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"Eure Probleme möchten wir haben"

Von WZ-Korrespondent Manuel Meyer (Text und Fotos)

Wirtschaft

Der Weltmeistertitel ihrer Fußballer gab den Argentiniern die Freude zurück. Doch nur kurz, denn das südamerikanische Land ächzt unter einer Hyperinflation von mehr als 80 Prozent. Über Teuerungsraten wie in Österreich wäre man hier froh.


Immer mehr Argentinier suchen Suppenküchen auf.
© Manuel Meyer

Buenos Aires im Ausnahmezustand. Mehr als eine Million Menschen feierten am Sonntag nach dem dramatischen Elfmeterschießen gegen Frankreich den Fußball-Weltmeistertitel. Bei sommerlichen 30 Grad verwandelte sich die argentinische Hauptstadt in eine riesige Open-Air-Party: Freudenschreie, Gesänge und Hupkonzerte überall. "Es ist so schön, endlich einmal wieder etwas zu feiern zu haben", sagt Macarena Caldentey, die sich mit ihren Freunden im bekannten Ausgehviertel Palermo Soho unters Fußballvolk gemischt hat. Wie die meisten trägt auch sie ein Trikot von Superstar Lionel Messi.

Tatsächlich haben die Argentinier derzeit nicht viele Gründe zur Freude. Während die Österreicher über eine Inflation von 10 Prozent stöhnen, leben die Argentinier mit einer Hyperinflation, die derzeit bei 88 Prozent liegt. Und es soll noch schlimmer kommen. Jüngsten Schätzung des staatlichen Statistikamtes zufolge dürfte die Inflationsrate Anfang kommenden Jahres auf mehr als 100 Prozent klettern. Allein im heurigen Jahr lag die monatliche Teuerungsrate bei durchschnittlich 6 Prozent.

Mehr als 40 Prozent leben unter der Armutsgrenze

Die seit fast zwei Jahren andauernde Hyperinflation stürzt immer mehr Menschen in die Armut. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung leben bereits unter der Armutsgrenze. Zwar erhöht Argentinien regelmäßig die Löhne und Renten. Doch die Inflation frisst die Gehaltserhöhungen und mickrigen staatlichen Sozialhilfen direkt wieder auf. Kritiker bezeichnen die Sozialmaßnahmen abfällig als bloßes "Armutsmanagement".

Die schweren Folgen der Inflationskrise haben längst auch Argentiniens Mittelschicht erreicht. Macarena, Artdirektorin einer Werbeagentur, verdient im Monat 252.000 Pesos, umgerechnet rund 1.450 Euro. Damit verfügt die 41-Jährige aus Buenos Aires über ein gutes Gehalt. Doch wie viele Argentinier aus der Mittelschicht musste auch sie ihr Leben wegen der Hyperinflation umstellen.

Statt in Restaurants oder Bars zu gehen, trifft man sich lieber bei Freunden zu Hause. Im Kino war Macarena schon lange nicht mehr. Den Urlaub verbringt sie in Argentinien, statt ins Ausland zu fliegen. Auch Shopping-Touren hat sie aus ihrem Terminkalender so gut wie gestrichen. "Ich kaufe sogar deutlich weniger im Supermarkt ein. Vor allem Fleisch, Wein oder teure exotische Früchte." Macarena wohnt in einer netten Duplexwohnung in Palermo Soho. Die Miete für die knapp 60 Quadratmeter verschlingt mittlerweile fast 70 Prozent ihres Monatsgehalts. Wie es nächstes Jahr weitergehen soll, weiß sie noch nicht. Rein theoretisch wird ihre Miete gemäß der Inflationsrate wachsen, sprich über 80 Prozent.

Ihre Miete muss Macarena Caldentey bar bezahlen.
© Manuel Meyer

Argentinien hat eine der weltweit höchsten Inflationsraten. Doch in anderen Weltregionen ist es noch schlimmer. Die höchste Inflation verzeichnet Simbabwe mit fast 285 Prozent. Im Sudan kletterte die Teuerungsrate wegen langer Dürreperiode und ausbleibender Getreidelieferungen aus Russland und der Ukraine jüngst auf 192 Prozent. Im eigentlich rohstoffreichen Venezuela liegt die Teuerung vor allem aufgrund der internationalen Ölembargos gegen das Maduro-Regime bei 167 Prozent und damit so hoch wie sonst nirgendwo in Lateinamerika. In Syrien führt der Bürgerkrieg zu 139 Prozent Inflation, was auch Nachbarländer wie den Libanon oder die Türkei an Inflationsraten von 80 Prozent drängt.

