Zum Hauptinhalt springen

"Es ist ein Unsinn, was da im Gefängnis passiert"

Von Christof Mackinger

Reflexionen

Der langjährige Gefängnisdirektor Galli, erklärt, warum die Resozialisierung in Strafanstalten kaum gelingen kann.


"Wiener Zeitung": Herr Galli, früher haben Sie Gefängnisse geleitet, heute fordern Sie ihre Abschaffung. Wie war Ihr beruflicher Werdegang bis dahin?

Thomas Galli: Ich bin ausgebildeter Jurist. 2001 habe ich in der Justiz zu arbeiten begonnen, zunächst in Amberg/Bayern. Es war eine Anstalt mit ungefähr 600 bis 700 Inhaftierten, und es waren vor allem Menschen, die schon mindestens einmal länger in Haft waren. Aus Amberg habe ich in die Justizvollzugsanstalt (JVA) Straubing gewechselt, das ist eine Anstalt der höchsten Sicherheitsstufe mit mehreren hundert lebenslänglich Verurteilten. Da war ich sieben Jahre tätig, und ich habe mit dem System bereits zunehmend gefremdelt. Dann habe ich mich dazu entschieden, Bayern zu verlassen und nach Sachsen in die JVA Zeithain zu gehen. Dort war ich zwei Jahre lang, bis ich vor rund einem Jahr ausgeschieden bin.

Wer sind die Menschen, die im Gefängnis sitzen: Findet man dort einen Querschnitt der Bevölkerung?

Nein, auf keinen Fall. Was die "Kurzstrafigen" angeht, also mit Strafen bis zu ein paar Jahren -, so kamen die fast alle aus prekären Verhältnissen mit einer belasteten Biographie, oft auch in finanzieller Hinsicht. So war etwa die Mutter Alkoholikerin, der Vater unbekannt. Viele haben Heimerfahrung und sind früh mit Drogen in Berührung gekommen. Das ist der Bereich der Kurzstrafigen. Bei den Langstrafigen sind natürlich auch sehr gebildete Menschen dabei, zum Beispiel Ärzte, die ihre Frau umgebracht haben. Aber dass das ein Querschnitt der Bevölkerung ist, würde ich niemals sagen. Es trifft schon in erster Linie diejenigen, die unterdurchschnittlich gute Chancen hatten im Leben.

Sie haben sich in Ihrer Rolle als Gefängnisleiter schon länger unwohl gefühlt. Wie kam das?

Es war von Anfang an für mich ein bedrückendes, beklemmendes Gefühl im Gefängnis. Man denkt, das wird schon werden, man muss sich halt dran gewöhnen, aber die Beklemmung ging nie weg, sie wurde eher stärker. Am Anfang dachte ich immer, ich sehe das möglicherweise falsch oder habe etwas noch nicht verstanden. Es hat wirklich gedauert, bis das Selbstbewusstsein in mir gereift ist - und ich sagen konnte: "Es ist ein Unsinn, was da im Gefängnis passiert."

In der JVA Amberg war ich sechs Jahre lang Abteilungsleiter. Da kamen immer wieder dieselben in den Knast. Das waren meistens keine Schwerkriminellen, viele kamen aus dem Drogenmilieu. Die sind kurz raus, haben irgendwas gemacht und sind wieder im Gefängnis gelandet. Was soll dieser Dauerkreislauf? Wer hat da eigentlich etwas davon?

Wie verändert das Gefängnis die Inhaftierten?

Also meine These wäre, dass Inhaftierte durch die Haft nicht in die Gesellschaft integriert werden. Das gilt zumindest für 90 Prozent der Gefangenen. Manche schaffen es trotz des Strafvollzugs, aber eben nicht deswegen.

In Amberg haben schätzungsweise 75 bis 80 Prozent der Insassen Drogen konsumiert. Wer davor nichts mit Drogen zu tun hatte, hatte es garantiert danach. Dann gibt es natürlich in jedem Haftraum einen Machtkampf um die Frage, wer das Sagen hat. Und es gibt natürlich wirklich gewalttätige Menschen, die auch im Haftraum ihre Wünsche mit Gewalt durchsetzen. Außenstehende sagen immer: "Das müsst ihr verhindern!" Aber das ist eine Illu- sion. In der Nacht ist ein Beamter für 100 bis 200 Inhaftierte und zig Hafträume zuständig. Das kann niemand im Auge behalten.

