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"In zwanzig Jahren sind wir alle Griechen"

Von Konstanze Walther

Wirtschaft
"Ökonomie ist vor allem eine Glaubensfrage", meint Sedlacek.
© Andreas Pessenlehner

Plädoyer für Abkehr vom wachstumsorientierten Wirtschaftsmodel, Lob für den Euro.


Wiener Zeitung: Sie sind einer der wenigen Ökonomen, die offen proklamieren, dass Ökonomie kein neutrales Zahlenspiel ist, sondern eine Glaubensfrage.Tomáš Sedlácek: Ja, das Vorspiegeln des Rationalen, Absoluten ist ein Trick der meisten Ökonomen. Schon Milton Friedman schreibt in einem Essay: "Ökonomie sollte eine deskriptive Wissenschaft sein".  Kein Physiker muss einen Aufsatz darüber schreiben, dass Physik frei von Werten oder Ideologie sein sollte.  Kein Naturwissenschaftler muss sich so etwas wünschen.  Im Standardlehrbuch von Paul Samuelson ("Economics: An Introductory Analysis")  heißt es im Vorwort: "Mit diesem Buch wird man lernen, wie ein Ökonom zu denken." Eine glatte Lüge: Mit diesem Buch lernt man, wie Samuelson zu denken.

In Wahrheit muss man zu Samuelson, Marx, Keynes, Hayek sagen: Ich respektiere deren Ökonomie und stimme vielleicht zu. Aber ich darf mich nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass  deren Ökonomie ein Glaube ist. Das ist okay, aber man sollte nicht so tun, als wäre es Physik. Das tut Samuelson aber. Er sagt einerseits: Rationalität ist so, wie ich sie definiere. Und andererseits versteckt er seine eigene Meinung,  indem er sie als absolute Wissenschaft präsentiert.

Diese Dämme brechen aber langsam auf, es wird viel darüber diskutiert, ob die Wirtschaft "funktioniert".<br style="font-style: italic;" /> Man sollte auch nicht die Frage stellen, ob die Wirtschaft funktioniert. Man sollte vielmehr fragen,  ob die Wirtschaft so funktioniert, wie es wir es wollen. Wirtschaft alleine errechnet keine Derivate und lässt auch keine Blumen wachsen. Doch "ob sie funktioniert" klingt, als ob es eine absolute Wirtschaft gäbe. Wenn man nachfragt, behelfen sich die meisten mit "Effizienz" als Maßstab  auf alles, unter anderem als Antwort auf die Frage, "ob die Wirtschaft funktioniert".  Als ob im normalen Leben, in Beziehungen, alles eine Frage der Effizienz wäre.

Man muss also die Frage stellen, wie soll die Wirtschaft funktionieren, wohin wollen wir? In welchem Modell wollen wir leben? Soll es zum Beispiel gerecht sein? Und dann muss man sich fragen, wie kommt man dahin. Wenn wir ein Ziel haben, können wir die Maschine bauen, die uns das notwendige Werkzeug dafür gibt. Wirtschaft hat begonnen mit der Frage "Was brauchen wir?" - und nicht mit der Frage, wie wir zu mehr Wachstum kommen.

"Die meisten glauben, dass Wirtschaft wie ein Fahrrad ist"Sie haben mit dem Buch "Die Ökonomie von Gut und Böse" eine Geschichte der Wirtschaft geschrieben, die mit dem Gilgamesch-Epos anfängt, der ältesten erhaltenen Geschichte, die 2000 vor Christus aufgeschrieben worden ist. Wann hat die Wachstums-Abhängigkeit angefangen?<br style="font-style: italic;" /> Die Idee des Fortschritts ist schon lange in der Menschheit verwurzelt und hat sich in letzter Zeit als Wirtschaftswachstum materialisiert. Früher hatten wir allerdings nicht das Bedürfnis, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu messen. Uns war es egal, ob wir 3,4 Prozent mehr wachsen, als unsere Nachbarn. Ich schätze, in Westeuropa hat diese Wachstumshörigkeit nach dem zweiten Weltkrieg angefangen, in Osteuropa wohl nach dem Fall der Mauer. Zuerst war die Menschheit vom Wirtschaftswachstum überrascht, dann haben wir uns daran gewöhnt, und jetzt sind wir danach süchtig.