Das Hauptproblem ist hausgemacht

Dagegen wirkt die durchschnittliche Inflationsrate von 10 Prozent in der EU nahezu harmlos, auch wenn die Europäer unter der stärksten Teuerung seit 70 Jahren stöhnen. Am höchsten ist sie in den baltischen Ländern mit mehr als 20 Prozent. Die niedrigste Inflation hat derzeit Spanien mit 6,6 Prozent. In Österreich lag sie im November bei 10,6 Prozent. In Argentinien würde eine solche Teuerungsrate nahezu als Preisstabilität gelten.

Die mit dem Krieg in der Ukraine steigenden Energiepreise, der Rohstoffmangel und die hohen Staatsausgaben zur Überwindung der Corona-Krise heizen wie im Rest der Welt auch in Argentinien die Inflation an. Das Hauptproblem ist allerdings hausgemacht: Der argentinische Staat gibt mehr Geld aus, als er einnimmt. Und das eigentlich schon seit Jahrzehnten. Der Staatsapparat ist zu kostenintensiv, die Produktivität der Industrie zu gering und die Schattenwirtschaft, die dem Staat wichtige Steuereinnahmen entzieht, zu groß.

Dabei ist Argentinien ein Land, das mit seinen Fleisch-, Soja- und Getreideexporten vor 100 Jahren noch zu den reichsten der Welt gehörte. Doch lebte man immer ein wenig über seinen Verhältnissen, nahm immer wieder hohe Schulden auf. Dazwischen gab es wirtschaftliche Boomzeiten. Unter Präsidenten Juan Domingo Perón wurde Argentinien in den 1950ern und 1960ern sogar zum Geldgeber. Aber dann kamen die langjährige Militärdiktatur und der Falkland-Krieg gegen die Briten.

Ratenzahlungen sogar im Supermarkt

Die demokratischen Regierungen danach bekamen die Schuldenauswüchse nie länger unter Kontrolle. In den vergangenen 50 Jahren waren die Preise im Land nur selten stabil. Ende der 1980er Jahre schnellte die Inflationsrate auf sagenhafte 3.000 Prozent hinauf, bis die Regierung 1992 den Peso an den US-Dollar knüpfte. 2001 war der Schuldenberg aber bereits wieder auf 150 Milliarden US-Dollar angewachsen, die Teuerungsrate schoss in die Höhe. Als die Bevölkerung begann, massenhaft ihre Konten zu leeren, verhängte die Regierung sogar eine Abhebesperre.

Der Rohstoffboom Mitte 2002 stabilisierte die Wirtschaft wieder. Leider butterte die linksperonistische Regierung das Geld zu großzügig in Sozialprogramme, Subventionen und Straßenbau. 2018 musste sich das Land erneut 56 Milliarden US-Dollar beim Internationalen Wirtschaftsfond (IWF) leihen. Trotz des ewigen Auf und Ab lag die Inflationsrate in der zweitgrößten Volkswirtschaft Südamerikas seither selten einmal unter 30 Prozent. Doch so schlimm wie heute war es schon lange nicht mehr. Um das aktuell hohe Budgetdefizit zu finanzieren, druckt die Zentralbank wie wild frisches Geld, was freilich den Wert des Peso stetig nach unten drückt. Fast alle sechs Monate werden Löhne und Gehälter um fast 25 Prozent erhöht, um die steigenden Preise auszugleichen. Die Lohnsteigerungen bleiben aber stets hinter der Inflation zurück und sichern damit die Kaufkraft der Bevölkerung nicht.

Geschäfte preisen ihre Produkte wie hier in Buenos Aires aufgrund der sich stetig verändernden Preise nur noch mit Kreide auf abwischbaren Tafeln an.
© Manuel Meyer

Mit den Jahren sind die Argentinier so wahre Inflationsexperten geworden. Während in vielen ärmeren Regionen wieder der Tauschhandel beginnt, versucht die Mittelschicht mit verschiedensten Strategien, die Folgen der Inflation abzufedern - vor allem mit Ratenzahlungen. In Österreich ist es normal, ein Auto oder eine Hypothek in Raten abzuzahlen. Doch in Argentinien bieten sogar Supermarktketten Käufe ab 60 Euro in Ratenzahlungen an. Das lohnt sich, erklärt Macarena: "Weil der Peso morgen weniger wert ist als heute, sparst du viel Geld." Das wichtigste Instrument der Argentinier im Kampf gegen die Inflation ist aber der US-Dollar, da die Inflation die Ersparnisse in Pesos innerhalb kürzester Zeit auffressen würden. Und das, obwohl die Zentralbank den Leitzins Mitte September auf satte 75 Prozent angehoben hat.

