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Ein Vierteljahrtausend Kapitalismus

Von Michael Schmid

Wirtschaft
Das ehemalige Börsegebäude an der Ringstraße.
© Schmid

Von Maria Theresia bis Black Rock oder der lange Weg der Wiener Börse in die Zukunft - eine Bestandsaufnahme zum 250-jährigen Gründungsjubiläum.


So haben Wir in Betrachtung gezogen, daß es dem Platze Unserer Kaiserl. Königl. Residenz=Stadt Wien bisher an einer Börse gebreche, welche Einrichtung fast in allen übrigen einigermassen beträchtlichen Europäischen Handels=Plätzen anzutreffen ist." Also ließ "Maria Theresia von Gottes Gnaden Römische Kaiserin" und absolutistische Herrscherin über das habsburgische Vielvölkerkonglomerat am 1. August 1771 verkünden. Bereits im August 1761 hatte die Regentin vermittels kaiserlichen Patents die Gründung einer Börse verfügt.

Der Siebenjährige Krieg mit Preußen hatte die Staatskassen geleert. Es brauchte dringend Refinanzierung über Anleihen, deren Handel unter staatlicher Kontrolle erfolgen sollte. Trotzdem gingen noch zehn Jahre ins Land, bis die Wiener Börse am Kohlmarkt 12 im Haus "Zum Grünen Gatter" ihren Betrieb aufnahm. Das kaiserliche Gründungspatent von 1771 umfasste 21 Paragrafen, die unter anderem Börsezeiten, Verhalten an der Börse, Handelsabläufe sowie die Strafen bei Übertretungen regelten. Die Geschäfte wickelten angestellte Sensale ab, und Frauen mussten draußen bleiben.

Das Gründungspatent für die Wiener Börse.
© Staatsarchiv

Gehandelt wurden anfangs ausschließlich "Negotiationen von Credit- und Wechsel=Papieren", also Anleihen, Wechsel und Devisen. Neben der wichtigen Aufgabe, Staatsanleihen unters Volk zu bringen, sollte mit der Einrichtung der Börse vor allem auch der unkontrollierbare Handel im Kaffeehaus und an anderen Winkelbörsen unterbunden werden.

Die ersten an der Wiener Börse begebenen Aktien waren im Jahre 1818 diejenigen der "privilegirten oesterreichischen National-Bank". Zu den prominentesten Jungaktionären gehörte Ludwig van Beethoven, der gleich acht Namenspapiere sein Eigen nannte. Doch selbst Beethoven vermochte keinen Börsenboom auszulösen. Erst mit zunehmender Industrialisierung und dem enormen Kapitalbedarf der Vielzahl an neuen Unternehmen in der Gründerzeit der 1860er erlebte die Wiener Börse ihre erste Hausse.

Ludwig van Beethoven besaß gleich acht Namenspapiere.
© OeNB

Der Gründerzeit-Crash 1873 als schmerzhafte Erfahrung

1873 lernten die hoffnungsvollen Couponschneider allerdings abrupt, dass der Kapitalismus gewissen Gesetzmäßigkeiten folgt und Spekulationsblasen irgendwann platzen. Mitauslöser für den Crash von 1873 war neben der Fülle an zweifelhaften Papieren auf dem Markt auch der Flop der Weltausstellung, deren Eröffnung just mit dem letzten großen Cholera-Ausbruch in Wien zusammenfiel. Dank der robusten Wirtschaftsentwicklung erholte sich die Börse jedoch recht flott, und 1877 konnte das erste eigene, nach einem Entwurf Theophil Hansens errichtete Börsegebäude am Schottenring bezogen werden. Bis dahin war die Börse stets in anderen Gebäuden eingemietet, ab 1860 gemeinsam mit der Nationalbank in dem von Heinrich Ferstel entworfenen Gebäude in der Herrengasse (Palais Ferstel).

Von 1855 bis zu ihrer Auflösung 1997 wachte die Wiener Börsekammer über die Geschicke des Wertpapierhandels an der Ringstraße. Die massive Veränderung der Börsewesens seit den späten 1970ern, die wachsende Bedeutung der Derivatemärkte und die zunehmende Automatisierung des Handels hatten bei den politisch Verantwortlichen die Erkenntnis reifen lassen, dass eine staatliche Börsekammer ein historisches Relikt sei. Die Wiener Börse wurde mit der Österreichischen Termin- und Optionenbörse (ÖTOB) verschmolzen und in eine AG umgewandelt. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend wurde im Zuge dieser Privatisierung auch gleich das stolze Börsegebäude veräußert. So ist die Börse heute wieder Mieterin, nun im barocken Caprara-Geymüller-Palais in der Wallnerstraße.