Jetzt glauben wir sogar, dass die Wirtschaft kollabiert, wenn es nicht genug Wachstum gibt. Die meisten glauben inzwischen, dass die Wirtschaft wie ein Fahrrad ist, das am stabilsten ist, wenn es in einer schnellen Bewegung ist. Oder ist die Wirtschaft wie ein Mensch, der stehen kann, ohne Stabilität zu verlieren? Ich glaube letzteres. Das ist die Debatte, die wir führen sollten. Gegen Wachstum habe ich nichts, das System funktioniert besser, wenn Wachstum da ist. Aber man sollte nicht in Panik geraten, wenn gerade kein Wachstum da ist. Und man sollte nicht, wie es allerdings gerade in Europa passiert, andere Sachen opfern, um auf Teufel komm raus wieder zum Wachstum zurückzukommen.

Ich glaube nicht, dass Kapitalismus in der Krise ist, sondern der  Wachstums-Kapitalismus. Und wir verwechseln heute Kapitalismus mit Wachstum. Die jetzige Krise mag zwar eine Enttäuschung sein, aber ich glaube, unsere Reaktionen darauf sind überzogen. Jetzt wird verzweifelt nach möglichen Opfern gesucht, damit die Götter des Wachstums zurückkommen. Wir sollten stattdessen unsere Modelle ändern, dass wir auch ohne Wachstum leben können.

Was passiert in der Zeit nach dem Wachstum?
Wenn wir genug haben, sollten wir in einem stabilen Zustand in einer hoffentlich fairen Gesellschaft sein. Der Ökonom John Maynard Keynes hat darüber schon 1930 geschrieben, in seinem Essay "Economic Possibilites for our Grandchildren", dass es in – damals – 80 Jahren zu einem Punkt kommen wird, wo wir reich sein  und nicht länger wachsen werden. Und dann werde, laut Keynes, eine neue Art von Mensch geboren, ein "neuer Adam", der nicht mehr egoistisch ist und nicht mehr versucht, über Ellbogen weiter zu kommen. Ökonomen werden nicht mehr Priester sein, die den Weg in die Zukunft weisen, sondern bloße Instandhaltung betreiben. Bei meinen Vorträgen werde ich oft angefeindet, dass ich mit christlichen Theorien argumentiere. Aber das sind nicht meine Argumente,  ich gebe in dem Fall nur wieder, was Keynes gesagt hat.

"Es gab zu viel Wachstum"Ihre Meinung ist, dass Ökonomen die Wirtschaft in einen relativ ausbalancierten Zustand lavieren sollen, wo es keine Spitzen mehr gibt.<br style="font-style: italic;" /> Es gab nicht zu wenig Wachstum in den letzten Jahren, sondern es gab zu viel davon. Das hat die Schulden produziert. Die Wirtschaft hat sich mit Anabolika aufgepumpt. Das ist das, was in Griechenland passiert ist. Die wollten wachsen, und haben alles Geld genommen, was man ihnen angeboten hat. Genauso wie in den USA, oder in Japan. Die sind über Schulden zu mehr Wachstum gekommen, bis hin zum Rande des Bankrotts.

Wie stehen Sie zur sogenannten Griechenland-Rettung?
Griechenland ist 20 Jahre vor uns. Das heißt, wenn wir nichts ändern, sind wir in 20 Jahren alle an dem Punkt, an dem Griechenland jetzt ist. Das hat Tradition: Seit Aristoteles liegt Griechenland vor uns. Wir sollten dankbar sein für das Warnsignal, welches zwar schmerzhaft ist, aber nicht tödlich. Mit großen Volkswirtschaften wie Italien würde es schon anders aussehen. Griechenland, Irland, Ungarn sind recht kleine Volkswirtschaften. Mit der Rettung erkaufen wir uns Zeit – nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Europa, um uns langsam umzuschichten, und zu einem anderen Modell zu kommen.

