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Bruno Kreisky gab es nicht

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Burgen, Petersdom und Pyramiden, Ritter und Bruno Kreisky - alles Zeitgenossen? Oder waren da gar Geschichtsfälscher am Werk?
© WZ-Montage; Fotos: adobe stock / crazycolors; getty images / ullstein bild / Manuela Weschke / Neil Emmerson; Adam Bichler

Die Chronologiekritik will einzelne Epochen der Geschichte verkürzen - ein Gedankenspiel mit Folgen.


Wir schreiben das Jahr 3024. Am Dienstag, 29. Februar, erscheint Gunther Hieronymus Meyers Buch "Bruno Kreisky gab es nicht". Der studierte Welteinheitswährungsfachmann argumentiert darin, der österreichische Bundeskanzler und seine Epoche seien eine Erfindung der Sozialistischen Partei Österreichs gewesen. Man habe mit dieser Fälschung eine goldene Zeit erfunden, um künftigen Generationen die Überlegenheit der sozialistischen Politik glaubhaft zu machen.

Absurd? - Nur für uns Heutige.

Wie aber wäre dem Amaury, Domsteinmetz zu Köln, geboren am 7. März 799, zumute, erführe er, dass man in rund 1.200 Jahren seine Zeit zur Fälschung erklären würde, und das samt des Königs, den er als Kind noch mit eigenen Augen gesehen hat?

Destabilisierte Wissenschaft

Was freilich kein Argument für die Chronologiekritiker ist. Denn ihrer Überzeugung nach gab es weder Karl den Großen noch seine Zeit - und damit auch keinen Amaury. Geht es nach den Radikalsten unter ihnen, gab es keine Griechen, keine Römer, keine Kelten, kein Mittelalter. Das alles seien Erfindungen der Renaissance und folgender Zeiten. Stonehenge und Burg Lockenhaus sind Zeitgenossen.

Nur eine bizarre Verschwörungstheorie? - Gewiss. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn auch die Chronologiekritik ist letzten Endes unwissenschaftliche Wissenschaftskritik. Es besteht kein prinzipieller Unterschied darin, wissenschaftlich belegte Fakten über die Geschichte und wissenschaftlich belegte Fakten über das Coronavirus und die Impfung zu leugnen. Das Bizarre an der Methode ist in diesen wie in ähnlich gelagerten Fällen, dass eine Verschwörung, Verblendung und Faktenleugnung seitens der Wissenschaft angenommen und unwissenschaftliche Konstrukte zur Wahrheit erklärt werden.

Tatsächlich ist die frühe Geschichtsschreibung weniger faktengestützt als die heutige. Ob es wirklich so war, wie Caesar oder Augustus in ihren Tatenberichten behaupten, ob Thukydides, Livius, Tacitus und Sueton immer nur die historische Wahrheit berichten oder Geschichte mit Geschichten mischen, ist fraglich. Tatsache ist auch, dass die Scriptorien der mittelalterlichen Klöster Fälschungswerkstätten waren: Wer entsprechend spendete, bekam die Urkunde, die er brauchte, um Titel und Ansprüche nachzuweisen. Das Privilegium maius etwa, das die Sonderrechte der Habsburger legitimiert, führt gar von Julius Caesar und Nero ausgestellte Urkunden mit Vorrechten für die Region Noricum als Argument an. Man war fürwahr nicht zimperlich im Umgang mit Fakten. Das gibt Stoff genug für die heutige Quellenkritik.

Die Chronologiekritiker hängen ihre Thesen zumeist an einem Detail auf, das dann, ihrer Meinung nach, die gesamte herkömmliche Chronologie wie eine Reihe von Dominosteinen stürzen lässt. So wollte Nikolai Alexandrowitsch Morosow im Jahr 1907 auf der Basis von astronomischen Konstellationen in der Offenbarung des Johannes die Herrschaft des römischen Kaisers Domitian um rund 300 Jahre Richtung Neuzeit verschieben.