Die Wiener Börse im globalen Aktienmarkt

Doch welche Bedeutung hat der Wiener Handelsplatz aktuell in einer Welt globalisierter Märkte, in der zu jeder Tages- und Nachtzeit rund um den Globus eine schier unübersehbare Menge unterschiedlichster Börseprodukte gehandelt wird? Wer in Aktien, Optionen, Derivate, Indizes investieren will, braucht die Wiener Börse nicht. Nicht für langfristige Anlagen und schon gar nicht fürs schnelle Spekulationsglück. Dennoch scheint die Wiener Börse unumstritten. Die "Wiener Zeitung" hat sich umgehört. Im breiten Spektrum der Befragten von Wirtschaftskammer und Finanzwelt bis hin zu Attac stellt niemand die Wiener Börse grundsätzlich in Frage.

Andrea Grisold, Makroökonomin und Vorständin des Instituts für heterodoxe Ökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien, erklärt das nüchtern akademisch: "Unternehmen brauchen Möglichkeiten zur Eigenkapitalbildung und dazu einen passenden Handelsplatz. Das ist die Börse." Kurzer Nachsatz: "Auch wenn sich Märkte nicht immer rational verhalten." Die Finanzkrise von 2008 ist noch in guter Erinnerung. Das Bild eines von wilden Spekulanten betriebenen, casinoartigen Geldkarussells prägt bis heute die breite Wahrnehmung der Finanzmärkte. Die Wiener Börse indes versteht sich als genauer Gegenentwurf zu diesem Modell. "Es sollten die Investments der ruhigen Hände, nicht die der zittrigen, gestärkt werden", erklärt Christoph Boschan, Vorstandsvorsitzender der Wiener Börse.

Zu langfristigen Anlagen ermuntern

Der umtriebige Boschan, 2016 von der Stuttgarter Börse nach Wien gewechselt, wünscht sich daher Steuerfreiheit für Börseninvestments, die länger als ein Jahr behalten werden. Das würde zu langfristigen Anlagen ermuntern. Boschan hat hier vor allem auch die mögliche Pensionsvorsorge über die Börse im Auge.

Ganz ähnlich sieht das die Bundessparte Bank und Versicherung der Wirtschaftskammer, die fordert, dass "die längerfristige Risikoübernahme am Kapitalmarkt durch Freistellung von der KESt in Abhängigkeit der Behaltedauer attraktiviert werden sollte". Das würde die Kapitalmarktentwicklung und die Weiterentwicklung des Wirtschaftsstandorts Österreich fördern. Zudem werde "damit dem (Alters-)Vorsorgeaspekt Rechnung getragen".

Kammermitglieder sind zu dieser Art der Pensionsvorsorge schon verpflichtet. Konkret: Von 100 Euro an Sozialversicherungsbeiträgen, die Selbständige zu berappen haben, wandern 5 Euro automatisch in private Pensionskassen, die dieses Geld wiederum am Markt anlegen. Ob das die Wiener Börse nachhaltig beflügelt, bleibt dahingestellt. Ein Blick auf den ATX Prime, den Index der 38 wichtigsten an der Wiener Börse gelisteten Werte, zeigt, warum: Der Löwenanteil dieses knapp 51 Milliarden Euro schweren Kuchens gehört mit 28,1 Milliarden Euro institutionellen Investoren aus dem Ausland. Das ist das Feld der Großen. Die Top-3-Player im Vorzeigesegment der Wiener Börse sind der norwegische staatliche Pensionsfonds Norges Bank Investment Management (NBIM) sowie die beiden US-Riesen Vanguard und Black Rock.

Nur 10 Prozent der heimischen Aktien in privaten Händen

Ganz allgemein spielen private Anleger auf dem Markt für österreichische Aktien eine untergeordnete Rolle. Bei einer Marktkapitalisierung von insgesamt 119,2 Milliarden Euro (unabhängig vom Handelsplatz) befinden sich nur 10 Prozent in privaten Händen. Boschan sieht dafür vor allem zwei Gründe: Zum einen sind österreichische Unternehmen traditionell stark über Fremdkapital finanziert. Aufgrund der aktuellen Politik der Zentralbanken wird zudem permanent frisches Geld in die Märkte gepumpt, das ermöglicht die Refinanzierung zu extrem günstigen Zinssätzen.

