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"Der Homo oeconomicus ist ein Macho"

Von Anja Stegmaier

Wirtschaft

Es sind überwiegend Frauen, die weltweit unbezahlte Arbeit leisten, sagt die indische Ökonomin Jayati Ghosh.


Neueste Wirtschaftsdaten aus Indien irritieren: Trotz einer Wachstumsrate von mehr als sieben Prozent ist die Beschäftigungsrate indischer Frauen niedriger als die jeder vergleichbaren Volkswirtschaft - auch der Saudi-Arabiens. Und sie fällt weiter. Paradox ist: Je höher die Schulbildung der Frauen, desto weniger gehen sie arbeiten - Akademikerinnen ausgenommen.

Um diesen Umstand einordnen zu können, bedarf es der Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen. Wer das indische Wirtschaftswachstum verstehen möchte, müsse wissen, wie Geschlechterdifferenzen unsere Gesellschaft und damit auch unser Wirtschaftssystem formen, sagt die indische Ökonomin Jayati Ghosh im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

"Wiener Zeitung": Ist der Homo oeconomicus ein Mann?

Jayati Ghosh: Der Homo oeconomicus ist der größte Schwindel, den uns die Aufklärung eingebrockt hat.

Er ist aber immer noch präsent . . .

Das ist das Problem: Er ist immer noch in den Lehrbüchern und in der Politik. Aber er ist ein Mythos. Ein Mensch dieser Art existiert nicht. Zum einen, weil er immer als Mann dargestellt wird - es sei denn, es geht um Konsumenten, dann existieren Frauen manchmal. Die Rationalität des Homo oeconomicus ist außerdem total macho und individualistisch. Es dreht sich alles um ihn, er ist gierig und agiert nur aus Selbstinteresse. Aber das, aus was die Gesellschaft besteht, warum es sie überhaupt gibt, ist Solidarität, Fürsorge und Pflege. Keiner dieser Faktoren kommt im Kalkül des Homo oeconomicus vor. Auch die Wirtschaft würde ohne diese Faktoren nicht existieren. Das Handeln im Interesse anderer bestimmt überwiegend das menschliche Verhalten.

Fürsorge kommt im Bruttoinlandsprodukt nicht vor . . .

Das BIP ist das Sahnehäubchen, dass auf dem riesigen Kuchen unbezahlte Arbeit ruht. Eine unglaublich große unbezahlte Wirtschaft subventioniert die formale bezahlte Wirtschaft. Weltweit erledigen 70 Prozent dieser unbezahlten Arbeit Frauen. Die bezahlte Wirtschaft mit ihrem Kapital wird überwiegend von Männern kontrolliert, die sich ständig selbst einreden, dass das alles nur aufgrund der Maßstäbe, die der Homo oeconomicus setzt, möglich ist.

Was bedeutet das im Falle Indiens?

Die niedrige Beschäftigungsrate der Frauen in Indien ist ein Spiegelbild ihres allgemein niedrigen Stellenwertes in der Gesellschaft. Würde man die Arbeit in Haushalt und Familie berücksichtigen, läge die Rate bei 90 Prozent. Es sind eben nur 24 Prozent offiziell in der Erwerbsarbeit tätig. Die ebenfalls Haushalt, Garten, Tiere, Kinder, Alte und Kranke versorgen. Vor allem das Besorgen von Wasser und Brennholz nimmt in Stadt wie Land besonders viel Zeit in Anspruch. Viele Frauen, die gerne auswärts arbeiten würden, können dies schlicht nicht, weil unbezahlte Arbeit auf ihnen lastet. Die Politik ignoriert das und kümmert sich nicht um die Bereitstellung einer leistbaren Grundversorgung. Hinzu kommen mangelnde Mobilität, Angst um die körperliche Versehrtheit und generell patriarchale Normen, die verhindern, dass Frauen Arbeiten gehen.

Marilyn Waring hat in "If Women counted" 1988 geschrieben, dass das System, das BIP zu messen von Männern gemacht wurde, um Frauen in ihre Schranken zu weisen.

Ja, das BIP unterbewertet die Arbeit von Frauen extrem, sie ist nahezu unsichtbar. Denn nur was vermarktet wird, hat einen Wert. Und das suggeriert, was am Markt einen Wert hat, hat auch gesellschaftlichen Wert. Das BIP ist in vielerlei Hinsicht ein dummer Maßstab. Je mehr Menschen krank werden, desto besser die Wirtschaftsleistung. Denn wir geben mehr Geld für Ärzte und Medikamente aus. Auch eine Umweltverschmutzungskatastrophe würde sich rein von den Zahlen positiv auf das BIP auswirken. Stau und Verschmutzung eines privatisierten Stadtverkehrs ist für das BIP positiver als leistbarer, effizienter, öffentlicher Verkehr, der weniger kostet.

Sollte man also unbezahlte Arbeit in das BIP einfließen lassen?

Nein. Denn es würde dazu führen, zu sagen: Alles, was einen Wert hat, sollte in das BIP hineinfließen. Das ist aber eine Falle. Nur weil irgendein Idiot mit einem illegalen Finanzhandel Millionen gemacht hat, sollte das nicht ins BIP. Wir sollten vielmehr andere Indikatoren für Wohlstand entwickeln. Es gibt etwa den Quality of Life Index des Center for a New Economics, den Happiness Index, den Bhutan anwendet - aber alle kehren zum BIP zurück. Denn bei Wirtschaft geht es um Macht. Und die Mächtigen bewerben weiter das BIP.

Wirtschaft ist auch Wissenschaft. Zahlen und Fakten sollten Lösungen für Probleme bieten . . .