Denjenigen, die einen guten Willen hatten, hat man mit der Haft viele Chancen letztlich kaputt gemacht. Naturgemäß hat man als ehemaliger Häftling weniger Chancen am Arbeitsmarkt und in anderen Bereichen. Dann ist die Gefahr groß, dass man wieder abrutscht. So vergrößert sich eher die Gefahr, dass man wieder straffällig wird.

Die allermeisten, die ich erlebt habe, werden zynisch und entwickeln eine "Leck mich am Arsch"- Mentalität. Andere werden wütend und aggressiv. Sie positionieren sich oft deutlich gegen die bürgerliche Welt, versuchen Wege zu finden, um nicht wieder erwischt zu werden, haben aber eindeutig den Plan, weiter auf illegale Weise Geld zu verdienen. Weil sie sich auch selber ungerecht behandelt fühlen durch den Staat. Und dann gibt es natürlich diejenigen, die verzweifelt sind. Die Selbstmordrate im Gefängnis ist überdurchschnittlich hoch im Vergleich zu draußen.

Das oberste Ziel ist die sogenannte Resozialisierung, das verspricht auch der Strafvollzug in Österreich. Was ist das?

Mit Resozialisierung ist gemeint, dass die Inhaftierten auf ein selbstverantwortliches und möglichst straffreies Leben in Freiheit vorbereitet werden. Es gibt natürlich Ansätze innerhalb des Strafvollzuges, die diesbezüglich sehr sinnvoll sind, etwa Schulabschlüsse und Ausbildungen nachholen, bis hin zu richtiggehend therapeutischen Behandlungen. Aber das Gesamtkonzept Strafvollzug macht dies alles wieder kaputt. Es beginnt schon damit, dass das Leben in Haft vollkommen fremdbestimmt ist, vom Aufstehen bis zur Auswahl des Essens. Man wird jeglicher Autonomie und Selbstverantwortung beraubt, die man draußen hat. Man wird im Knast zur Unselbstständigkeit erzogen und es wird eher ein angepasstes Verhalten antrainiert: Frühes Aufstehen, zur Arbeiten gehen, sauber machen. Das machen die meisten dann schon. Wenn sie aber in die Freiheit kommen, dann ist das etwas völlig anderes. Deswegen liegt für mich auf der Hand, dass Gefängnis nicht resozialisiert, sondern desozialisiert.

In Österreich wird jeder dritte entlassene Häftling innerhalb von vier Jahren wieder straffällig. Darf man das Gefängnis eine "Universität der Kriminellen" nennen, wie das der Boulevard manchmal tut?

Das ist natürlich zugespitzt formuliert, es ist aber viel Wahres dran. Man muss sich vorstellen: Da sind oft vier-, fünf- oder sogar achthundert Straftäter auf engstem Raum, zum Teil für sehr lange Zeit zusammen eingesperrt. Bei allen Interventionen und Angeboten, die man von Seiten der Anstalt macht, ist es trotzdem so, dass die Häftlinge die meiste Zeit miteinander verbringen. Sie suchen sich ihre Peergroup bei den Gleichgesinnten, bei den Mitgefangenen. Es ist, glaube ich, ganz normal, dass man da eigene Regeln entwickelt, eine eigene Norm, eigene Vorstellungen. Es ist nicht unbedingt so, dass der eine dem anderen erklärt, wie man am besten ein Auto knackt. Das kommt sicher auch vor. Aber es geht eher um Wertvorstellungen. Und ich glaube, die werden sehr stark durch dieses Gruppengefüge gefestigt und aufgebaut.

Als Sie die Anstalt Zeithain leiteten, plädierten Sie einmal öffentlich dafür, 100 Prozent Ihrer Inhaftierten sofort freizulassen. Wie stellen Sie sich das vor?

Man muss sich eines bewusst machen: Die Menschen, die dort sind, werden sowieso in zwei Jahren entlassen. Es ist Unsinn, zu sagen: "Wir wollen sicher sein vor denen". Wenn sie frei kommen und danach noch weniger Chancen haben als vorher, dann ist auf Dauer gesehen die Sicherheit nicht erhöht, sondern reduziert.

