So könnte man es auch formulieren: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Doch der derzeit gefeierte Ökonom Thomas Piketty destilliert dieses Naturgesetz des Kapitalismus in eine ganz und gar nicht vulgäre, knappe und saubere Formel: r > g.
Was der französische Ökonomieprofessor uns mit r g sagen will? "Wenn die Kapitalrendite über der Wachstumsrate einer Volkswirtschaft liegt, dann folgt daraus logischerweise, dass ererbtes Vermögen schneller wächst als Produktion und Einkommen", schreibt er im Einleitungskapitel des derzeit heiß diskutierten Buches "Kapitalismus im 21. Jahrhundert". Das Werk wird von den wichtigsten Wirtschaftskommentatoren der Welt, etwa dem Ökonomen und Nobelpreisträger Paul Krugman ("New York Times") oder dem Wirtschafts-Doyen der "Financial Times", Martin Wolf, hymnisch gefeiert. Eine ganze Zunft ist hingerissen: Der Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic war früher bei der Weltbank und hat sich jahrelang mit dem Thema der sozialen Ungleichheit beschäftigt. Milanovic hält das Buch für eine "Wasserscheide des ökonomischen Denkens" und selbst der liberale "Economist" schreibt, dass "das Buch die Art, wie wir über die letzten beiden Jahrhunderte der Wirtschaftsgeschichte denken, verändern wird". US-Ökonom Tyler Cowen formuliert in seiner Rezension im Magazin für die Polit-Elite, "Foreign Affairs": "Pikettys Band rückt kapitalistisches Vermögen zurück ins Zentrum der Debatte und lässt das Interesse am Thema der Vermögensverteilung wiederauferstehen und revolutioniert das Denken über Einkommensungleichheit."

Einer der beiden Feuilleton-Chefs der "Süddeutschen Zeitung" kann die Aufregung über den Rockstar-Ökonomen Piketty und seinen 680-Seiten-Schinken nicht verstehen. Mit einem gigantischen akademischen Aufwand werde dem landläufigsten aller Vorurteile gegen den Kapitalismus recht gegeben, schreibt "SZ"- Feuilletonist Thomas Steinfeld: "Denn dass die Reichen immer reicher werden, während die Armen meistens arm bleiben, das weiß der resignierende Volksverstand, ohne deswegen Wirtschaftswissenschaften studiert oder Konjunktur-Institute befragt zu haben."
Doch soziale Ungleichheit ist gar nicht so ein landläufiges Thema, wie manche Feuilletonisten glauben möchten, sondern eine hochsensible Materie, über die man lange Jahre nicht gerne gesprochen hat. Das musste der eingangs zitierte, aus Ex-Jugoslawien stammende Ex-Weltbank-Ökonom Branko Milanovic bereits früh in seiner Karriere erfahren. Der gemütliche Mann mit Vollbart, Halbglatze und Teddybärenfigur sagt, dass das Tito-Regime überhaupt keine Auseinandersetzung mit dem Thema wünschte. "Das war keine wirkliche Überraschung - schließlich war die Zentralideologie des Sozialismus eine klassenlose Gesellschaft", zitiert Chrystia Freeland - ehemalige Reuters-Journalistin und heutige kanadische Abgeordnete der Liberalen - Milanovic in ihrem 2012 erschienenen Buch "Plutocrats - The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else" (Die Superreichen: Aufstieg und Herrschaft einer neuen globalen Geldelite). Aber als Milanovic danach nach Washington, D.C. übersiedelte, machte er die seltsame Entdeckung, dass auch im freien Amerika das Ungleichheits-Thema ziemlich tabu war. Ein Chef eines wichtigen Think-Tanks hatte ihm bedeutet, dass es schwierig werden würde, für Studien, die "Soziale Ungleichheit" im Titel führen, Fördergelder zu bekommen. Eine ähnliche Erfahrung musste der Ökonom in der volkswissenschaftlichen Abteilung der Nationalbank, Martin Schürz, machen. Als er Zahlen seiner Vermögensstudie veröffentlichte, wurde er von der Industriellenvereinigung und wirtschaftsliberalen Journalisten als Ideologe abgetan. Seine Erkenntnis, dass das reichste Zehntel der Österreicher mit 720 Milliarden Euro satte 60 Prozent der Immobilien- und Finanzvermögens besitzt, hat eben auch im ach-so-egalitären Sozialpartner-Paradies Österreich eine gewisse Sprengkraft.

Aber spätestens mit dem Sensationserfolg von Pikettys Buch hat es nun den Anschein, als sei die Zeit für Ökonomen wie Schürz oder seinen Kollegen von der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), Wilfried Altzinger, gekommen. "Soziale Ungleichheit" steht plötzlich auf der Agenda der Volkswirtschaft ganz oben. So findet am 30. und 31. Mai an der Wirtschaftsuni eine Tagung zum Thema "Soziale Ungleichheit" statt, bei der Pikettys Mitstreiter Tony Atkinson und Giacomo Corneo ihre Papiere vorstellen.
Den Kapitalismus vor sich selbst retten
Das World Economic Forum sieht die soziale Kluft heute als Gefahr für die Stabilität der Weltwirtschaft und selbst der Internationale Währungsfonds findet, dass der Washington Consensus, mit seinem Fokus auf offenen Märkten, Deregulierung, Liberalisierung und dem Zurückdrängen des Staates, vielleicht doch nicht der Weisheit letzter Schluss ist und die soziale Frage Teil des IWF-Mandats sein sollte, wie IWF-Chefin Christine Lagarde feststellte.