Wie soll das aussehen?
Europa muss sich langsam von der Wachstumshörigkeit verabschieden und sich von den Schulden entgiften. Wir haben aber einen enormen Vorteil gegenüber den USA: Diese sind am Ende ihrer Entwicklung. Deswegen müssen die USA Spielräume über das Geld drucken (Quantitative Easing) finden. Das müssen wir in Europa nicht machen. Unser Kuchen ist noch nicht fertig gebacken: Wir können noch die Integration vorantreiben, finanziell, wirtschaftlich und sozial. Damit haben wir mehrere Wege offen.

Trotz allem: Wir müssen stolz sein auf diese EU. Seit zwei Jahren gibt es keinen Krieg mehr in Europa, nicht einmal in Nordirland. Wenn wir ehrlich sind: Das sind viel bessere Nachrichten, als ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt.

"Gottseidank haben wir den Euro"Manche wünschen sich die Zeit vor dem Euro zurück.
Gottseidank haben wir den Euro. Das mag zwar provokant klingen, aber ohne den Euro wäre die Krise viel schlimmer. Da würden wir die Währungen abwerten, wie wir das immer gemacht haben, wir würden Protektionismus hochfahren, wir würden Zölle einführen. Wir würden mit Handelskriegen beginnen und als Europäer würden wir diese Handelskriege bald in richtige Kriege umwandeln. Das passiert jetzt alles nicht. Wir versuchen uns gegenseitig zu helfen. Wir helfen Ungarn. Wir helfen Griechenland. Das haben wir in der Vergangenheit nie gemacht. Und jetzt hat noch niemand davon geredet, in Griechenland einzumarschieren.

Kurz  ist der Vorschlag kursiert, dass sie wenigstens  ihre Inseln verkaufen sollten.<br style="font-style: italic;" /> Ja aber im historischen Vergleich ist das noch immer sehr zahm und friedlich. Wir helfen jetzt Griechenland, um uns selber zu helfen. Was die Diskussion über Griechenland so schwierig macht, ist, dass wir uns noch nicht entschieden haben, ob wir Griechenland als Familienmitglied oder als Markt ansehen. Familienmitglieder straft man nicht so hart ab. Solidarität ist gewachsen, aber noch nicht gereift. In Österreich beschwert sich auch niemand darüber, dass Geld von einem Teil in Österreich zu einem anderen Teil geschickt wird, weil alle wissen, wenn es den Familienmitgliedern nebenan  gut geht, geht es im Endeffekt allen besser.

Zudem  kann man ökonomisch nie abschätzen, welches Land in Zukunft wachsen wird. Irland war vor 20 Jahren noch bettelarm. Dann wurde es, nach Luxemburg, zur reichsten Volkswirtschaft der EU. Mein Land, die Tschechische Republik, war vor 20 Jahren auch arm. Heute sind wir in der Position, ein bisschen von unserem Reichtum an Griechenland abzugeben. Früher war Finnland am Boden. Deswegen geht mir dieser Nationalrassismus à la: "Die Griechen sind ein faules Volk" so auf die Nerven. Es ist viel besser, eine Art Marshall-Plan zu haben. Oder denken Sie an Großbritannien. Bevor Margaret Thatcher an die Macht gekommen ist, nannte man  Großbritannien "den kranken Mann Europas".  Jetzt ist es Griechenland. Das ist das Schöne an Wirtschaft: Die Gezeiten ändern sich ständig.

Zur Person: Tomáš Sedlácek (34) ist mit 24 Jahren vom damaligen Präsidenten Vaclav Havel als Berater geholt worden. Die Zeitschrift "Yale Economic Review" ernannte ihn zu einem der intelligentesten Ökonomen seiner Generation. Heute ist er Chefökonom der tschechischen Großbank (CSOB), lehrt an der Prager Karlsuniversität und hat mit "Der Ökonomie von Gut und Böse" einen Bestseller über die Kulturgeschichte der Wirtschaft geschrieben. Das Buch ist im Februar im Carl-Hanser-Verlag auf Deutsch erschienen.