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Von der "Rückkehr in den Absolutismus"

Von Andreas Unterberger

Wirtschaft

Einstiger Höchstrichter: Strafprozessreformen vermutlich verfassungswidrig. | Allmacht der Staatsanwälte als Rückkehr zum Inquisitionsprozess. | Hohe Kriminalität durch Ausschaltung der Richter? | Wien. Haben die Justizreformen der letzten Jahre die Verfassung und den Rechtsschutz der Bürger unterminiert sowie der Kriminalität Vorschub geleistet? Zu dieser besorgten Vermutung kommt Johann Rzeszut, der langjährige Präsident des Obersten Gerichtshofs (OGH) und Strafrechtsexperte, in einer ausführlichen Studie.


Rzeszut gründet sein Urteil vor allem auf die seit einigen Jahren eingeführte Diversion und auf die Abschaffung des Untersuchungsrichters durch die seit 1. Jänner gültige Strafprozessordnung (StPO).

Eingriffe in Grundrechte

Bei Rzeszuts Kritik an der StPO geht es um die Entscheidung über heikle Eingriffe in Grundrechte wie Untersuchungshaft, Haus- und Personendurchsuchung. Diese massiven Eingriffe lange vor Klärung des Verdachts durch ein Urteil können zwar weiterhin nur durch Richter angeordnet werden. Allerdings, so kritisiert Rzeszut, fehlen diesem Richter seit der Neugestaltung der StPO "unmittelbar vertraute, weil von ihm selbst erarbeitete Beurteilungsgrundlagen".

Während früher Untersuchungsrichter die Vernehmungen selbst durchgeführt haben, was ihnen eine große Vertrautheit mit allen Aspekten von Tat und Verdächtigen gegeben hat, müssen die Richter jetzt auf die Angaben der Staatsanwälte vertrauen, und das noch dazu meist unter Zeitdruck.

Noch viel ausführlicher wird der Rechtsexperte bei der Diversion zu Gericht - deren Wesen genau darin besteht, dass eine strafrechtlich relevante Tat nicht "zu Gericht" geht, sondern auf kurzem Weg vom Staatsanwalt selbst abgehandelt wird. So wie Rzeszut kritisieren im übrigen auch viele Strafverteidiger die Diversion.

Diese haben nämlich beobachtet, dass oft auch Unschuldige die Diversion akzeptieren; denn wenn sie die - annahmepflichtige - Diversion ablehnen, dann droht ein Strafprozess mit ungewissem Ausgang. Wird man in diesem verurteilt, ist man vorbestraft, was vielfach schlimme existenzielle Konsequenzen hat.

Im Zweifel Diversion

Daher akzeptieren Unschuldige gleichsam sicherheitshalber die Diversion, die - so die Kritik der Anwälte - von den Staatsanwälten aber oft nur deshalb vorgeschlagen wird, weil die Beweislage eine zweifelhafte ist, also für eine sichere Verurteilung eigentlich gar nicht ausreicht.

Rzeszuts Kritik geht in eine noch viel grundsätzlichere Richtung. Er sieht die Diversion und deren Praxis sogar als verfassungswidrig an: Sie sei "eine gravierende Überdehnung des grundlegenden verfassungsrechtlichen Rahmens".

Die Diversion sei eine systematische "Zurückdrängung des richterlichen Wirkungs- und Einflussbereiches in der Strafrechtspflege". Die Entscheidungen werden zunehmend "in außergerichtlich lenkbare und dementsprechend abhängige Organstrukturen" verlagert. Er leitet daraus sogar einen teilweisen Rückfall "in feudal-absolutistische Staatsstrukturen" und in den Inquisitionsprozess ab: Dessen wichtigstes Kennzeichen sei ja die Einheit von Ankläger und Richter.

Die Menschenrechtskonvention hingegen, die in Österreich Verfassungsrang hat, gibt jedermann das Recht, dass "seine Sache . . . von einem unabhängigen und unparteiischen, auf den Gesetz beruhenden Gericht" gehört wird. Dem widerspricht die "Finalisierung von Straffällen" durch abhängige Staatsanwälte, betont Rzeszut. Denn dabei gehe es ja um Taten, die der Gesetzgeber als bedeutungsschwer und strafrechtlich sanktionsbedürftig eingestuft habe. Werden solche Taten nun ohne unabhängige Richter durch weisungsunterworfene Entscheidungsträger (mit Bindungswirkung für alle Zukunft) enderledigt, dann leiden "Rechtsschutzqualität und Signalwirkung" einer Verurteilung.

Die Diversion sei nämlich nicht geeignet, den gesellschaftlichen Störwert einer Tat "mit der gebotenen Deutlichkeit zu signalisieren", argumentiert der frühere OGH-Chef und langjährige Strafrichter. Damit werde ein fundamentales Ziel der gesamten Strafrechtspflege verfehlt, nämlich die Erhaltung des gesellschaftlichen Rechtsbewusstseins und die Pflege individueller Hemmschwellen gegenüber gerichtlich strafbaren Delikten.

Kein Ausnahmefall

Rzeszut sieht in der Diversion neben der Verfassungswidrigkeit auch eine Ursache für die steil angestiegenen Kriminalitätszahlen. Die Diversion kommt nämlich nicht nur in ein paar Ausnahmefällen zum Zug: Vielmehr werden auf diese Weise schon sehr viele Fälle abgehandelt. In diesen Fällen sei, so Rzeszut, der Staatsanwalt in einer "Funktionsallmacht" berufen, "Beweismaterial zu produzieren", über Anklage oder Verfahrenseinstellung zu entscheiden und "mit urteilsgleicher Sperrwirkung" eine sanktionswertige Buße aufzuerlegen.

Der prominente Spitzenjurist - der derzeit auch der Evaluierungskommission im Innenministerium angehört - ist überzeugt, dass eine solche grundlegende Änderung des Strafrechtssystems einer Verfassungsänderung bedurft hätte.

Die ausführliche Analyse Johann Rzeszuts ist nachzulesen in "Rechtsschutz gestern - heute - morgen", erschienen im NWV, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien-Graz 2008 (Herausgeber Armin Bammer, Gerhart Holzinger, Mathias Vogl, Gregor Wenda).