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Der Aufstand des Mahdis

Von Gerald Wolf

Wissen
Die Mahdi-Revolte bedrohte die Interessen des Britischen Empire. Erst 1898 wurden die Mahdisten in der Schlacht von Omdurman (hier eine Visualisierung aus westlicher Sicht) endgültig besiegt.
© Internet Archive Book Images / No restrictions / via Wikimedia Commons

Wie Muhammad Ahmad im Sudan ab 1881 einen "Heiligen Krieg" gegen die Kolonialmächte entfesselte.


"Sein Äußeres hatte etwas Verführerisches. Er war ein Mann von kräftigem Knochenbau [und] schwarzer Farbe. Auf seinem Gesicht lag stets ein süßes Lächeln (...) Hiedurch war eine Reihe weißer Zähne sichtbar, von denen die beiden oberen Mittelzähne eine große Spalte bildeten: eine solche Zahnstellung gilt im Sudan als glückverheißend. Auch seine Art und Weise zu reden war erkünstelt süß. Als Gesandter Gottes (...) gab [er] seine Befehle (...) nach höheren Offenbarungen (...) Der Mahdi suchte in Allem genau den Propheten nachzuahmen."

Muhammad Ahmad (1844-1885), der selbsterklärte "Mahdi".
© Universal History Archive / Universal Images Group via Getty Images

So beschrieb der Südtiroler Missionar Josef Ohrwalder den Mann, dessen Gefangener er lange gewesen war. Im Sudan der 1880er Jahre wurde dieser Mann als der Mahdi, "der Rechtgeleitete", als der von Gott gesandte Erlöser verehrt, der am Ende der Zeit das Unrecht der Welt beseitigt.

Der wirkliche Name des 1844 auf einer Nilinsel bei Dongola im Nordsudan Geborenen lautete Muhammad Ahmad. Er war der Sohn eines Bootsbauers und entstammte einer Familie, die sich auf den Propheten zurückführte. In jungen Jahren begann er mit religiösen Studien und wandte sich dem Sufismus zu. Als tief religiöse Männerbünde waren die Sufi-Orden im Sudan seit jeher angesehene und überaus einflussreiche Institutionen. Der junge Muhammad Ahmad wurde 1861 in den Sammaniyya-Orden aufgenommen. Dessen Leiter, Scheich Muhammad al-Scharif, erlaubte seinem talentierten Schüler bald, selbst religiöse Lehren zu erteilen und eigene Anhänger um sich zu scharen.

Zum reinen Glauben

1871 ließ sich Muhammad Ahmad auf der Insel Aba im Weißen Nil nieder. Sein charismatisches Wesen, gepaart mit seiner Frömmigkeit, Sittenstrenge und asketischen Lebensweise ließen ihn rasch über Aba hinaus bekannt werden. In diesen Jahren reifte in ihm die Gewissheit, dass der Islam, wie er ihn vorfand, dabei war, in den Unglauben zurückzufallen. Muhammad Ahmad war zunehmend verärgert über religiöse Lehren und Gebräuche, die er als "Neuerungen" (Bid’a) ansah, die sich in die Religion eingeschlichen hatten.

Seiner Ansicht nach stellten Koran und Sunna die einzigen religiösen Quellen dar, an die sich Muslime halten sollten. Alles andere, wie der Besuch von Heiligengräbern oder übermäßiges Heulen bei Beerdigungen, galten ihm als unislamisch. Seine Kritik machte auch vor den Religionsgelehrten (Ulema) nicht Halt, die er für diese "Neuerungen" mitverantwortlich machte.

Die von Muhammad Ahmad geforderten Reformen ließen sich nur im Rahmen eines gesellschaftlichen Systems verwirklichen, wie es zur Zeit des Propheten bestanden hatte. Ein solcher Gesellschaftsentwurf stand zwangsläufig in diametralem Gegensatz zur seit 1820 bestehenden Herrschaft der Ägypter über den Sudan. Diese war lange vor allem durch Ausbeutung und ausufernde Korruption der Bürokratie gekennzeichnet. Für die ägyptischen Beamten diente der Aufenthalt im ungeliebten Sudan meist dazu, der sesshaften Bevölkerung ein Maximum an Steuern abzupressen. Dabei galt es, möglichst viel Profit für sich selbst herauszuschlagen und das Land dann schleunigst zu verlassen. Die nomadisch und halbnomadisch lebenden Stämme des Landes wiederum sahen sich durch das Verbot des Sklavenhandels um ihre wichtigste Einnahmequelle gebracht.