1935 veröffentlicht der Volksschullehrer Wilhelm Kammeier seine These vom Mittelalter, das zum Zweck der christlichen Verfälschung des Germanentums erfunden wurde.

Der Psychoanalytiker Immanuel Velikovski verkürzt die ägyptische Geschichte um rund 550 Jahre, indem er die dem biblischen Exodus vorausgehenden Katastrophen mit denen des Papyrus Leiden I 344 gleichsetzt.

1.000 Jahre hinzuerfunden

Der Mathematiker Anatoli Fomenko legt seit den 1990er Jahren Arbeiten vor, in denen er die Geschichte der letzten 2.000 Jahre auf 1.000 Jahre verkürzt: Den frühen christlichen Geschichtsschreibern wäre die ausgestalterische Methode ihrer griechischen und römischen Vorgänger nicht bewusst gewesen, sie hätten aufgrund der unterschiedlichen Schilderungen ein und dasselbe Ereignis für unterschiedliche Ereignisse gehalten und mehrfach verzeichnet. Das hätte zwangsläufig zu einer Verlängerung der Epochen geführt.

Der Publizist und Verleger Heribert Illig, der viel Kluges zu Egon Friedell publiziert hat, postulierte 1992 in "Karl der Große, genannt der Fiktive" die These, dass es den Karolinger-Herrscher niemals gegeben habe und die 297 Jahre von September 614 bis August 911 eine Fälschung ottonischer Geschichtsschreiber seien.

Der Wirtschaftswissenschafter Gunnar Heinsohn verkürzt die Geschichte um die Zeit der Sumerer, indem er deren Anteil daran anderen Völkern zuspricht.

Der Islamwissenschafter Uwe Topper ist überzeugt, dass die Entstehung des Islam eine Reaktion auf die Verurteilung der Arianer auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 sei. Damit müsse man Mohammed rund 300 Jahre früher ansetzen.

Hans-Joachim Zillmer, Bauingenieur und Gründer einer Firma für Bauträger, argumentiert, das Altertum habe erst vor etwa 1.000 Jahren begonnen. Die Geschichtsschreibung sei gefälscht, Ereignisse seien verdoppelt und in die Vergangenheit projiziert worden. Das vermeintliche Römische Reich sei zusammengesetzt aus einem etruskischen und einem griechischen Einflussgebiet. Das Pantheon in Rom sei ein Bauwerk des 16. Jahrhunderts, die hebräische Sprache ein Konstrukt aus der selben Zeit. Der Riss in der Geschichtsschreibung sei durch eine Katastrophe im 6. Jahrhundert entstanden, die alle Chronologien durcheinandergebracht habe.

Bizarre Gedankenspiele

Wer etwas übrig hat für bizarre Gedankenexperimente, ohne sie zu glauben, ist mit der Chronologiekritik gut bedient. Doch die Medaille hat eine Kehrseite, die nicht zuletzt durch Youtube und soziale Medien verstärkt wird: Es geht um die Destabilisierung der Wissenschaft im Bewusstsein der Allgemeinheit. Wenn ausgebildete moderne Historiker dermaßen irren können, dass sie immer noch mittelalterlichen Fälschungen auf den Leim gehen - könnten dann nicht auch Klimaforscher irren? Und Virologen? Epidemiologen? Die ganze Welt eine Pizzascheibe mit Lügen als Belag? Und die Wahrheit erkennt nur, wer nicht akademisch ge- oder vielmehr verbildet ist?

Wenn man aber heute mit den Methoden der akademischen Wissenschaft nicht nachvollziehen kann, was mehr als 1.000 Jahre zurückliegt, dann hat es aus der Sicht des Jahres 3024 nicht nur Bruno Kreisky nicht gegeben. Es hat niemanden gegeben, der heute lebt. Dann sind wir alle Erfindungen und Fälschungen. Wir sind nicht Teil der Geschichte, sondern Teil erfundener Geschichten. Immerhin: Auch das wäre was wert.