Auch Macarena geht regelmäßig in "Cuevas" (Höhlen) ihres Stadtviertels, um die wenigen überflüssigen Pesos gegen Dollar zu tauschen. Weil Argentinien kaum noch über Dollar-Reserven verfügt, da man diese für die Auslandsschulden braucht, dürfen die Argentinier mittlerweile nur noch 200 Dollar pro Monat zum offiziellen Wechselkurs kaufen. Devisen sind aktuell fast nur noch auf dem Schwarzmarkt zu haben. Den Dollar zum offiziellen Kurs bekommen bloß Import- und Exportunternehmen.

Neun verschiedene Dollar-Wechselkurse

Doch die enorme Anzahl von Dollars hält die Wirtschaft am Laufen. So gibt die Regierung punktuell immer wieder neue Wechselkursvarianten aus, die einmal mehr und einmal weniger mit Steuern und Abgaben versehen werden. Wichtigster Dollar-Lieferant der Zentralbank ist die heimische Agrarwirtschaft. Um deren Exporte zu verbessern, wurden spezielle Wechselkurse eingeführt, wodurch es heute den Soja-Dollar, den Mais-Dollar und den Weizen-Dollar gibt. Andererseits versucht die Zentralbank mit ungünstigeren Wechselkursen für Konsumenten, die Zahlungen in Devisen zu erschweren. So existieren mittlerweile neun verschiedene Dollar-Wechselkursvarianten. "Da verlieren selbst wir finanzgeschulten Argentinier allmählich den Überblick", meint Macarena lachend.

Neben dem offiziellen und den "heimlichen" Dollar gibt es unter anderem den Netflix-Dollar, den Coldplay-Dollar, den Blue-Dollar und sogar den Katar-Dollar, mit dem die Regierung verhindern wollte, dass viele Argentinier mit US-Dollar Reisen zur Fußball-WM finanzieren. Das hat nicht geklappt. Nicht nur die Bars im fußballverrückten Argentinien waren voll. Auch in den WM-Stadien in Katar waren tausende argentinische Fans zu sehen. Viele nahmen sogar Kredite auf, verkauften ihre Autos oder sprichwörtlich ihr letztes Hemd, um dabei zu sein. Bereits eine halbe Stunde nach dem Sieg gegen Kroatien im Halbfinale waren alle Sonderflüge von Buenos Aires nach Doha zum Finale ausgebucht. Viele lebten die Fußball-WM, als gäbe es kein Morgen. Sogar der Verkauf von Fernsehern zog zur WM enorm an.

Generell können sich aber immer mehr Argentinier immer weniger leisten. "Früher habe ich immer alles im selben Supermarkt gekauft. Jetzt klappere ich auf der Suche nach Angeboten das ganze Stadtviertel ab", erklärt auch Macarena. Dabei ist die Inflation derart rasant, dass viele Ladenbesitzer ihre Waren häufig gar nicht mehr mit Preisschildern versehen oder nur noch auf Kreidetafeln ausschreiben, auf denen sie die Preise vom Vortag einfach wieder wegwischen können.

Das Geld reicht kaum noch bis zum Monatsende

"Was sollen wir tun? Auf dem Großmarkt werden die Produkte immer teurer, auch unsere Ladenmiete, die Strom- und Wasserpreise steigen stetig", rechtfertigt sich Carmen Mamaní. Mit ihrem Sohn Daniel führt die 66-Jährige im Zentrum von Buenos Aires einen kleinen Gemüseladen. Vor einem Monate konnte sie Bananen noch für 200 Pesos das Kilo anbieten, heute sind es 500 Pesos. Auch die Preise für Kartoffeln und Zwiebeln haben sich verdoppelt. "Eine Kiste Avocados kostete im September auf dem Großmarkt 12.000 Pesos. Diese Woche mussten wir 20.000 Pesos bezahlen. Diese Mehrkosten müssen wir zumindest teilweise auf die Kunden umlegen", erklärt Carmen.

Das hat natürlich Folgen. "Die Kunden kaufen immer weniger ein, da die Supermärkte günstigere Preise haben", erzählt die Gemüsehändlerin verzweifelt. "Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, wenn nächstes Jahr die Miete der Inflationsrate angeglichen wird." Mit den Supermärkten kann sie preislich nicht mithalten. Der ständige Preisvergleich ist für die meisten aber eine wichtige Form, die Inflation abzufedern.

Angel Estrada war schon lange nicht mehr in einem richtigen Supermarkt. "Das kann ich mir einfach nicht leisten", erklärt der alleinstehende ehemalige Werftarbeiter. Geduldig steht der 72-jährige Pensionist in der Warteschlange vor der Suppenküche an. Vor dem alten Mercado Solidario Bonpland im Stadtviertel Palermo von Buenos Aires haben sich mittlerweile um die 50 Personen eingefunden. Wie die anderen hat auch Angel eine kleine Tupper-Box mitgebracht.