Rudolf Slatin (Slatin Pascha), Offizier der ägyptischen Armee und 12 Jahre lang Gefangener des Mahdi.
© Autor unbekannt / Public domain / via Wikimedia Commons

Dass der Khedive, der Herrscher Ägyptens, später vermehrt Europäer wie den Altösterreicher Rudolf Slatin mit hohen Verwaltungspositionen betraute, verbesserte diese Missstände etwas. Die Gemüter im Sudan beruhigte das aber nicht, da die Herrschaft von "Ungläubigen" über Muslime dort als Affront angesehen wurde.

So gärt es überall im Land, als in Muhammad Ahmad der Entschluss reift, selbst die Beseitigung der von ihm angeprangerten Missstände in Angriff zu nehmen. Aufgrund der hagiografischen Quellen ist nicht mehr genau zu klären, wann und wie es dazu gekommen ist. Der Überlieferung zufolge lässt Muhammad Ahmad nach einer Reihe von Visionen am 29. Juni 1881 verkünden, er sei der sehnsüchtig erwartete Mahdi.

Nicht zuletzt dieser Schritt bringt seinen ehemaligen Lehrer dazu, die Behörden in Khartum auf das Treiben Muhammad Ahmads aufmerksam zu machen. Der Grund ist wohl Neid darüber, dass der Ruhm des einstigen Schülers seinen eigenen bereits weit überstrahlt. Der Mahdi erhält eine Vorladung nach Khartum, um sich dort zu verantworten. Als er diese ignoriert, werden am 12. August 1881 rund 200 Soldaten nach Aba in Marsch gesetzt, um ihn zu verhaften. Dieses Vorhaben misslingt jedoch völlig. Die Soldaten werden in einen Hinterhalt gelockt und von den nur primitiv bewaffneten Anhängern des Mahdis vertrieben.

Militärische Erfolge

Noch während die Kunde von diesem Sieg die Runde macht, bereiten sich der Mahdi und seine Gefolgsleute auf den Abmarsch in die abgelegenen Nuba-Berge in der sudanesischen Provinz Kordofan vor. Seine Propagandisten verklären diese Absetzbewegung des Mahdis zur zweiten Hidschra, jener Flucht des Propheten von Mekka nach Medina im Jahr 622, mit der die islamische Zeitrechnung beginnt.

Ein Aufruf zum den Heiligen Krieg: aus dem zeitgenössischen Buch "The War in Egypt and the Soudan" (1886) von Thomas Archer.
© Public domain / via Wikimedia Commons

In der Abgeschiedenheit der Berge baut der Mahdi seine Machtbasis aus. Er und die Ansar, wie sich seine Gefolgsleute in Anlehnung an die Helfer des Propheten nennen, sind vorbereitet, als die Ägypter zu ihrem zweiten Schlag ausholen. Ihre rund 1.500 Mann starke Truppe gerät im Dezember 1881 in einen sorgfältig geplanten Hinterhalt und wird nahezu vollständig vernichtet. Der nächste Schock für die Ägypter folgt im Mai 1882, als über 3.000 Mann durch einen Überraschungsangriff besiegt werden.

Selbst für die Zweifler steht nach diesen "wunderbaren" Siegen fest, dass Muhammad Ahmad tatsächlich der "wahre Mahdi" sein muss. Ganze Stämme schließen sich ihm an und lassen ihn zum Anführer einer gewaltigen Revolte werden. Die Ägypter verlieren die Kontrolle über das offene Land und sehen sich schon bald in ihren verstreuten Garnisonen eingeschlossen. Im Jänner 1883 beherrschen die Mahdisten nach der Eroberung von El Obeid die gesamte Provinz Kordofan.

Begünstigt wird der Mahdi-Aufstand dadurch, dass in Ägypten selbst im Jahr 1882 eine Armeerevolte ausgebrochen ist. Sie richtet sich gegen den Khediven und den zunehmenden britischen Einfluss im Land. Die Briten schlagen diese Revolte nieder und zementieren damit ihre Machtposition in Ägypten ein.

Währenddessen "reformiert" der Mahdi im von ihm kontrollierten Gebiet den Islam und die Gesellschaft seinen politischen Zwecken entsprechend. Das Herrschaftssystem wird völlig auf seine Person zugeschnitten. Unterschiede zwischen Arm und Reich sollen nicht mehr sichtbar sein. Jeder Gläubige wird dazu verpflichtet, die Dschibba zu tragen, ein knielanges Baumwollhemd mit aufgenähten Flecken. Luxus und Schmuck sind verpönt, ebenso Musik und Tanz. Die Teilnahme am "Heiligen Krieg" gilt als religiöse Pflicht.