Zum anderen fehlt seiner Meinung nach in Österreich ein breites Verständnis für Kapitalmärkte und Börsewesen. "Für mich ist es unerklärlich, wie man als Gesellschaft in der Befähigung und Ermächtigung ihrer Bürger so große Fortschritte gemacht hat, jedoch weiterhin eine kleine, ausgebildete Finanzelite zulässt", konstatiert der Börsechef kritisch. Er wünscht sich, dass "Finanzbildung in die Bildungspläne integriert und gleiche Bildungschancen ermöglicht werden, und zwar rasch". Boschan verweist auf den ATX Total Return mit einer Durchschnittsrendite von 6,5 Prozent und meint, dass "die Leute dazu befähigt werden sollten, dieses Angebot auch zu nutzen".

In dieselbe Kerbe schlägt Stefan Dörfler, Finanzvorstand des Börseschwergewichts Erste Group und Aufsichtsratsmitglied der Börse. Die Aktien der Erste Group stellen mit 17,1 Prozent den größten Anteil am ATX Prime Index. Dörfler betont die Bedeutung der "Financial Literacy", des Finanzwissens in der breiten Bevölkerung: "Anleger sollten ein solides Finanzwissen, fundierte volkswirtschaftliche Kenntnisse und einen guten Überblick vom Marktgeschehen haben." Dazu bietet die Erste Group schon für Jugendliche ab 10 Jahren eigene Gratisseminare am Erste Campus an.

Die WU-Professorin Andrea Grisold freut sich zwar über steigende ökonomische Allgemeinbildung, hält aber das Idealmodell des "Homo oecomicus", des auf Basis vollständiger Informationen rein rational handelnden Individuums, für eine Illusion. Die Finanzmärkte und ihre Vielzahl an Produkten seien mittlerweile so komplex, dass selbst Fachleute den Überblick verlören. Manch kühne Konstruktion hätte sich letztlich als simples Pyramidenspiel entpuppt, und trotz aller Basel-Regelungen seien auch die "Shadow Markets" nicht völlig verschwunden. Selbst die weitgehende Automatisierung der Börsenabläufe helfe nicht weiter, weil diverse unternehmensspezifische und marktrelevante Charakteristika in diesen Prozessen nicht ausreichend abgebildet werden könnten, so Grisold.

Attac will 0,1 Prozent Steuer auf jede Finanztransaktion

Deutlich strenger urteilt die Finanzmarktgruppe der NGO Attac und fordert "die strikte Trennung von Investmentbanking und dem klassischen Bankengeschäft". Wie überhaupt das Bankensystem so ungestaltet werden müsse, "dass statt Profiten das Gemeinwohl im Vordergrund steht". Der erste Schritt dazu: eine Finanztransaktionssteuer von 0,1 Prozent auf jede Transaktion. Das würde spekulativen Handel unprofitabel machen.

Gar nichts abgewinnen kann dem Florian Beckermann, der geschäftsführende Vorstand des Interessenverbandes für Anleger (IVA), denn "der Anleger möchte den besten Preis für sein Investment bekommen, am Österreich-Abschlag hat er kein Interesse." Ganz allgemein ist für Beckermann "Regulierung durch den Gesetzgeber, meist die EU-Ebene, die Ultima-Ratio".

Große Einigkeit indes herrscht allenthalben bei der Einschätzung der Bedeutung ökologischer und nachhaltiger Investments in naher Zukunft. Da finden sogar Attac und der IVA zusammen. Dieter Hengl, Aufsichtsratsmitglied der Wiener Börse und Vorstandsvorsitzender der Schoellerbank, formuliert das so: "Institutionelle wie private Investoren wollen sichergehen, dass ihre Investments einem seriösen Nachhaltigkeitscheck standhalten." So meint die OMV, seit ihrer Teilprivatisierung 1987 einer der "Blue Chips" der Wiener Börse, dass ihr Finanzprodukte mit einem Fokus auf Umweltthemen sicher bei Ihrem Ziel helfen werden, bis 2050 Klimaneutralität in ihrer Geschäftstätigkeit zu erreichen.

So könnte die Wiener Börse bei der Kapitalbeschaffung für Forschung und Entwicklung vielversprechender Innovationen eine wichtige Rolle spielen. Und auch Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck erhofft sich von der Wiener Börse privates Risikokapital als Ergänzung zur staatlichen "Förderung strategisch wichtiger Wertschöpfungsketten im Bereich der Digitalisierung und Dekarbonisierung - insbesondere mit ‚Important Projects of Common European Interest‘ in den Bereichen Mikroelektronik und Wasserstoff."

Wer weiß, vielleicht kann mit diesem Ansatz auch der Marktkapitalisierungsanteil von derzeit rund 30 Prozent des BIP allmählich auf die vom Börsenchef gewünschten 60 Prozent wie in Deutschland oder Frankreich gesteigert werden. Denn nachhaltige Innovationen brauchen Eigenkapital.