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Russland: Viel Geld und viel Armut

Von WZ-Korrespondentin Inna Hartwich aus Moskau

Wirtschaft

Russland hat viele Geldreserven, dennoch stagniert die Wirtschaft. Viele Russen können nur durch Schwarzarbeit überleben.


"Wir müssen viele drängende Probleme der Wirtschaft lösen." So hatte der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Rede an die Nation vor einem Jahr gesprochen. Ähnliche Worte dürfte er auch an diesem Mittwoch benutzen, wenn er sich in seiner Ansprache, die die Russen schlicht "Botschaft" nennen, den beiden Kammern des russischen Parlaments stellt. Jahr um Jahr verspricht Putin in diesem Format mehr Renten, weniger Armut, verlässlichere Gesundheitsversorgung.

Er hat stets Zahlen dabei, viele Zahlen, die unterstreichen sollen, wie gut es um Russland steht. Es stimmt ja: An Geld mangelt es dem russischen Staat nicht. Dank Spardiktat und den Einnahmen aus dem Energiesektor hat Russland große Reserven angelegt. Und es stimmt auch, dass die Wirtschaft seit 2014 schwächelt, dass die Realeinkommen der Russen sinken, dass sie nun höhere Abgaben leisten müssen und später in Rente gehen sollen. Viele können nur durch Schwarzarbeit überleben. "Wir stecken im Zustand der Stagnation, kein Wachstum, keine Entwicklung", sagt der Ökonom Wladimir Tichomirow vom russischen Finanzdienstleister BKS.

Die russische Regierung aber kann die Wirtschaft kaum ankurbeln, ohne das System ins Wanken zu bringen. Es sind vor allem drei Dinge, unter denen Russlands Entwicklung leidet: Die Sanktionen des Westens wegen der russischen Annexion der Krim und des Krieges in der Ostukraine tragen zu einem Verlust von 0,5 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei, was weniger bedeutend ist. Der seit 2014 eingebrochene Ölpreis hat stärkere Auswirkungen. Russlands Wirtschaft ist allen Diversifizierungsrufen zum Trotz gefährlich von Öl und Gas abhängig. Das wichtigste Problem aber ist die Reaktion des Staates auf die Gegebenheiten: Das Hauptmotiv für eine stabile Wirtschaft sieht Russland lediglich in der Anhäufung von Reserven. Eine geringe Schuldenlast aber gleicht fehlende Wachstumsraten und fehlende Nachfrage nicht aus.

Lebensstandard sinkt, junge Menschen verlassen das Land

Die Wirtschaft stieg im vergangenen Jahr um lediglich 1,3 Prozent (gewünscht sind 3,5 Prozent). Die Armut wuchs ebenfalls: 12,7 Prozent der Russen - das sind 18,6 Millionen Menschen - leben nach Angaben des russischen Statistikamtes von weniger als 10.000 Rubel im Monat, das sind umgerechnet nicht einmal 150 Euro im Monat. Nach Angaben des unabhängigen Umfrageinstituts Lewada-Zentrum in Moskau sagt fast jeder zweite Befragte, dass der Lebensstandard sich im Vergleich zu 2018 weiter verschlechtert habe. Mehr als die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen wollen, so Lewada, das Land verlassen. So viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die Investitionen halten sich ebenfalls in Grenzen. 71 Prozent der Privatunternehmer, so hat das staatliche Umfrageinstitut WZIOM berechnet, halten die Bedingungen, in Russland Geschäfte zu machen, für ungünstig und sehen für die kommenden fünf Jahre kaum Besserung. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen lebten in Angst, sagen auch andere Analysten. "Sobald du erfolgreich bist, kommen sie, nehmen dir alles weg oder holen dich ab", sagen Geschäftsleute von KMU quer durchs Land. "Sie", das sind Vertreter staatlicher Sicherheitsstrukturen.

Bereits 2008 legte Russland das Papier "Strategie 2020" vor. Auf mehr als 800 Seiten waren Maßnahmen zur sozial-ökonomischen Entwicklung verzeichnet. Die Pläne waren vorbildlich, die Erfolge sind mau - weil die "Strategie" unflexibel gehandhabt werde, weil kaum Anpassungen unternommen würden, die sich an der Realität - auch der politischen - orientierten, sagen russische Beobachter.

"Der Bürokratieapparat ist enorm, die Prozesse laufen viel zu langsam ab, kaum einer traut sich, Verantwortung zu übernehmen und wartet lieber auf die tausendste Unterschrift unter irgendeinem Papier, vielfach wissen die Beamten erst gar nicht, wer wofür zuständig ist", sagt der Wirtschaftsblogger Kirill Tremassow, der bis 2017 für makroökonomische Prognosen im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung zuständig war. Das Strategiepapier sah vor, dass das BIP um 6,5 Prozent pro Jahr wachsen solle. Die Realeinkommen sollten um 72 Prozent im Vergleich zu 2012 steigen, sie sind allerdings um 5 Prozent gefallen. Die Armut wollte der Staat von 13,4 Prozent im Jahr 2007 auf 6 Prozent im Jahr 2020 senken. Erreicht sind solche Zahlen noch lange nicht.

Jeder zweite Arbeitnehmer ist beim Staat angestellt

Auch Putins "Nationale Projekte" von 2019 - Demografie, Digitalisierung, Infrastruktur - zielen auf Armutsbekämpfung und Wirtschaftswachstum ab. Die Projekte sind in 13 Bereiche unterteilt und sollen umgerechnet mehr als 360 Milliarden Euro kosten. Doch der Regierung fällt es offenbar schwer, Geld auszugeben. Mit den Investitionen in die "Nationalen Projekte" liegt sie weit hinter dem Plan. Zudem sollen 30 Prozent des Geldes von Privatunternehmen kommen, Privatinvestitionen fehlen aber überall in Russland. Jeder zweite Arbeitnehmer, der einen offiziellen Job hat und Steuern zahlt, ist bei Behörden und Staatsunternehmen angestellt. "Es ist ungesund, wenn Staatsstrukturen eine immer größere Rolle in der Wirtschaft spielen", sagt auch Kirill Tremassow.