Dabei ist der Mahdi stets bestrebt, den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei diesen "Reformen" um eine Rückkehr zu den Wurzeln des Islam - eine Parallele seiner Bewegung zu modernen dschihadistischen Organisationen wie dem Islamischen Staat. Auch die Praxis, andere islamische Herrscher aufzufordern, sich ihm zu unterwerfen, um sie nach deren voraussehbarer Weigerung als Ungläubige zu brandmarken, findet sich bei den Dschihadisten unserer Zeit.

Vorläufiger Höhepunkt des Aufstands ist die fast vollständige Auslöschung einer ägyptischen Armee von 10.000 Mann im November 1883. Dass William Hicks, ihr Kommandant, ein britischer Offizier gewesen ist, alarmiert nun auch die britische Regierung unter Premierminister William Gladstone. Ägypten soll vor einer Invasion der Mahdisten geschützt, der Sudan aber aufgegeben und alle noch in Khartum sich aufhaltenden Europäer und Ägypter sollen evakuiert werden.

Charles George Gordon (Gordon Pascha).
© Public domain / via Wikimedia Commons / J.J. Cade (Ausschnitt)

Die Rolle des Troubleshooters fällt Charles George Gordon zu, der charakterlich als eigenwilliger und von einer tiefen, fast mystischen Religiosität beseelter Mensch gilt. Als ehemaliger Generalgouverneur des Sudan kennt er das Land bestens. Dass, in Khartum angekommen, ausgerechnet er sich als Problem erweisen wird, ahnt Gladstone nicht.

Gordon beginnt zwar mit der Evakuierung der ausländischen Staatsangehörigen, lässt aber auch zunehmende Entschlossenheit erkennen, Khartum nicht aufzugeben, sondern gegen die Mahdisten zu verteidigen. Während sich das Drama um die belagerte Stadt zuspitzt, stilisiert die britische Presse Gordon zum nationalen Helden und erzeugt so zunehmenden Druck auf die Regierung. Notgedrungen muss Gladstone der Aufstellung einer Gordon Relief Expedition zustimmen.

Ihre Vorausabteilung trifft aber erst am 28. Jänner 1885 in Khartum ein. Zwei Tage vorher haben die Mahdisten die Stadt erobert und Gordon getötet. Der britische Film "Khartoum" (1966) hat dem Kampf um die Stadt ein Denkmal gesetzt, die Ereignisse aber sehr einseitig und im Stil eines persönlichen Duells zwischen dem Helden Gordon und dem größenwahnsinnigen Mahdi dargestellt.

Schwächelndes Reich

Abdallahi ibn Muhammad, der Nachfolger des Mahdi.
© Siegfried Weiß / CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 / via Wikimedia Commons

Seinen größten Triumph überlebt der Mahdi nur kurz. Am 22. Juni 1885 stirbt er aus ungeklärter Ursache. Nach seinem Tod beginnt nun das, was nach Max Weber als Umformung einer charismatischen Herrschaft in eine traditionale bezeichnet werden kann. Zuwege bringt das Abdallahi ibn Muhammad, der Nachfolger des Mahdis. Als Kalif regiert er den Sudan despotisch und kann die Unabhängigkeit des Landes bis 1898 erhalten. Dann fällt auch sein zunehmend schwächelndes Reich den europäischen Kolonialmächten und ihrem "Wettlauf um Afrika" (Scramble for Africa) zum Opfer.

Ende der 1880er Jahre rückt der Sudan als eines der letzten freien Gebiete Afrikas zunehmend ins Blickfeld der Europäer. Das Vordringen der Franzosen zum Nil alarmiert die Briten, die ihren Plan, eine durchgehende Landverbindung vom Kap der Guten Hoffnung bis nach Kairo herzustellen, gefährdet sehen.

Schließlich entschließt sich die britische Regierung zur "Rückeroberung" des Sudan, um den Franzosen einen Riegel vorzuschieben. Der Feldzug, für den die Medien auch unter dem Motto "Rache für Gordon" Stimmung machen, wird von Herbert Kitchener als Oberbefehlshaber einer britisch-ägyptischen Armee mit brutaler Effizienz geleitet. Bei Omdurman stellt sich die Armee des Kalifen ihrem waffentechnisch gewaltig überlegenen Gegner zur Entscheidungsschlacht - und unterliegt nach einem wahren Massaker. Über 25.000 Mann an Verlusten der Mahdisten stehen nur knapp 500 Mann Verluste des Gegners gegenüber.

Das Mausoleum des Mahdis wird von den Siegern zerstört, seine sterblichen Überreste werden beseitigt. Seine Ideen aber leben weiter. Nach der Unabhängigkeit von den Briten besinnen sich die Sudanesen wieder auf den Mahdi. Er gilt vielen von ihnen bis heute als Einiger der Nation und Vater der Unabhängigkeit ihres Landes.

Gerald Wolf lebt und arbeitet als Historiker und Lehrer in Wien.