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Selbständig, pleite, obdachlos

Von Marina Delcheva

Wirtschaft
Wenn Arbeit und Wohnung weg sind, ist die Parkbank oft die letzte Schlafmöglichkeit.
© badahos - stock.adobe.com

Nach der Wirtschaftskrise 2008 sind vermehrt ehemalige Selbständige auf der Straße gelandet.


Wien. An die erste Nacht auf der Straße erinnern sich alle. Das erste Mal, wenn man wirklich nirgendwo mehr hingehen kann, weil die eigene Wohnung schon weg ist, weil man keine Familie hat, die einen auffängt. Und weil man die Gastfreundschaft der Freunde schon zu lange strapaziert hat.

Daniels erste Nacht auf der Straße war warm. Er wollte eigentlich gar nicht im Wiener Esterhazy-Park schlafen. Er wollte einfach nur mit einem guten Freund ein Bier trinken, für das er kein Geld mehr hatte, und dann zu einer Notschlafstelle gehen. "Es ging so schnell, so wahnsinnig schnell", erzählt er. "Ich hätte nie gedacht, dass mir das jemals passiert. Aber wie heißt das so schön? Sag’ niemals nie."

Tiefer Fall

Daniel ist einer von rund 15.000 Menschen in Österreich, die laut Sozialministerium wohnungslos sind. Die Dunkelziffer ist höher. Sie haben also keinen festen Wohnsitz und leben auf der Straße oder müssen zeitweise bei Freunden oder in karitativen Einrichtungen unterkommen. Laut Caritas ist die Zahl der wohnungslosen Menschen von 2008 bis 2013 um 41 Prozent gestiegen - also in der Zeit nach der Wirtschaftskrise. In den letzten Jahren stagnieren die Zahlen allerdings. Die Caritas betreibt österreichweit 41 Wohnungsloseneinrichtungen mit 1793 Schlafplätzen, die im Winter voll sind.

Einige der Menschen, die zumindest vorübergehend auf der Straße landen, waren vorher selbständig. Wie viele es genau sind, ist nicht bekannt. "Es gibt viele auf der Straße, die selbständig waren und jetzt obdachlos sind", sagt Daniel. Er ist einer davon.

Der gebürtige Schweizer betrieb mit seiner damaligen Freundin ein Lokal in Wien. Und eigentlich liefen die Geschäfte ganz gut. 2012 hatte er dann einen schweren Unfall und war mehrere Monate lang nicht arbeitsfähig. "Kein Betrieb überlebt, wenn der Chef nicht da ist", sagt er. Daniel und seine Freundin trennten sich, er bekam Probleme mit seinem Geschäftspartner, der Berg an Rechnungen wurde immer größer. "Mir ist irgendwann die Energie ausgegangen." Er konnte weder seine Beiträge zur Sozialversicherung zahlen noch die Steuervorschreibungen. Der Exekutor kam, sein Lokal wurde zugesperrt, er konnte sich seine Wohnung nicht mehr leisten und landete 2013 das erste Mal auf der Straße.

Ähnlich Norbert: "Ich bin in ein tiefes Loch gefallen, aus dem man fast gar nicht herauskommt", erzählt er. Auch er führte einen Gastronomiebetrieb. Nach einem heftigen Streit mit seinem Geschäftspartner schied er aus dem Betrieb aus. Das Geld war irgendwann aus, seine Wohnung weg und er landete auf der Straße. Heute leben sowohl Daniel als auch Norbert in einer betreuten Wohneinrichtung.

Laut der Schuldnerberatung Wien gaben 17 Prozent der heuer 1458 betreuten Haushalte eine gescheiterte Selbständigkeit als Grund für ihre Zahlungsunfähigkeit an. Die Selbständigenquote ohne Landwirtschaft betrug im Vorjahr übrigens 9,3 Prozent. Zahlen der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA) zeigen, dass bei 3,4 Prozent der Vorschreibefälle, das sind 20.000 Fälle pro Quartal, ein gerichtliches Verfahren eingeleitet wird, weil die Vorschreibungen nicht bezahlt werden. In 0,2 Prozent der Fälle kommt es sogar zu einem Insolvenzverfahren.

Dass manche mit ihrer Selbständigkeit scheitern, hat unterschiedliche Gründe. Einige schätzen das unternehmerische Risiko, das ein eigener Betrieb mit sich bringt, falsch ein. Bald übersteigen die Forderungen die Einnahmen. In der Wirtschaftskrise nach 2008 sind viele kleine Unternehmer ins Wanken geraten, weil viele Großaufträge plötzlich weggebrochen sind. Manche konnten die Forderungen der SVA und des Finanzamts nicht tilgen. "Die gehen nicht zimperlich vor", erzählt Daniel. Für andere war die Selbständigkeit der letzte Ausweg aus der Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt, dass die meisten Selbständigen im Krankheitsfall oder gegen Arbeitslosigkeit kaum bis gar nicht abgesichert sind.

"Bei Selbständigen setzen die sozialen Schutzmechanismen früher aus als bei Unselbständigen", sagt Perrine Schober, Geschäftsführerin von "Shades Tours". Das Unternehmen bietet seit 2016 Touren durch Wien, die von Obdachlosen geleitet werden und sich mit Thema Armut befassen. Auch Daniel und Norbert sind Guides bei "Shades Tours". Auch unter den anderen Guides sind einige gescheiterte Unternehmer.

"Wenn du nur auf dich angewiesen bist, kannst du es dir gar nicht leisten, krank zu werden", meint Norbert. Grundsätzlich sind Unternehmer nicht arbeitslosenversichert, können also nach einer Firmenpleite oder starken Auftragseinbußen kein Geld vom AMS beziehen. Krankengeld gibt es in der Regel erst nach dem 43. Tag. Selbständige haben allerdings die Möglichkeit, bei der SVA eine zusätzliche Krankenversicherung und seit 2009 auch eine Arbeitslosenversicherung abzuschließen. "993 der über 400.000 aktiven Selbständigen haben freiwillig über die SVA in die Arbeitslosenversicherung optiert, viele haben jedoch noch einen Schutz aus dem Angestelltenverhältnis", sagt Karin Nakhai, Pressesprecherin der SVA.

Schwerer Ausstieg

Wer einmal ganz unten ist, kommt schwer wieder auf die Beine. "Hast du schon einmal in einer vollen Notschlafstelle geschlafen? Dort schläfst du nicht", erzählt Daniel. Man wird auch nicht zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, wenn auf dem Lebenslauf eine Caritas-Adresse steht. Ohne festen Wohnsitz gibt es keine Arbeit. Ohne Arbeit keinen festen Wohnsitz.

"Es ist ein Teufelskreis, aus dem die Menschen nur schwer herauskommen", sagt Schober. Zuerst verliert man seine Arbeit, dann hat man kein Geld für die Wohnung und landet auf der Straße. Hier beginnen Existenzängste, Depressionen, Lustlosigkeit. Und irgendwann ist man nicht mehr am Arbeitsmarkt vermittelbar.