Wissenschaft muss falsifizierbar sein. Deswegen finden viele die Wirtschaftswissenschaften mehr als seltsam. Denn viele Theorien, die in der Vergangenheit galten, sind überholt. Und doch dominieren sie weiter Lehrpläne in den Universitäten und die großen Journals. Man sollte meinen, eine idiotische Theorie, die besagt, Finanzmärkte sind perfekt und korrigieren sich selbst, wäre zumindest seit der Finanzkrise 2008 erledigt. Aber im Gegenteil: Die Theorie existiert - und der Mann, der diese Hypothese perpetuierte, Eugene Fama, erhielt vor einigen Jahren noch den Nobelpreis dafür.

Mit welchen Mythen müssen wir noch aufräumen?

Zeit-Armut. Die Leute glauben, es sind die Top-Manager mit vielen Terminen und Präsentationen, die am wenigsten Zeit haben. Aber es sind die armen Leute, die tatsächlich an Zeit-Armut leiden, denn sie können es sich nicht leisten, Leute dafür zu bezahlen, die unbezahlte Arbeit zu erledigen. Kochen, Waschen, Putzen, Einkaufen, Termine organisieren, Kinderhüten. Das bedeutet nicht nur, dass die Zeit-Armut größer wird, sondern das, was in der wenigen Zeit produziert wird, von schlechterer Qualität ist. So gesehen ist Zeit-Armut eine doppelte Armut. Einkommensarmut führt zu Zeit-Armut und schließlich zu Konsumarmut.

In Österreich wurde der 12-Stunden-Tag beschlossen. Angesichts der Digitalisierung und Automatisierung meinen viele, die Arbeitszeit sollte eher verkürzt werden.

Die Panik, dass die Roboter kommen und wir alle unsere Jobs verlieren, ist der nächste große Schwindel. Bewusst eingesetzt und lanciert, um uns Angst einzujagen. Damit wir nicht beginnen, Forderungen zu stellen. Technologie hat unser Leben immer wieder transformiert. Die Elektrizität, das Telefon - das sind massive arbeitsverdrängende Transformationen gewesen. Allein die Dampfmaschine hat massiv Arbeit ersetzt - aber keiner hat gesagt, die Beschäftigungsrate sinkt wegen der Dampfmaschine.

Was bringt uns dazu, zu sagen, dass Jobs in Zukunft fehlen?

Weil wir annehmen, dass niemand nach Lehrern, Pflegern, Kreativen, Künstlern, Textern sucht. Denn diesen Jobs wird bislang nicht viel Wert beigemessen. Es ging immer nur darum, ein gutes Ding oder einen guten Service zu produzieren - und wenn eine Maschine das kann, warum sollten wir weiter etwas Langweiliges, Beschwerliches tun? In der Gesellschaft gibt es genügend andere wichtige Arbeit. Außerdem entscheidet nicht Technologie oder Handel über das Ausmaß der Beschäftigung, sondern über deren Verteilung. Es sind makroökonomische Maßnahmen der Politik, die verantworten, ob es genug Jobs gibt.

Ist die Automatisierung eine Chance für Frauen?

Das ist sicher eine Chance. Wenn mehr Maschinen die Arbeit machen, dann nimmt der Unterschied zwischen Männern und Frauen ab. Der Unterschied bleibt bei den häuslichen Pflichten. Interessant ist: Wann immer Arbeit weniger anstrengend, schwierig und mühsam wird, übernehmen Männer diese. Etwa in der Landwirtschaft und am Bau. In Indien jäten Frauen Unkraut und ernten die Felder. Am Bau bearbeiten sie Steine per Hand und transportieren sie, klettern auf gefährliche Gerüste. Wenn diese Prozesse mechanisiert und von Maschinen übernommen werden - und es nette Uniformen mit Schutzhelmen und dicken Handschuhen gibt -, dann machen es Männer. Die Vorstellung, Männer machen die harte Arbeit und Frauen die einfachen Jobs, ist also Unsinn. Das Problem ist, wir Frauen haben diese Vorstellungen auch internalisiert. Es gibt genug Frauen in der Arbeiterklasse, die sagen, Frauen nehmen meinem Mann den Job weg, die sollen zuhause bleiben. In ganz Osteuropa spielt sich das aktuell ab.

Stichwort Gender-Pay-Gap. Ist die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern ein zukunftsfähiger Maßstab für Gerechtigkeit?

Dort, wo die Lohnschere geschlossen wird, führt das dazu, dass Frauen gleichgestellter sind. Und weil Frauen gleichberechtigter sind, geht die Lohnschere zusammen. Das sieht man am Beispiel Skandinaviens. Dort etwa haben Frauen viele Freiheiten. Und es wird etwa für Pflege viel Geld ausgegeben. Schweden hat die höchste Rate, wenn man sich das Verhältnis von bezahltem Pflegepersonal und Bevölkerung anschaut. Wo Frauen bei der Arbeit gleichwertig geschätzt werden, wird alles andere, was sie tun, mehr geschätzt.

Jayati Ghosh (geboren 1955) ist Wirtschaftsprofessorin an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu Delhi, Indien. Sie forscht zu Globalisierung, Weltwirtschaft, Arbeitsmuster der Entwicklungsländer, Makroökonomie, Gender und Entwicklung.

Genderdynamiken sind auch ein Thema der Seminarwoche des diesjährigen Europäischen Forums Alpbach. "Genderdynamiken in sich wandelnden Gesellschaften" heißt das Seminar, das vom 16.-21. August 2018 in Alpbach stattfindet.