Angesichts der Hyperinflation sind auch immer mehr Rentner wie Angel Estrada von Suppenküchen für Bedürftige abhängig.
© Manuel Meyer

Angel hat schütteres, graues Haar. Er trägt dunkle Jeans, ein violettes T-Shirt und eine bläuliche Fleecejacke. "Ich hätte niemals gedacht, dass ich jemals für Essen anstehen müsste", sagt der Rentner betrübt. Sein ganzes Leben lang hat er hart gearbeitet. Mit seiner monatlichen Rente von 50.000 Pesos, umgerechnet 290 Euro, kam er nie so richtig gut über die Runden. "Aber in den vergangenen zwei Jahren ist die Inflation dermaßen gestiegen, dass ich mit meinem Geld kaum noch bis zum Monatsende auskomme." Heute lebt er in einer sozialen Wohngemeinschaft in der 15-Millionen-Einwohner-Metropole.

Die Pensionistin Carmen Mansilla Suárez betreibt eine Suppenküche in Buenos Aires.
© Manuel Meyer

Angel sei kein Einzelfall, erzählt Carmen Mansilla Suárez, während sie in zwei großen Töpfen das Essen für die Armenspeisung vorbereitet. "Früher waren es vor allem Obdach- und Arbeitslose, die zu uns kamen. Doch mittlerweile stehen vor allem viele Rentner und Mütter mit Kindern fürs Essen an", beklagt die 75-Jährige. Bereits im Jahr 2001, als Argentinien seine letzte große Finanzkrise durchstand, die Währung kollabierte und Hunderttausende ihre Jobs und Ersparnisse verloren, eröffnete sie ihre Suppenküche. "Doch heute, nach 20 Jahren, ist es fast wieder genauso schlimm wie damals." Mit ihrer Organisation "La Dignidad" ("Die Würde") versorgt Carmen bis zu 70 Hilfsbedürfte - täglich. Doch auch für sie wird es immer schwieriger, anderen zu helfen. Allein die Preise für die Gasflaschen zum Kochen haben sich seit vergangenem Sommer fast verdoppelt. Auch kann sie das Essen nicht mehr auf Plastiktellern servieren. "Das ist alles viel zu teuer geworden. Die Leute müssen seit ein paar Monaten ihre eigenen Behälter mitbringen."

Sozialer Sprengstoff, der auch Minister das Amt kostet

Immer häufiger wird lautstark gegen die hohe Inflation und die Wirtschaftskrise in Argentinien demonstriert.
© Manuel Meyer

Die Inflation wird in Argentinien zum sozialen Sprengstoff. Fast wöchentlich finden in der Landeshauptstadt Buenos Aires Massenproteste statt. Noch im März kündigte Argentiniens Präsident Alberto Fernández der Inflation den "Kampf" an. Der Erfolg blieb bisher aus. Anfang Juli trat deshalb bereits der Wirtschaftsminister zurück, seine Nachfolgerin war keine 24 Tage im Amt. Im August übernahm dann Sergio Massa als "Superminister" die wirtschaftlichen Geschicke Argentiniens. "Eines der zentralen Themen meiner Amtszeit wird der Kampf gegen die Inflation sein", kündigte Sergio Massa an. Er wolle auch kein weiteres Geld mehr "drucken" lassen, um den Staatshaushalt zu finanzieren. Gleichzeitig versprach er, den Schuldenstand zu verringern. Das war die Bedingungen des IWF für einen weiteren Kredit in Höhe von 44 Milliarden Dollar.

Angel bezweifelt, dass es Massa wirklich gelingen wird, die Inflation zu stoppen. Er ist mittlerweile ganz vorne in der Schlange angekommen. Eine Mitarbeiterin der Suppenküche löffelt dem verarmten Rentner Nudeln mit Tuco-Soße, einer Art Bolognese, in seine Tupper-Box. Dazu bekommt er eine Orange. Angel hat Hunger, er will nicht bis zu Hause mit dem Essen warten. "Ich habe auch eine Frage", meint er, während er mit dem Essen beginnt. Er möchte wissen, wie hoch denn in Österreich die Inflation sei? Bei der Antwort, dass wir mittlerweile eine historisch hohe Teuerungsrate von fast 10 Prozent haben, schaut der Rentner nur kurz über seine rot-bräunliche Brille hinweg und beginnt zu lachen: "Eure Probleme möchten wir haben. Von solchen Zahlen können wir hier nur träumen."

Kaum ein Tag vergeht, an dem die Preissteigerungen nicht die Schlagzeilen der Tageszeitungen füllen. Gerade deshalb sei es so schön, dass man sich über den WM-Sieg freuen könne, meint Macarena. Das Problem - dessen ist auch sie sich bewusst: Danach kehrt im Krisenland Argentinien wieder die Realität ein, und die sieht ziemlich düster aus.