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"Wir brauchen keine Überflieger"

Von Anja Stegmaier

Wirtschaft
"Man muss Spaß am Lernen haben", sagt Samantha Cristoforetti. Die Italienerin ist die einzige Frau im aktuellen sechsköpfigen Astronautencorps der ESA. Doch das soll sich bald ändern.
© Nasa

Die ESA sucht nach elf Jahren wieder neue Astronauten. Insbesondere Frauen und erstmals auch Kandidaten mit Behinderung sollen sich bewerben. Für den Traumjob braucht es nämlich Qualifikationen, die das Leben lehrt.


"Ich dachte, ich hätte keine Chance", sagt Alexander Gerst. "Warum soll ich mir die Mühe machen, wenn ich eh nicht genommen werde", berichtet der deutsche Geophysiker von seinen Gedanken bei der letzten Ausschreibung 2008. Doch Astronaut sei kein Job für Supermänner und Superfrauen, so der Weltraumfahrer in der Online-Pressekonferenz. "Ich dachte, das bin ich meinem 80-jährigen Selbst schuldig und dass ich meinen Enkeln erzählen kann, dass ich es probiert habe", so der 44-Jährige.

Die European Space Agency (ESA) sucht nach elf Jahren wieder neue Astronauten. Ab 31. März bis 28. Mai 2021 werden Bewerbungen angenommen. Doch was braucht es eigentlich für den Traumjob Astronaut?

Ein Motivationsbrief, die Kopie des Passes und ein medizinisches Gutachten eines Flugmediziners sei erforderlich, sagt die Leiterin der Personalabteilung, Dagmar Boos. Auch der Fragebogen spiele beim Auswahlverfahren eine große Rolle. Zudem gehöre zur Minimalkompetenz ein Masterabschluss in Naturwissenschaften, Medizin, Mathematik oder in Ingenieurwissenschaften. Drei Jahre Berufserfahrung sowie fließende Englischkenntnisse und eine weitere Sprache muss gut beherrscht werden. Nicht notwendig, aber von Vorteil sei ein weiterer Masterabschluss oder ein Doktortitel. Klingt soweit nicht nach unerreichbaren Sphären.

Viel wichtiger seien nämlich ganz andere Fähigkeiten, betont Rüdiger Seine. Er trainiert seit 15 Jahren angehende Astronauten bei der ESA. "Die akademische Ausbildung ist nicht so wichtig. Teamfähigkeit, Stressresistenz, Neugier, klare und präzise Kommunikationsfähigkeit, sich für andere Meinungen interessieren und schätzen, Interdisziplinarität, Multikulturalität - und dabei immer freundlich bleiben. Kurz: Wir suchen Allrounder", sagt Seine.

15 Prozent Frauenanteil

"Es kommt nicht darauf an, dass jemand in einem Bereich der Überflieger ist, sondern dass man mit Menschen zurechtkommt", bekräftigt Astronaut Gerst. Schließlich sei man ein halbes oder ein ganzes Jahr mit den Kollegen auf engstem Raum in mitunter stressigen Situationen zusammen. Auch Astronautin Samantha Cristoferetti betont die Social Skills: "Man muss Spaß am Lernen haben. Wir suchen nicht Spezialisten. Die braucht die Menschheit zwar auch - aber das sind nicht unbedingt gute Astronauten, die werden daran keinen Spaß haben", so die ausgebildete Kampfflugzeugpilotin.

Kaum ein anderer Job bietet wohl so ein breites Spektrum an Tätigkeitsbereichen: Körperliches Training, ein Raumschiff fliegen Lernen, Tauchen, Öffentlichkeitsarbeit, Wissenschaft und Technik. "Ein Mensch muss Spaß daran haben, diese Sachen alle meistern zu lernen", so Cristoferetti.

Die Italienerin ist die einzige Frau im aktuellen sechsköpfigen Astronautencorps der ESA. Das entspricht genau dem Anteil der Frauen, die sich auch zu Beginn beworben haben. Ein Sechstel der mehr als 8.000 Kandidaten 2008 war weiblich. 15 Prozent - das entspricht in etwa auch dem Anteil der MINT-Akademikerinnen.

Auf die Frage, ob die ESA eine Frauenquote einführen wolle, gibt es ein klares Nein. "Wir sind grundsätzlich nicht für Quoten. Es geht um Chancengleichheit. Wir wollen keine Vor- oder Nachteile einführen", sagt Programmkoordinatorin Chiara Manfletti.

Astronautenlehre mit 50

Diversität und Inklusivität werden auch in der Raumfahrt wichtiger. "Alle Menschen der Gesellschaft sollen repräsentiert sein", sagt Gerst. "Wir begrüßen Kandidatinnen und Kandidaten unabhängig von Geschlecht, Ethnie - und besonders Frauen wollen wir ermuntern, sich zu bewerben", sagt Manfletti. Zum ersten Mal in der Geschichte der ESA werden für das "Paraastronaut feasibility project"auch Kandidaten mit Behinderung gesucht. "Wir wollen sehen, was notwendig ist, um einen Menschen mit körperlicher Einschränkung auf eine Raumstation zu bringen", erklärt Trainingsleiter Seine. "Wir wollen herausfinden, wie weit wir die Grenzen verschieben können."

Hierfür sind vorläufig vier Kategorien von Beeinträchtigungen festgelegt. Teilnehmen können Menschen mit Beeinträchtigung der unteren Gliedmaßen, also unterhalb des Knies, extreme Längenunterschiede der Beine und mit einer Körpergröße unter 1,30 Meter sein. Das sei aber nur einmal der Startpunkt, gibt Seine zu bedenken. "Körperlichkeit steht nicht im Vordergrund."

Jung, alt, Mann, Frau, Kultur, Körperlichkeit - es sei gut, ein diverses Team in schwierigen Situationen zu haben, betont Gerst. In seiner Zeit beim Roten Kreuz habe er den großen Respekt vor Menschen mit Behinderung gelernt. "Sie haben es schwerer im Leben und lernen dadurch große Resilienz. Sie können mit schwierigen Situationen umgehen."

Auch bei der Altersbeschränkung wurde gelockert. Die Präferenz der ESA liegt zwar bei 27 bis 37 Jahren, die Obergrenze wurde heuer aber auf 50 Jahre angehoben. Bis zum offiziellen Pensionsalter gehen sich damit zwei Missionen aus.

Auf die Frage, wie man sich denn richtig bewerbe, sagen die Astronauten: "Authentisch sein, wenn man sich verstellt, bringt das nichts", sagt Gerst. Cristoferetti appeliert daran, seinen Träumen eine Chance zu geben. "Auch wenn man es am Ende nicht schafft, der Prozess an sich ist lehrreich. Man stellt sich auf die Probe und lernt seine Stärken und Schwächen erkennen - und Freundschaften fürs Leben werden geschlossen."