Es gibt sicherlich nicht die Patentlösung, die von den Leuten erwartet wird. Das macht es auch so schwierig, in diesem Bereich zu diskutieren. Es kommt dann oft die Frage: "Ja, wollen Sie etwa einen Vergewaltiger draußen herumlaufen lassen?" Diese erhöhten Erwartungen und Vorstellungen, die man vom Strafvollzug hat, die muss man einmal bei Licht betrachten. Danach kann man andere Möglichkeiten suchen, die auch nicht perfekt sind, aber zumindest sinnvoller als das, was wir jetzt tun.

Es kommt auch immer die Frage: "Was tun Sie mit Leuten wie Anders Breivik?" (Anders Breivik ist ein rechtsextremer Terrorist, der 2011 in Oslo mit einer Bombe acht Menschen, und weniger Stunden später auf der norwegischen Insel Utøya 69 Jugendliche ermordet hat, Anm.) Dazu sage ich, es gibt schon Menschen, wie ich sie auch in der JVA Straubing kennen gelernt habe, die auf keinen Fall mehr in Freiheit kommen dürfen. Aber ich würde eben auch sagen, wir können nicht jede Gefährlichkeit wegtherapieren. Das müssen wir uns auch eingestehen. Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn, jemanden wie Anders Breivik 40 Jahre lang zu therapieren. Man könnte von vornherein sagen: "Wir wollen von dir keine Gefahr mehr in Kauf nehmen, aber wir behandeln dich trotzdem menschenwürdig". Insofern brauchen wir für dieses Klientel weiterhin eine Art von Gefängnis.

Welche konkreten Alternativen zur Inhaftierung sind für Sie vorstellbar?

Zunächst muss man den Blick ein Stück weit weglenken vom Strafen und den Erwartungen, die man damit verbindet. Mit Strafen kann in aller Regel der entstandene Schaden nicht wieder gut gemacht werden. Wenn ich wirklich will, dass weniger Menschen anderen Schaden zufügen, dann muss ich langfristiger und viel komplexer denken.

In der Schweiz wurde eine Studie mit Kindern aus höchst prekären Familien durchgeführt, also drogenabhängige Mutter und dergleichen, und einer Vergleichsgruppe. Die eine Gruppe der Kinder wurde sechs Monate lang betreut, die andere nicht. Diese Kinder wurden dann über 40 Jahre hinweg begleitet und es wurde beobachtet, welche Wirkung diese Intervention hatte. Die Gruppe derer, die wenige Monate Betreuung hatten, ist signifikant weniger straffällig geworden. Das ist nur ein Beispiel, aber es zeigt, wie man in der Kriminalpolitik denken müsste. Natürlich brauchen wir auch Lösungen fürs Hier und Jetzt. Wenn wir Vergeltung oder Genugtuung für die Opfer erreichen wollen, könnte man etwa sehr gut Maßnahmen mit gemeinnütziger Arbeit einsetzen.

Man kann das sehr gut ergänzen, in Österreich gibt es etwa den elektronisch überwachten Hausarrest ("Fußfessel"). Das ist für den Betroffenen ja auch eine Strafe, wenn er am Wochenende das Haus nicht verlassen darf. Aber es ist viel weniger schädlich als die Haft.

Wenn wir Resozialisierung wollen, müssen wir uns konkret anschauen, wo die Ursachen für Straffälligkeit liegen und wie wir die positiven Ressourcen, die in jedem Menschen liegen, stärken können. Das kann im Ausbildungsbereich sein oder sonst wo, und es kann bis zu einer 1:1-Betreuung gehen. Das ist immer noch billiger, als jemanden in den Knast zu sperren. In anderen Fällen sollte man Anti-Gewalt-Trainings oder Suchttherapien, die es ja schon gibt, weiterhin anbieten.

Zurück zu Ihrer These, man könne die meisten Inhaftierten freilassen. Haben Opfer von Straftaten nicht auch ein Recht auf Gerechtigkeit oder sogar auf Rachegefühle?

Solche Gefühle sind gerechtfertigt und berechtigt. Das ist für mich absolut nachvollziehbar. Aber die weitaus größte Anzahl der Straftaten sind ja keine schwersten Delikte. Wenn man Opfer befragen würde: "Was wäre Ihnen am liebsten: Der Täter kann ein Jahr in den Knast gehen, oder er kann ein Jahr arbeiten und der Gewinn dieser Arbeit wird Ihnen als Schadensersatz zum Großteil zugesprochen?" - Ich glaube, viele Geschädigte würden eher den letzteren Weg wählen.

