffen der Philosophie hat. Inzwischen bin ich am Interdisziplinären Wissenschaftskolleg in Berlin tätig und dort zuständig für ein Programm namens "College for Life Sciences", das sich an junge Lebenswissenschafter richtet, deren Arbeitsschwerpunkt zwar im Labor liegt, die sich jedoch drei bis sechs Monate Zeit nehmen, um sich mit Forschern anderer Bereiche auszutauschen.

Was ist Ihr Traum für die Hirnforschung?Selbstverständlich ist es als langfristiges Ziel zu betrachten, aber mir geht es darum, dass Forschungsexperimente künftig anders und besser durchgeführt werden können.

Ein Beispiel bitte.

Angenommen, wir würden beide an Schizophrenie leiden. Biologisch betrachtet handelt es sich dabei um eine sehr vielschichtige Krankheit, bei der unterschiedliche Gene involviert sind. Neben den genetischen Veränderungen spielen aber auch Umwelteinflüsse eine zentrale Rolle. Während ein Neurowissenschafter vor allem die DNA im Blick hat, kennt sich ein Anthropologe vermutlich hinsichtlich der Umweltfaktoren besser aus. Wenn wir beide Herangehensweisen zusammenführen, ermöglicht dies auch einen anderen Blick auf die Krankheit Schizophrenie. Auf diese Art und Weise lassen sich Neurowissenschaften anders lehren.

Zum Schluss muss ich Sie noch fragen, ob Sie wirklich völlig immun für die Manipulierbarkeit des Hirns sind?

Wissen Sie, ich habe tatsächlich erst mit 27 Jahren angefangen, Kaffee zu trinken.

Wie ist Ihnen das denn gelungen? Schließlich sind Sie doch Italiener!

Während meines Studiums in England war die Koffein-Versuchung recht gering, wie Sie sich vorstellen können. Als ich einige Jahre später für einige Zeit in Rom arbeitete, tranken alle Kollegen herrlich duftenden Espresso - und da war es schnell um mich geschehen.

Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin, Coach und Lehrerin in München. Außerdem bietet sie das Podcast "sounds deutsch" an (www.sounds-deutsch.de). Dieser Service richtet sich an alle, die Deutsch lernen und sich für die deutsche Sprache interessieren.

Zur Person
Giovanni Frazzetto wurde 1977 in Sizilien geboren, ging mit 18 Jahren nach London, um dort zu studieren, und machte seinen Doktor der Molekularbiologie in Heidelberg. Seit seinem Studium forscht Frazzetto zum Verhältnis von Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur und gründete gemeinsam mit anderen das European Neuroscience & Society Network.
Seit 2013 ist der Italiener am Wissenschaftskolleg zu Berlin tätig. Dort ist er Koordinator für das "College for Life Sciences", ein Programm für angehende Lebenswissenschafter, die sich für interdisziplinäre Forschung interessieren. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet Giovanni Frazzetto auch als Dramaturg und Schriftsteller. Sein Buch "Der Gefühlscode. Die Entschlüsselung unserer Emotionen" ist heuer im Hanser Verlag erschienen (384 Seiten, 21,90 Euro).