Ich bin in einen Opferschutzverband eingetreten, der die Interessen von Opfern sexuellen Missbrauchs, also massiver Straftaten, vertritt (www.netzwerkb.org) Diese Gruppe hat mich fasziniert, weil sie auch dafür ist, Gefängnisse abzuschaffen. Gewalt und Gegengewalt ist ein ewiger Kreislauf, von dem letztlich niemand etwas hat - und der deshalb durchbrochen werden muss.

Es wäre viel wichtiger, dass man sich wirklich um die Opfer kümmert. Das findet kaum statt. Vom Staat bekommen durch Straftaten Geschädigte meist kaum etwas. Sie werden in eine passive Rolle gedrängt und treten nur noch in Erscheinung, wenn sie als Zeugen aussagen müssen. Trotzdem glaube ich schon, dass viele Geschädigte wollen, dass der Schädiger bestraft wird. Ich bin ja auch nicht generell gegen Strafen, aber wir müssen uns überlegen, welche Art von Strafen sinnvoll ist.

Was müsste sich in der Gesellschaft ändern, dass die gängige Art des Strafens im Gefängnis nicht mehr notwendig ist?

Ich will den Einzelnen nicht aus seiner Verantwortung entlassen, aber jede Straftat hat auch gesellschaftliche Ursachen. Es gibt gewaltige Ungerechtigkeiten, auch in unserer Wohlstandsgesellschaft. Und Ungerechtigkeit erzeugt Wut, hilflose Wut und auch Gewalt und Normbrüche. Je gerechter eine Gesellschaft ist, desto geringer ist die Straffälligkeit.

Natürlich haben Straftaten soziale Ursachen, auch hinsichtlich der Biographie der Straftäter. Wenn sich Eltern überhaupt nicht um ihre Kinder kümmern, dann muss die Gesellschaft das sehen - und sich verstärkt darum kümmern. Das soll aber keine Stigmatisierung sein. Es gibt ja auch sehr viele, die aus schwierigsten Umständen kommen und nicht straffällig werden.

Aber es ist ja auch eine Art von Ungerechtigkeit, wenn der eine in einem gesunden, liebevollen Umfeld aufwächst, der andere nicht. Es gibt Studien über sogenannte soziale Brennpunktviertel. In dem einen hat man ein Jugendzentrum etabliert, in dem anderen nicht. Das hat man dann lange beobachtet: Im Viertel mit dem Jugendzentrum sind die Leute deutlich weniger straffällig geworden. Es gibt schon viele Ansätze, die sehr sinnvoll wären.

Das Problem ist jedoch, dass die Früchte des Erfolgs schwer messbar sind. Sie treten oft erst nach 20 Jahren ein, und da denken Politiker wohl: Wieso soll ich mich groß aus dem Fenster lehnen und möglicherweise Kritik aussetzen? In 20 Jahren hab ich nichts von einer Verbesserung.

Thomas Galli wurde 1973 geboren, hat Rechtswissenschaften, Kriminologie und Psychologie studiert. Von 2001 bis 2016 war er im Strafvollzug tätig, die letzten Jahre in Leitungsfunktionen. Er war Lehrbeauftragter u.a. für Strafrecht und Psychologie und hat zum Thema Strafvollzug veröffentlicht.

Galli war Mitglied des Kriminalpräventiven Rats der Stadt Dresden sowie Vertreter Sachsens bei der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter. In seinem letzten Buch, "Die Gefährlichkeit des Täters" (Verlag Das Neue Berlin), nähert er sich anhand von Einzelbiographien von Haftinsassen der Problematik des Einsperrens und der Klassifizierung der Gefährlichkeit von Straftätern. Seit Oktober 2016 ist Thomas Galli in Augsburg/Bayern als Rechtsanwalt tätig.

Christof Mackinger ist Politikwissenschafter und freier Journalist. Seine Schwerpunktthemen sind Ökologie, Justiz, Rechtsextremismus, soziale Bewegungen und die Mensch-Tier-Beziehung.